Scherbenmeer

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Federkiel

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Da saß sie jetzt. Allein, verletzt. So leer…
Was war passiert? Wie konnte es so schlimm werden?
Ihr Zimmer wirkte fremd. Alles war fremd und kalt. So kalt… Die Wanduhr tickte. Rund. Sie hatte sie, seit sie fünf war. Pferdchen im Hintergrund. Er hatte sie „niedlich“ genannt.
Tick. Tick. Tick.
Das Geräusch fraß sich in ihren Kopf hinein, machte sie verrückt.
Tick. Tick.
Sie sprang auf, riss sie von der Wand. Fummelte mit zitternden Fingern die Batterien heraus, warf sie auf den Boden. Stille. Doch die Wahrheit schien es ihr entgegen zu schreien:
Du bist es nicht! Er liebt dich nicht – hat es nie getan!!
Der Tag war in ihre Erinnerung gebrannt, wie ein Albtraum, den man nicht vergessen konnte. Genauso hatte sie es empfunden. Ein Traum, ein böser, böser Traum – doch Aufwachen war nicht möglich. Sie sah es wieder vor sich und weinte leise in sich hinein. Es war alles wieder da.

Jetzt.

Sie geht durch das Schulgebäude. Richtung Proberaum. Es regnet draußen und sie streicht immer wieder ihre Haare glatt. Rotblond. Sie hatte es noch nie gemocht – aber er… In dem Umkleideraum schaut sie in den Spiegel. Blass ist sie. Perlmutfarbene Haut, irgendwie… durchscheinend. Schnell prüft sie ihre Schminke, schlüpft in ihr Kostüm. Sie spielt die Julia und er ist ihr Romeo. Er sagt immer: „Für dich würde ich alles sein, meine holde Julia.“ Immer, wenn sie sich treffen. Geheim, keiner weiß, dass sie zusammen sind. "Nervenkitzel" nennt er das.
Sie beeilt sich, will zur Bühne. Man kann Stimmen hören. Da sieht sie ihn. Seinen Rücken. Seine blonden Haare sind trocken. Er war nicht im Regen gelaufen. Er steht hinter dem Vorhang am Rednerpult des Erzählers. Sie will ihn begrüßen. Ihn küssen, versteckt vor den Blicken der anderen. Ihr Herz klopft, als wäre sie den ganzen Weg gerannt.


Traurig schloss sie die Augen. Es tat weh, sich zu erinnern. So schrecklich weh. Vergessen konnte sie aber auch nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen. Manchmal hatte sie das Gefühl, nie wieder lachen zu können.

Das Strahlen kommt zurück, wie immer, wenn sie ihn sieht. Sie tritt näher und da merkt sie, dass er nicht alleine ist. Bernadett, ein weiteres Mädchen aus der Theatergruppe, steht vor ihm. Lächelt. Er beugt sich vor, nimmt ihr Gesicht zwischen die Hände und… küsst sie. Küsst sie wild. Sie schlingt die Arme um seinen Hals. Die Armbänder an ihrem Handgelenk klimpern.
Sie verliert den Boden unter den Füßen, fällt und fällt und fällt. Immer weiter. Ihre Brust tut weh. Ein Ziehen, so stark, dass es sie zu zerreißen droht. „Nein“, denkt sie, „Sie üben nur. Er will ihr etwas zeigen, für ihre Rolle. Er ist ein guter Lehrer!“ Doch das ist kein Üben. Nein. Ein wimmerndes Geräusch erfüllt den Raum. Bis ihr auffällt, dass es ihr eigenes Schluchzen ist. Da lässt er von Bernadett ab, sieht sie an. Seine Augen. So fremd… Sie würde ihn nie wieder so ansehen können, wie früher. Sie rennt. Rennt wie eine Gejagte. Es fühlt sich an, als würde sie durch Sand laufen. Versinkt, stolpert. Rennt. Immer weiter von diesem Fremden, der sie belogen hatte. Ob er sich auch mit Bernadett heimlich traf? War sie nur eine seiner Nebenfiguren gewesen?


Sie sank zusammen. Auf das Parkett. Kalt war es. Ihr Herz war gebrochen. Zersprungen, so fühlte es sich an. In ganz viele kleine Stücke und konnte nichts mehr spüren. Weinend saß sie in ihrem eigenen Scherbenmeer. Sie sah eine der Batterien der Wanduhr. Unters Bett war sie gerollt.
War ich wirklich so blind gewesen? Wie konnte es nur so schrecklich werden? Ich fühle mich so leer. Wenn man Schmerz herausweinen kann, dann habe ich es geschafft… Doch was nun? Da ist keine Freude mehr in mir. Wenn der Schmerz nun fort ist… Ist dann überhaupt noch etwas übrig von mir?
Sie horchte in sich hinein. Wollte wissen, ob da überhaupt noch etwas war. Irgendwas…
Bum. Bum.
Ihr Herz.
Bum. Bum...
Es ist also noch da. Warum konnte sie es dann nicht spüren?
Ich will doch nur, dass es aufhört. Diese ziehende, verzehrende Leere in mir. Da ist ein Loch, das ich nicht füllen kann. So atemlos. Als würde ich laufen und laufen, aber da ist kein Ort, wo ich hin kann – hin will…
Dieses Gefühl… Es war der Grund, warum sie immer wieder die Tränen zurückhalten musste. Sie durften alle nicht sehen, wie kaputt sie doch innerlich war. Vor allen Dingen nicht er… Für ihn war es ein Spiel gewesen. Ein Theaterstück mit ihm in der Hauptrolle. Sie war nie seine Julia gewesen.
Ich habe zu viel geliebt...
 
E

equinox

Gast
Hallo Federkiel,
erstmal herzlich Willkommen.

Dein Text geht mir sehr nahe. Man könnte fast denken, Deine Protagonistin bist Du selber.



Gern gelesen und liebe Grüße
equinox
 

HajoBe

Mitglied
Ein sehr ansprechender und eindringlicher Text, der Liebesschmerz wahrlich shakespeare-haft widerspiegelt.
Gefällt mir gut. Man könnte noch wenig daran feilen.
LG HajoBe
 



 
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