Schicksalhafte Begegnung

visco

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Schicksalhafte Begegnung

Das Haus war riesig. Sie stand inmitten der weitläufigen Eingangshalle mit dem schachbrettartigen Fußboden aus schwarzen und weißen Fliesen und sah den breiten Treppenaufgang hinauf, der ebenso bedrohlich wirkte wie der lange Flur, durch den sie gekommen sein mochte, und dessen Ende sich im Dunkel verlor. Gegenüber der mächtige Haupteingang, eingesäumt von zwei hohen Marmorsäulen und mit einem gläsernen Rundbogen als oberem Abschluß. Die Scheiben waren schwarz, als ob eine mondlose Nacht den Blick auf den Himmel verwehrte.

Um sie herum war es völlig still. Das Haus schlief. Sie wandte sich den gigantisch hohen Türen zu und öffnete eine von ihnen. Vorsichtig trat sie in die nur spärlich beleuchtete Umgebung hinaus und sah sich um. Die wenigen Fackeln an den Wänden tauchten das niedrige Gewölbe in ein geisterhaftes Zwielicht, dessen durch moosbewachsene Felsbrocken verengter Gang schon nach wenigen Metern steil hinab ins Höhleninnere führte.

Angestrengt lauschte sie in den Schlund hinein, und ihr war, als vernahm sie das mehrfach überlagerte Echo eines heimlichen Flüsterns, das sich von ihr entfernte, bis es plötzlich vollends verstummte.

Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die geringen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und sie mit geschärftem Blick nun selbstbewußter ihre Suche aufnehmen konnte. Entschlossen folgte sie dem Gang immer weiter abwärts und auf die Stimmen zu, die sie in letzter Zeit immer häufiger heimsuchten. Im Geiste ließ sie dabei ein hinter ihrem Rücken geführtes, imaginäres Gespräch zwischen Jason und Lydia Revue passieren, bei dem sich diese gegenseitig und äußerst indiskret von Geheimnissen berichteten, die sie jeweils dem anderen anvertraut hatte, um anschließend in schallendes Gelächter auszubrechen.

Ab einer gewissen Tiefe wirkte das bis dahin lehmfarbene Gestein massiver und kompakter. Am Ende des langen Abstiegs blickte sie in die eindrucksvoll große aber menschenleere Halle hinab, deren sandiger Boden gute dreißig Meter tiefer lag. Die Wände waren von Klüften und Spalten überzogen, und aus der Ferne kündigte bereits ein leises Plätschern eine weitere Entdeckung an.

Von oben hatte sie bereits mehrere horizontale Gänge ausmachen können, für die die Halle offenbar den Ausgangspunkt bildete. Unten angekommen stieß sie noch auf weitere, deren glatte Wände Spuren der mechanischen Schleifwirkung des Wassers zeigten. Im hinteren Teil der großen Halle fand sie schließlich den Verursacher des stetigen Plätscherns: einen mächtigen, freistehenden Steinbrunnen, der ein graues Marmorbecken trug. An der nahen Wand loderte eine Fackel gleich neben einer dort eingelassenen Bronzetafel. Neugierig ging sie um den Brunnen herum und las sich mit leiser Stimme deren Aufschrift vor:

Die Sterne stehen vollzählig hoch über dir im Firmament,
Der ans Becken tritt und daraus schöpft sie nur erkennt.
Das ewig wache Geplätscher verrät, daß du bist nicht einsam hier.
Fern im Sternenschimmer gehe ich und bin schon auf dem Weg zu dir.

Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und ein instinktives Unbehagen überkam sie, als ob ihr Innerstes sie warnen wollte.

Irritiert von der rätselhaften Aufschrift wandte sie sich um und blickte nach oben. Zwei in der Höhlenfirste erkennbare parallel verlaufende Klüfte wirkten wie eine Leitlinie für die räumliche Entwicklung der Halle. Teile des Höhlendaches, die zwischen diesen Klüften herabgefallen sein mochten, ließen die ebene Firste einen gleichsam künstlichen Eindruck vermitteln, und vom entfernten Ende schien ein bläulicher Schimmer des Tageslichts hereinzudringen. Sterne vermochte sie jedoch keine auszumachen, auch nichts, das man im übertragenen Sinne dafür hätte halten können.

Also tat sie wie in der Aufschrift geheißen und trat an das große Marmorbecken heran. Sie sah in das darin angesammelte klare Wasser, fuhr mit der flachen Hand hindurch und ließ das kalte Naß langsam aus der hohlen Hand zurück ins Becken fließen. Doch so aufmerksam sie die kleinen Wellen mit dem Blick auch verfolgte, so konnte sie einfach keine ungewöhnlichen Reflektionen darin erkennen. Als auch eine Wiederholung dieses Rituals erfolglos blieb, setzte sie ernüchtert aber auch ein wenig erleichtert ihre Suche nach den rätselhaften Stimmen fort.

Durch den nächstgelegenen Gang gelangte sie nach kurzem Fußmarsch in eine weitere, jedoch deutlich kleinere Halle, in der das Plätschern des entfernten Brunnens durch den vielfachen Wiederhall wie das Rauschen eines unterirdischen Baches klang. Hinter einem engen Spalt linker Hand führte ein weiterer Gang noch tiefer abwärts. Sie lugte vorsichtig hinein und überlegte einen Augenblick, doch dann entschied sie sich, dem eisernen Treppenaufgang zu folgen, der auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs durch eine schmale Kluft in der Hallendecke einen raschen Aufstieg ermöglichte.

Nach dem fünften Absatz hatte sie bereits neunzig Stufen gezählt, und ohne eine Verschnaufpause einzulegen bewältigte sie auch die restlichen steilen Treppen völlig mühelos. Die Wände hatten inzwischen einen sandsteinfarbenen Ton angenommen, und die niedrige Decke der Kammer, in der der Treppenaufgang endete, ließ sie unwillkürlich, wenn auch unnötigerweise den Kopf einziehen. Von draußen drang Tageslicht wie ein gleißend heller Strahl hinein und ließ den sandigen Boden vor dem Ausgang förmlich aufleuchten, so daß sie geblendet die Hand schützend vor die Augen halten mußte, während sie hinaus ins Freie trat.

Dort erwartete sie ein überwältigender Anblick. Blinzelnd sah sie vom Grunde eines schluchtartig tiefen Erdfalles an dessen efeubehängten Felswänden hoch, die sich bis zum Himmel zu erstrecken schienen. Die plötzliche Wärme rief bei ihr eine Gänsehaut hervor, und nach der Kühle im Inneren der Höhle genoß sie das angenehme Kribbeln, das die sommerlich warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut ausgelöst hatten.

Von außen war der etwas tiefer gelegene Zugang zur Kammer kaum zu erkennen. Der sichtbare Teil der halbrunden Öffnung konnte aus einiger Entfernung leicht für den Schatten des darüberliegenden und etwas vorstehenden Felsbrockens gehalten werden.

Angetrieben von einem unbändigen Verlangen setzte sie ihren Weg fort. Sie entschied sich für eine Richtung und folgte dem Verlauf der Schlucht. Dabei ließ sie ihren Blick entlang der malerisch bewachsenen Felsen schweifen, die trotz ihrer Unüberwindbarkeit nicht bedrohlich sondern eher romantisch wirkten.

An der zunehmenden Enge seit der letzten Biegung ließ sich das Ende der Schlucht erahnen. An der engsten Stelle der spitz zusammenlaufenden Felswände, als sie mit ausgestreckten Armen schon beide Wände hätte berühren können, vereinigten sich die massiv steinernen Barrieren in einer meterhohen Steinfalte. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte sie darin einen weiteren Eingang zur Höhle. Die Felsspalte war allerdings so schmal, daß sie sich regelrecht hindurchzwängen mußte.

Drinnen war es viel dunkler als sie erwartet hatte. Vorsichtig tastete sie sich an der kalten Felswand entlang, um auf dem abschüssigen Steinboden nicht sofort auszurutschen und schlidderte langsam den sich immer weiter verengenden Gang hinab, der schließlich in einen breiteren mündete, welcher quer zum Zugang verlief. Aus einer Bodenöffnung rechter Hand, die von einem Geländer umgeben war, drang Licht wie aus einem Scheinwerfer aus der Tiefe empor und warf einen fast runden, blassen Fleck an die niedrige Höhlendecke.

In der entgegengesetzten Richtung war erst in einiger Entfernung eine Fackel zu erkennen, die den weiteren Verlauf des Gangs nur erahnen ließ. Neugierig wandte sie sich der Öffnung zu, von der ein dumpfes Summen ausging, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Kurzentschlossen kletterte sie über das Geländer und stieg an der innenseitig befestigten Leiter hinab.

Der senkrechte Abstieg endete nach etwa zwanzig Metern in einem Raum, der hell erleuchtet und vollständig weiß gefliest war. Mit seinen Apparaturen und Bildschirmen, deren Summen durch den Schacht nach oben hallte, wirkte er wie eine Art Kontrollraum. Verdutzt war sie an der Leiter stehengeblieben, als sich auch schon eine der beiden blauen Türen öffnete und eine blonde Frau mit weißem Kittel hereinkam, die einen Kaffeebecher in der Hand und eine Mappe mit Unterlagen unter dem Arm geklemmt hielt.

Erschrocken fuhr die Frau zusammen, als sie den Eindringling erblickte, und einige Blätter, die sich aus der unachtsam gehaltenen Mappe gelöst hatten, segelten in verschiedene Richtungen zu Boden.

»Tut mir wirklich leid, ...ich wollte sie nicht erschrecken«, entschuldigte sich Vivian und begann sofort, einige der Blätter vom Boden aufzulesen.

»Zugang nur für Personal!« zitierte die Frau mit verärgerter Stimme, während sie sich hastig der Tasse und der Mappe unter ihrem Arm entledigte. »Haben Sie denn das Schild nicht gesehen?«

»Nein, ... um ehrlich zu sein, ... ich habe kein Schild gesehen«, gab sich Vivian unschuldig und hielt ihr die eingesammelten Blätter hin. »Was ist das hier?« fragte sie dann, während sie sich neugierig umblickte.

»Das ist die Leitstelle Vierzehn, Sektion Alpha, ... und sie sollten überhaupt nicht hier sein«, antwortete die Frau im weißen Kittel schulmeisterhaft und riß ihr die Unterlagen förmlich aus der Hand. »Wie sind Sie eigentlich hier ...?«

Sie beendete ihre Frage nicht, als Vivian wortlos auf die Leiter hinter sich zeigte. Der Gesichtsausdruck der Ärztin oder Wissenschaftlerin verriet, daß sie sich die Antwort auch selber hätte geben können.

»Vivian Bellings«, stellte sich die ungebetene Besucherin dann lächelnd und mit ausgestreckter Hand vor.

»Sehr interessant«, gab die Angesprochene nüchtern zurück und griff in die Außentasche ihres Kittels, um einen flachen, länglichen Gegenstand herauszuholen, der entfernt an eine Fernbedienung erinnerte. »Seien Sie ein artiges Mädchen und bleiben demnächst bitte auf den ausgewiesenen Wegen. In Ordnung?«

Noch ehe Vivian etwas erwidern konnte, um die misteriöse Frau von dem Gebrauch der Steuereinheit in ihrer Hand abzuhalten, hatte diese bereits auf eine der Tasten gedrückt, und im nächsten Moment durchzuckte ein gleißender Lichtblitz den Raum, daß Vivian sich schützend die Hände vor die instinktiv zugekniffenen Augen halten mußte. Bunte Lichtkegel formten sich aus der Helligkeit, tanzten und kreisten um sie herum, bis sie schließlich ihren Körper ergriffen und diesen mit sich rissen.

Sie lehnte sich nicht dagegen auf. Sie wußte aus Erfahrung, daß dieser Vorgang unumkehrbar war, und so unternahm sie erst gar keinen Versuch.

Als sie erwachte, trat die Realität mit bitterer Grausamkeit an die Stelle ihrer Wahrnehmung. Sie war wieder zurück, ganz alleine in ihrer etwa zwei an drei Meter großen Einzelzelle und isoliert von den anderen inhaftierten Frauen, da sie laut Erklärung einer der Sicherheitsbeamten unter Bundes- und nicht unter Bezirksrecht fiel. Sie mußte an Jason denken, dem es zur Zeit wohl ähnlich erging, seit man auch ihn verhaftet hatte, und unweigerlich brach sie in Tränen aus. Keiner von ihnen war in der Lage, dem anderen in dieser Situation beizustehen, obwohl er dessen Unterstützung gerade jetzt am dringendsten gebraucht hätte. Sie redete sich ein, daß sie nun Kraft haben müsse und lenkte sich ab, in dem sie zum x-ten Mal und am ganzen Leibe zitternd die Eisenstäbe und Querverstrebungen ihres Verlieses zählte.


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Über zwei Wochen dauerte der Albtraum nun schon an, und er schien kein Ende nehmen zu wollen. Nach der rüpelhaften Befragung durch das FBI hatte man sie in eine Zelle der Flughafenpolizei gesteckt, in der es dreckig war und unerträglich nach Fäkalien stank.

Einige Stunden hatte sie dort ausharren müssen, bevor sie von Beamten der örtlichen Polizei abgeholt wurde, die ohne große Umschweife zur Tat schritten. Während man ihr mit strengem Tonfall den offiziellen Wortlaut verkündete, daß sie sich ab sofort in polizeilichem Gewahrsam befände, bis ihre Schuld bewiesen oder die Anklage gegen sie fallengelassen worden sei, wurden ihr zur Überführung Handschellen und eine Fußkette angelegt. Niemals zuvor hatte sie sich fürchterlicher gefühlt als in diesem Moment. Man behandelte sie wie einen Schwerverbrecher, und der Schock über die menschenverachtende Beschneidung ihrer Bewegungsfreiheit ließ sie vor Angst kein einziges Wort mehr hervorbringen.

Wie ein kleines Kind hatte sie unkontrolliert zu weinen begonnen, während man sie durch das Gebäude bis zu einem Seitenausgang führte, vor dem ein Polizeiwagen bereits wartete, und sie hatte sich noch immer nicht beruhigt, als sie nach einer schier endlos scheinenden Fahrt endlich das Polizeirevier erreichten und sie wieder in einer Zelle gelandet war.

Ein U.S. Marshal hatte sie tags darauf übernommen und hierher nach Kalifornien gebracht, wo sie der örtlichen Polizei übergeben und erneut in eine Zelle gesteckt wurde. Der Deputy-Marshal war bis dahin als einziger ein wenig höflich gewesen. Er hatte sich sogar für die Notwendigkeit der Restriktionen entschuldigt und war ihr zu verschiedenen Gelegenheiten mit einer unterstützenden Hand behilflich, wannimmer die kurze Schrittweite ihrer Fußfesseln sie hätte stolpern lassen können. Während des Fluges hatte sie ihm in kurzen Worten umschrieben, was geschehen war und dabei mehrfach ihre Unschuld beteuert. Der blau uniformierte Marshal hatte ihr geduldig zugehört und sie dann mit angenehm tiefer Stimme beruhigt, daß sie nichts zu befürchten hätte, wenn sie die Wahrheit sagte und nur etwas Geduld aufbringen müsse, bis sich alles aufklärte.


Ab dem dreißigsten Tag in Untersuchungshaft schlug ihre Furcht in blanke Wut um. Mit haßerfülltem Blick und angespannten Muskeln kauerte sie in der hintersten Ecke auf ihrer Pritsche mit angewinkelten Beinen, die sie mit ihren Armen fest umschlungen hielt und starrte durch die Streben auf die unifarben getünchte Betonwand des Flurs. Das tägliche Procedere war eintönig und das Essen schlecht. Abwechslung gab es keine. Ihre persönliche Habe nebst Kleidung hatte sie abgeben müssen, und nach einem flüchtigen medizinischen Check war ihr nichts anderes übrig geblieben als diese gräßlich praktische Gefängniskleidung anzulegen.

Es war Duschtag und neben dem gemeinsamen Essen eine der wenigen Gelegenheiten, in denen sie Kontakt zu anderen bekam. Die unteren Ebenen waren vom Rest des Gebäudes hermetisch abgeriegelt. Daher wurden die Hände der zu eskortierenden Insassen vor dem Körper fixiert und nicht, wie bei ihrer Überstellung, seitlich an einer Kette um die Taille oder hinter dem Rücken. Auf die Fußkette wurde vollständig verzichtet.

Und dennoch. Kein Schritt außerhalb der Zelle ohne Begleitung. Keine Tür, die nicht gesichert war und erst elektronisch entriegelt werden mußte, dessen immer gleiches Geräusch des Summers sich in ihr Gehirn einbrannte wie ein Alarmsignal. Und keine Verjüngung oder Treppe, an der sie nicht irgend jemand am Oberarm faßte und führte, als ob sie nicht alleine zu gehen vermochte. Es war grauenvoll, erniedrigend und demütigend, und sie ertrug es wie alle anderen, wortlos und ohne Gegenwehr – aber hoffentlich mit etwas mehr Würde. Mit stolz aufrechtem Gang hatte sie sich sogar ein verhaltenes Lächeln abgewinnen können, mit dem sie den jeweils diensthabenden Beamten zu imponieren versuchte. Insgeheim stellte sie sich dabei vor, daß man voller Ehrfurcht von ihr sprach, der kühlen Engländerin, die sich nichts anmerken ließ und ihr Schicksal mit Fassung trug.

Die heiße Dusche empfand sie als wohltuend und erfrischend zugleich, allerdings erst, nachdem sie ihre Scham abgelegt hatte. In der Schule oder im Sportverein hatte sie sich vor anderen entblößt, aber das waren Kameradinnen gewesen. Diese Frauen hingegen waren ihr völlig fremd. Selbst die Hautfarbe der Weißen war gegenüber ihrem blassen Hautton deutlich dunkler, und auch deren Sprache – obschon ursprünglich englisch – schien nicht die gleiche zu sein. Manche Ausdrücke oder Umschreibungen hatte sie noch nie zuvor gehört, und deren Bedeutung konnte sie allenfalls erahnen. Ihr war, als machte man sich lustig über sie, und sie fühlte sich begafft wie ein absonderliches Wesen aus einer anderen Welt.


Dann kam der große Tag: der erste Verhandlungstag. Der rothaarige Duncan Ferguson empfing sie im seitlichen Treppenhaus des Gerichts und begleitete die kleine Gruppe auf ihrem Weg zum Gerichtssaal, während er unablässig auf sie einredete. Die eskortierenden Beamten und auch die angelegten Restriktionen, mit denen ihre Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt war, schien er nicht wahrzunehmen. Das erhebende Gefühl, endlich wieder normale Straßenkleidung zu tragen, wenn auch nur vorübergehend, hätte sie beinahe übersehen lassen, daß ihr Pflichtverteidiger an diesem Tag kein dunkelblaues Hemd trug wie sonst üblich sondern ein weißes.

Das unaufhörlich auf sie einprasselnde Gerede klang aufgeregt und war geprägt von der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit. Sie hörte ihn zwar reden, aber sie hörte nicht wirklich hin. Einzelne Begriffe wie „Gutachten“, „Aussage“ und „Bericht“ blieben noch hängen, aber erst als die Restriktionen entfernt worden waren und sie neben ihm auf der Anklagebank saß, nahm sie wieder ganze Sätze bewußt wahr.

»Sie dürfen nur nicht den Mut verlieren«, appellierte er mit einem wohltuenden Lächeln. »Es ist wichtig, daß Sie das auch nach außen zeigen. Verstehen Sie?«

»Zuversicht demonstrieren. Ja, ich verstehe, Mr. Ferguson«, antwortete sie mit einem unerklärlichen wie unbeschreiblichen Ausdruck an Gelassenheit. »Werde ich heute aussagen?«

»Nein, Mrs. Bellings, heute ist der Tag der Staatsanwältin. Sie wird mit den Zähnen fletschen, und wir werden das so unbeeindruckt wie möglich über uns ergehen lassen. In Ordnung?«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor sie zustimmend nickte.


Den Vorsitz führte Richter Benjamin T. Ushtley, ein korpulenter Mann in den Mittsechzigern, dessen verbliebene Haartracht fein säuberlich mit Pomade trappiert nur einen Teil des ansonsten blanken Kopfes bedeckte, und dessen Brille mit altmodischem Chromgestell ständig zwischen Hand und Nase hin und her wechselte.

Nach den üblichen Formalitäten im Rahmen der Begrüßung und der Klärung von Verfahrensfragen erfolgte zunächst das langatmige Procedere der Bestandsaufnahme. Vivian konnte den vielen juristischen Fachausdrücken nur schwerlich folgen und mußte sich auf Ihren Verteidiger verlassen, der dann und wann den vorgetragenen Anträgen der mondän und selbstbewußt auftretenden Staatsanwältin zustimmte.

Den vorläufigen Höhepunkt hatten sich die Paragraphenfechter vermutlich aus dramaturgischen Gründen für den Schluß aufgehoben, und ihr Verteidiger statuierte auf die Frage nach dem Bekenntnis der Angeklagten in ihrem Namen „Nicht schuldig, Euer Ehren“. Die Staatsanwältin nahm dies erwartungsgemäß ohne sichtliche Gefühlsregung zur Kenntnis.

Es folgte der erste Teil der Beweisaufnahme. Nach einer einführenden Ansprache der Staatsanwältin wurden Zeugen gehört, beginnend mit den Beamten verschiedener Ermittlungsbehörden bis hin zu renommierten Kräften angesehener Institute. Der Inhalt von Untersuchungs- und Prüfberichten, Protokollen und Gutachten wurde kurz umrissen wiedergegeben und gegebenenfalls von dem zuständigen Zeugen erläutert. Im Falle von Bildmaterial kam eine Art Overheadprojektor zum Einsatz, der ein gestochen scharfes Bild an die Leinwand schräg hinter dem Zeugenstand warf.

Die Staatsanwältin wurde ihrem Ruf mehr als gerecht. Ihr Vorgehen glich einem flächendeckenden Bombardement einer unbefestigten Stellung, welche dem übermächtigen Angreifer nichts entgegenzusetzen hatte. Keine der pausenlos einschlagenden und in der Reihenfolge ihrer Darlegung sorgfältig ausgewählten Indizien verfehlte ihr Ziel und beschädigten das ohnehin wackelige Gerüst der zwangsweise den ersten Ansturm abwartenden Verteidigung irreparabel, noch bevor es errichtet werden konnte.

Erst nach über sechs Stunden wurde die Sitzung vertagt.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, versprühte Ferguson bemüht unbeeindruckt seinen Optimismus und lächelte seine Mandantin dabei an. »Das ist nur das übliche Vorgeplänkel. Schon bald sind wir am Zug. Okay?« suchte er in ihren Augen nach einer Bestätigung, die nach dem unerwartet umfangreichen wie aussagekräftigen Material der Gegenseite aber nur zögerlich erfolgte.


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Die Wochen bis zur nächsten Verhandlung waren eine Qual, die unerbittlich an ihrer Widerstandskraft nagte wie ein hungriges Tier. Zum ersten Mal lernte sie den Wert der Dinge einzuschätzen, die sie bis dahin für selbstverständlich gehalten hatte. Ihre bisherigen Probleme, ob in finanzieller oder privater Hinsicht, verloren im Vergleich zu dem Verlust ihrer Freiheit an Substanz, die Konturen verwischten, und ihre Erinnerung daran verblasste, je länger sie darüber nachdachte.

Ihr Leben war schon einmal aus der Bahn geworfen worden. Damals war es der Tod gewesen, der sie so erschreckte. Vielleicht war es aber auch die Hilflosigkeit, mit der sie dem tragischen Verlust der Eltern gegenübergestanden hatte, den sie als ungerecht und wegen ihrer aufkommenden Schuldgefühle als eine Art Bestrafung empfand.

Jason hatte sie damals aufgefangen. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Ausgerechnet das aufgeblasene Großmaul. Aber er war da, und in seinen Armen, mit denen er sie vor allem Übel dieser Welt beschützen würde, fühlte sie sich sicher und geborgen. Er ertrug ihre Launen und beizeiten unkontrollierten Wutausbrüche, und er hörte auch dann zu, wenn sie schwieg.

Die vielen Besuche beim Psychiater hatten ihr geholfen, das Unfaßbare zu verarbeiten und den Schmerz zu überwinden. Es hatte sie viel Kraft gekostet, endlich loszulassen. Sie wußte, daß Akzeptanz ein mächtiges Instrument sein konnte, um den Kummer zu besiegen und sich neu zu orientieren. Aber erst mit Jasons Hilfe hatte sie sich ein neues Leben, eine neue Welt aufbauen können, die nicht nur einen Ausweg aus der Misere sondern auch eine Zukunft bot.

Die Erfahrung eines schmerzlichen Verlusts hatte die momentane Situation mit der damaligen gemein, aber sie war nicht länger hilflos. Jason war sicher in Gedanken bei ihr, so wie sie bei ihm, und mit ihrem Verteidiger stand jemand an ihrer Seite, jemand, der sich für sie einsetzte und ihr den Trost spendete, den sie gerade jetzt so dringend benötigte.

Dennoch war sie wütend. Die Machtlosigkeit, mit der sie den Torturen eines bürokratischen Rechtssystems ausgeliefert war, schien unerträglich. Mit angewinkelten Beinen auf ihrer Pritsche kauernd grollte sie leise vor sich hin und verbarg den Kopf in ihren Knien. Auch wenn die Intensität des Schmerzes damals ungleich größer gewesen war, so waren die Umstände, die dazu geführt hatten, zumindest begreifbar und für jeden nachvollziehbar. In diesem Falle jedoch schien alles noch komplizierter. Sie war gefangen in einem Labyrinth aus Indizien, deren Herkunft sie ebenso wenig verstand wie die Motivation, diese gegen sie zu verwenden.

So sehr sie sich auch bemühte, einen verborgenen Sinn oder auch nur den Ansatz einer Erklärung für das schier Unbegreifliche zu entdecken, der Strudel aus unlösbaren Rätseln war einfach stärker. Längst hatte der Sog sie erfaßt und drohte sie unbarmherzig in den gefräßigen Schlund eines dunklen Misteriums zu ziehen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.

Verängstigt sah sie nach oben. Tiefschwarze Gewitterwolken waren an der Zellendecke aufgezogen, aus denen es blitzte und donnerte. Schützend hielt sie sofort ihre Arme über den Kopf, als es auch schon in Strömen zu regnen begann, und dicke Tropfen auf sie herniederprasselten. Begleitet von ohrenbetäubenden Donnerschlägen rannte sie an den Vorgärten der Nachbarhäuser vorbei, in denen es bekanntlich keine Unterschlupfmöglichkeit gab, und lief so schnell es ging nach Hause. Endlich hatte sie das Ende der Straße erreicht, das durch eine hohe Mauer markiert wurde, und stürmte durch das niedrige Gartentörchen auf den rot gestrichenen Eingang zu.

Völlig durchnässt und außer Atem trommelte sie an die Tür, aber niemand öffnete. Verzweifelt rief sie nach ihrer Mutter, wieder und wieder und immer lauter, bis sie husten mußte und ihre Stimme versagte. Als die Tür verschlossen blieb, lief sie durch den schmalen Gang zwischen den Häusern, an den Mülltonnen vorbei, bis auf die Rückseite und blickte flüchtig durch das Küchenfenster, bevor sie die Terrassentüre unverschlossen vorfand und hastig ins Trockene flüchtete.

Wieder wollte sie nach ihrer Mutter rufen, als sie im gleichen Augenblick bemerkte, daß sie in einem völlig leeren Raum stand. Wie erstarrt blieb sie an Ort und Stelle stehen, während sich zu ihren Füßen bereits eine Pfütze zu bilden begann. Der Raum wirkte fremd ohne Möbel, eintönig und nackt. Nicht einmal die Tapete war noch an den Wänden.
Vivian verstand die Welt nicht mehr. Noch vor wenigen Stunden hatte sie hier gefrühstückt.

»Mom?« rief sie dann doch und wagte sich langsam ein paar Schritte vor. Niemand antwortete. »Mom?« rief sie nun verhaltener, während sie vorsichtig durch die Küchentür in den schmalen Flur lugte.

Auf leisen Sohlen schlich sie an dessen ebenso kahler Wand entlang auf die Haustür zu. Draußen tobte noch immer das Gewitter und ließ eine schauderhafte Geräuschkulisse entstehen. Mit angehaltenem Atem beugte sie sich über das untere Ende des Treppengeländers und blickte hinauf. Von oben roch es modrig und nach verfaultem Obst.

Der kurzzeitig helle Lichtschein einer Blitzentladung und das unmittelbar ertösende Krachen ließ sie erschrocken zusammenfahren. Sie holte einige Male tief Luft, und mit wachsam nach oben gerichtetem Blick setzte sie dann ihren Fuß auf die unterste Stufe. Magisch angezogen von den unerklärlichen Düften überwand sie ihre Angst und tastete sich mit zaghaften Schritten langsam aufwärts.

Der Regen klang noch bedrohlicher, je weiter sie sich dem schützenden Dach näherte, auf das Millionen unablässig aufschlagender Partikel einhämmerten. Ansonsten war es still.

Das obere Stockwerk wirkte ebenso kahl und verlassen wie das untere, als sei es nie bezogen gewesen. In den Türrahmen waren keine Türen, und die Zimmer, in die sie voll schrecklicher Vorahnung gespäht hatte, waren ausnahmslos leer.

Das einzige, das sie betrat, war ihr eigenes, und es hatte sie ihren ganzen Mut gekostet. Hier hatte sie ihre letzten Jahre in elterlicher Obhut verbracht, bevor sie und Jason nach Bury zogen.

Ihr stockte der Atem. Das war unmöglich. Sie war doch noch ein Kind. Irritiert wandte sie sich um. Dort an der Wand hatte ihr Bett gestanden und daneben der alte Kleiderschrank, dessen Türen erst knarrten, wenn man sie vollständig öffnete. Auf der anderen Seite ihr Schminktisch, den Mom zur Aussteuer bekommen hatte wie auch die Wäschekommode in der Ecke.

Wieder erzuckte ein Lichtblitz, und für kurze Zeit war der Raum zumindest teilweise hell erleuchtet, und bizarre Schatten zeichnten sich schemenhaft an den Wänden ab. Starr vor Entsetzen gefror ihr das Blut in den Adern. Nur einen Augenblick lang war das Grauen sichtbar geworden. Herausgerissene und achtlos entleerte Schubladen, durchwühlte Regale, Schränke und Kommoden, deren Inhalt größtenteils über den Boden verteilt ein chaotisches Durcheinander an Büchern und Zeitschriften, zerrissenen Kleidern, Wäsche und den verschiedensten Utensilien und Gegenständen bildeten, boten ein Bild der Verwüstung. Die Möbel waren demoliert, die Matraze und die Kopfkissen aufgeschlitzt.

Aber das war nicht alles. Kaum zwei Schritte von ihr entfernt hatten direkt unter dem Fenster zwei menschliche Körper auf dem Boden gesessen, nebeneinander gegen den Heizkörper gelehnt. Ihre Arme verliefen sich hinter dem Rücken, und über ihre Köpfe hatte man durchsichtige Plastiktüten gestülpt, die eng am Hals verknotet und nach verbrauchtem Sauerstoff und Ausstoß von Kohlenmonoxyd von Innen beschlagen waren. Ihre Gesichter waren grimassenhaft verzerrt. Sie waren qualvoll erstickt, und die letzten Sekunden ihres verzweifelten Todeskampfes schienen in erstarrten Gesichtszügen festgehalten. In den weit aufgerissen Mündern klebte das beim letzen Atmenszug angesogene Plastik, und die Augen quollen aus ihren Höhlen.

Von dem Schock wie gelähmt starrte sie auf die Stelle, an der sich das Grauen gezeigt hatte. Es war nur ein aufblitzendes Bildnis gewesen, das einen kurzen Moment lang an die Stelle des Wahrnehmbaren getreten war, als sei es die übrige Zeit von einer Illusion überlagert.

Panik ergriff sie, und mit mühsam erzwungenen Bewegungen stolperte sie langsam rückwärts, bevor sie mit vorgehaltener Hand Hals über Kopf die steile Treppe hinunterstürmte und durch die Haustür hinaus ins Freie flüchtete.

In Todesangst sprang sie von ihrer Pritsche und begann zu rennen. Übermannt von den intensiven Bildern aus den dunklen Tiefen ihres Bewußtseins und gelenkt von übermächtigem Entsetzen hatte sie jede Orientierung verloren. Die räumlichen Beschränkungen ihrer Zelle stellten unsichtbare Barrieren dar, die sie zwar spürte aber nicht zuordnen konnte. In ihrer Verzweiflung stieß sie immer wieder vor Wände, wandte sich um, prallte gegen die Gitterstäbe, gegen das Bett, hin und her, unermüdlich, bis sie von dem herbeigeeilten Wachpersonal schließich überwältigt werden konnte.

Erst der von geweckten Urtrieben ausgelöste Angstschrei holte sie in die Realität zurück. Drei Aufseher waren nötig gewesen, um sie am Boden zu halten. Gerade noch rechtzeitig hatten sie das Schlimmste verhindern können. Außser einigen Prellungen und verschiedenen Schürfwunden wies die völlig verstört wirkende Inhaftierte keine ernsthaften Verletzungen auf.


* * * * * * * * * *


Die Tage strichen dahin. Das Verfahren war ein Fiasko, und mit jedem weiteren Verhandlungstag, jeder Aussage und jedem Beweismittel, mit dem die Staatsanwaltschaft aufwartete, schwanden ihre Chancen zugunsten des attackierenden Greifvogels, dessen gewaltige dunkle Schatten sich an der Zellendecke abzeichneten und sie vollends zu verschlingen drohten.

Es war ein bösartiges, grausames Geschöpf, das sich lauernd hinter anderen Schatten verbarg, um dann aus dem Hinterhalt anzugreifen und seine wehrlose Beute zu reißen. Doch vor ihr konnte er sich nicht verstecken. Sie hatte den Hauch seines Flügelschlags gespürt, als er ihr eines Nachts ganz nahe gekommen war. Aber er hatte sie nicht richtig zu packen bekommen. Seine langen Krallen hatten sich in der Bettdecke verfangen und daran gerissen, und mit grellem Geschrei hatte er sein Opfer einzuschüchtern versucht. Doch es gelang ihr zu entkommen und so den ersten Angriff abzuwehren.

Sie wußte, er war da draußen, irgendwo zwischen den Schatten, die meist gleichgültig im eintönigen Grau einander überlagerten. Aber sie würde wachsam sein und jede seiner Bewegungen genau verfolgen. Solange sie im Licht saß, konnte ihr nichts passieren. Der Lichtschein würde sie beschützen. Im Licht war sie bestimmt vor ihm sicher.

Mit dem Rücken gegen die Stäbe gelehnt saß sie auf dem kalten Steinboden, stundenlang, bewegungslos, und wenn sie für einen Moment die Augen schloß, dann lauschte sie in die Dunkelheit.

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“, fielen ihr Lydias Worte wieder ein, mit denen sie Sartre zitiert hatte. Lydia teilte nach eigener Aussage dessen Überzeugung von der Freiheit und der Einsamkeit des Individuums.

Lydia war so anders als alle Frauen, die sie bis dahin kennengelernt hatte, und sie hätte lügen müssen, wollte sie nicht eingestehen, daß sie eine gewisse Faszination auf sie ausübte. Mit ihrem gewöhnlichem „Comprehensive School“-Abschluß konnte Vivian bei weitem nicht mit dem Wissen der gebildeten Amerikanerin mithalten, aber diese hatte ihre Überlegenheit nie zur Schau gestellt. Es war wohl Sympathie gewesen, die die beiden Frauen zusammenführte.

Vivian lehnte ihren Kopf nach hinten gegen die eisernen Stäbe und begann, in ihren Erinnerungen zu schwelgen. Ein Traum hatte sich erfüllt, als sie Jason bei einer seiner Dienstreisen begleiten durfte. Sie hatte sich schon oft nach einem Urlaub außerhalb Englands gesehnt, und nun sollte es für über drei Wochen in die Vereingten Staaten gehen. Vor Begeisterung war sie so aufgeregt gewesen, daß sie mehrere Tage benötigte, bis auch ihr Koffer endlich gepackt war.

Jener Tag, an dem sie Lydia zum ersten Mal traf, war etwas ganz Besonderes gewesen. Während Jason tagsüber in der Firma beschäftigt war, hatte sie, mit Mobiltelefon und ausreichend Bargeld ausgestattet, einige kleinere Ausflüge unternommen, außerhalb des Hotels und nicht immer mit seiner Zustimmung oder dessen Wissen.

Einer dieser Ausflüge, und sie war mit Mal zu Mal mutiger geworden, hatte sie ins „County Museum of Art“ geführt. Es war nicht weit vom Hotel entfernt, lediglich auf der anderen Seite des Hancock Parks, downtown Los Angeles. Es war ein tolles Gefühl, das sie in vollen Zügen genoß, während sie die barocken Gemälde italienischer Künstler auf sich wirken ließ oder die Meisterwerke Rembrandts, Gauguin oder Cézanne bestaunte. In der Ausstellung „American Art“ dominierten Ölbilder, Aquarelle und Skulpturen aus der Kolonialzeit bis zum zweiten Weltkrieg, die vornehmlich Portraitdarstellungen zeigten, und deren Erschaffer zu ihrer Genugtuung oftmals britischen Ursprungs waren.

Die Begegnung mit Lydia war keine im herkömmlichen Sinne; sie war aus äußeren Umständen einfach entstanden. Vor George Bellows´ „Cliff Dwellers“ (engl.: Höhlenbewohner) – der ältesten Errungenschaft des Museums – hatte sich eine Gruppe von Betrachtern eingefunden, die sich nach und nach auflöste, bis nur noch zwei Personen übrig blieben. In Bibliotheken und Museen wird aus Rücksichtnahme gegenüber anderen Besuchern nicht gesprochen. Aus diesem Grund hatte Vivian auf das sympathische und ausdrucksstarke Lächeln der etwa gleichaltrigen Frau neben ihr nur mit einem leisen Kichern reagiert. „Auch ohne Begleitung?“ hatte sie von ihren Augen abgelesen, und das erwiderte belustigte Kichern mußte sie für Außenstehende unweigerlich wie zwei Freundinnen erscheinen lassen.

Sie wollte nicht für aufdringlich gehalten werden, und so war sie der geheimnisvollen Verbündeten nicht gefolgt, als diese ihren Rundgang fortsetzte. Aber durch jeden Raum, den sie fortan betrat, ließ sie zunächst ihren Blick in der Hoffnung schweifen, daß auch sie dort sein würde, und sich vielleicht doch noch die Gelegenheit für ein Gespräch ergab.

An einer Vitrine mit ausgestelltem chinesischem Kunsthandwerk standen sie dann wie zufällig wieder beisammen. Ihre Blicke trafen sich in der Spiegelung des Glases, und sofort zeichnete sich in beiden Gesichtern ein kontaktfreudiges, beinahe inniges Lächeln ab.

»Du bist verheiratet?« fragte die Blonde ohne den Kopf zu wenden, und als ob sie ihre verblüffte Reaktion vorhergesehen hätte, hielt sie ihr aufklärend den linken Handrücken hin.

Die demonstrierte Beobachtungsgabe imponierte Vivian, und der fehlende Trauring an deren Ringfinger ließ demnach den Schluß zu, daß sie selber nicht verheiratet war.

»Ich bin Lydia«, stellte sich ihre neue Bekanntschaft dann selbstbewußt vor.

»Vivian Bellings«, tat sie es ihr nach.

»Wußten Sie eigentlich, Mrs. Bellings, daß dieser Teller fast siebenhundert Jahre alt ist?« immitierte Lydia eine Klassenleiterin, die die Aufmerksamkeit einer abgelenkten Schülerin wieder auf das zu betrachtende Objekte lenkte.

Vivian gluckste leise, bevor sie auf das Spiel einging und mit einem braven „Nein, Ma´m“ antwortete.

»Die Schönheit und Eleganz dieses handgefertigten Porzellantellers aus der Jiangxi Provinz, entstanden etwa 1340-68, späte Yuan-Dynastie ...«, gab Lydia mit gespielt schulmeisterhaftem Tonfall den Inhalt der ausliegenden Kurzbeschreibung leicht improvisiert wieder.

»... zeigt die acht buddhistischen Symbole, Blumen und Wellen«, vervollständigte die fügsame Schülerin, was Lydia ein kurzes aber herzhaftes Auflachen entlockte, in das Vivian um ein Haar mit eingestimmt wäre.

»Du bist Engländerin?« stellte Lydia überrascht und mit einem Schmunzeln fest. Die markant britische Aussprache schien sie zu amüsieren, während sie nun skeptisch Vivians Äußeres musterte. »Nein, ...« revidierte sie dann aber ihr Urteil, »... du siehst nicht aus wie eine Engländerin. Vielleicht ... Australierin?«

»Nein!« lachte Vivian.

»Warte, ... jetzt hab´ ich´s! ... Neuseeländerin?«

Vivian mußte sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszuprusten.

»Na gut«, akzeptierte Lydia ihre Fehleinschätzung, »gib´mir einen Hinweis, ... aber nur einen ganz kleinen«, bat sie belustigt, um das Ratespiel fortzusetzen.

»Stratford-upon-Avon«, nannte Vivian den Namen eines malerischen Ortes in Warwickshire, der als Geburtsstätte eines weltberühmten Schriftstellers jährlich tausende Touristen anlockte.

»Laß´ mich überlegen«, winkte Lydia in Gedanken vertieft ab, »... wie wär´s damit? ... „So wird der Wille einer lebenden Tochter durch den letzten Willen eines toten Vaters gefesselt. Ist es nicht hart, Nerissa, daß ich nicht einen wählen und auch keinen ausschlagen darf?“« demonstrierte sie mit einem Zitat eindrucksvoll, daß sie deutlich mehr von William Shakespeare kannte als nur seinen Geburtsort.

»Macbeth?« ließ Vivian durchblicken, daß sie nicht ganz so belesen war.

»Der Kaufmann von Venedig«, stellte Lydia leicht pikiert richtig, und auf Vivians Betteln umriß sie kurz den Inhalt. »Um seinem verschuldeten Freund die standesgemäße Werbung um die schöne Porzia zu ermöglichen, verpfändet ein venezianischer Kaufmann dem wohlhabenden Shylock ein Pfund Fleisch aus seinem eigenen Körper. Als der Kaufmann sein Vermögen verliert, besteht Shylock auf seiner mörderischen Forderung.«

Vivian hatte unwillkürlich eine Gänsehaut bekommen.

»Das klingt ja furchtbar! Und wie geht die Geschichte aus?«

»Hoffentlich habe ich nicht schon zuviel verraten«, wich Lydia schmunzelnd aus, »schließlich will ich dir nicht den Spaß am Lesen verderben«, erklärte sie mit versteckter Aufforderung.

Von nun an schlenderten sie gemeinsam durch die Ausstellung, und Vivian ließ nicht locker, bis Lydia ihr schließlich doch noch das Ende der berühmten Komödie erzählte.

Als ihre Begleiterin sich dann plötzlich von ihr verabschiedete, sah Vivian ihr wehmütig nach. Sie hätte gerne noch mehr Zeit mit der faszinierenden jungen Frau verbracht, von der sie kaum mehr wußte als ihren Vornamen: Lydia.

Doch sie kam noch einmal zurück und wurde dafür von ihr mit einem freudigen Strahlen empfangen. Sie erklärte, daß sie mit Freunden verabredet sei und lud Vivian ein, sie zu begleiten. Ohne zu zögern nahm sie die freundliche Einladung an, und nach einem kurzen Abstecher zu einem Buchladen trafen sie im „Caffee Latte“ ein, einem lichtdurchfluteten Café mit Terracottaboden. Schon am Eingang, an dem ein neonfarbenes Hinweisschild den hauseigenen Hühnchensalat mit Preiselbeeren anpries, drang ihnen der aromatische Duft gerösteter Kaffeebohnen in die Nase.

Durch freudiges Winken hatten sich Lydias Freunde von ihrem Tisch aus gleich bemerkbar gemacht.

»Darf ich vorstellen? Das sind Peter und Betsy, meine allerbeste Freundin Jill und ihre bessere Hälfte Frederic. Meine Damen und Herren, das ist Mrs. Bellings. Sie ist Engländerin!« betonte Lydia überschwenglich, als käme Vivian von einem anderen Stern.

»Als ich meinte, daß du dir beizeiten einen festen Partner suchen könntest, hätte ich wohl etwas präziser sein sollen«, scherzte Frederic sarkastisch, während Lydia und Jill sich herzlich umarmten, und die beiden anderen Vivian zur Begrüßung die Hand reichten.

»Weil ich Engländerin bin?« hakte Vivian zum Amüsement der anderen nach.

»Ou contraire, Madame! Weil Sie eine Frau sind, wie unschwer zu erkennen ist«, gab der Gefragte trocken zurück.

Mit einem machohaften Schmunzeln streifte er seine Sonnenbrille über die Stirn in die Haare, was ihm einen eifersüchtigen aber liebevollen Hieb in die Rippen seitens Jill einbrachte.

Vivian hatte sich auf Anhieb in die muntere Gesellschaft eingefügt. Bereitwillig hatte sie alle neugierigen Fragen über ihre Person und das Leben in Großbritannien beantwortet und sich dabei vehement gegen die geäußerten Vorurteile gewehrt, mit denen hintlerwäldlerische Ansichten als typisch englisch bezeichnet worden waren. Mit Stolz hatte sie auf die Errungenschaften des damaligen „British Empire“ verwiesen, welches nach ihrer Überzeugung das Gesicht der modernen Welt in Hinblick auf Kultur und Zivilisation entscheidend geprägt habe. Aber als Peter mit den Worten „God save the queen“ respektvoll einen Toast auf die zukünftig engeren amerikanisch-englischen Beziehungen aussprach – was er ohne Zweifel auf die beginnende Freundschaft der Anwesenden zu Vivian bezog – stimmte sie herzhaft in das Lachen der anderen mit ein.

Die zwei Wochen bis zu ihrem Rückflug gestalteten ihre neuen Freunde so interessant und abwechslungsreich, daß sie für sie zu einem unvergeßlichen Erlebnis wurden. An den Wochenenden begleitete Jason sogar die unternehmungslustige Truppe, deren Teilnehmer und Anzahl variierte, und an mehreren Abenden gingen sie gemeinsam aus.

Wenn die Frauen alleine loszogen, dann führten sie Vivian an Orte, die weniger erlebnisreich waren. In langen Gesprächen lernten sie sich näher kennen und genossen dabei ausgiebig das mediterrane Klima und die facettenreiche Landschaft entlang der Pazifikküste.

Vivian hatte den Strand von Palos Verdes, von dessen hohen Hügeln sie verträumt auf den tiefblauen Ozean hinausblickte, als ihren Lieblingsplatz auserkoren. Die Malvern Hills im Südwesten Englands waren damit endgültig vom Thron verdrängt.

An mehreren Tagen waren sie in die Santa Monica Berge gefahren, die sich westlich von Los Angeles erhoben und sich südlich bis in die Santa Monica Bucht erstreckten. Die reichhaltige Vegetation, die im Wettstreit mit den wüstenähnlichen Regionen um die Vorherrschaft rang, und das ungewöhnlich breite Spektrum der bestimmenden Farbtöne, war das Beeindruckenste, das Vivian je gesehen hatte.

Von dort aus ging es immer häufiger zur Brentwood Ranch, wo Lydia zu Hause war. Bei ihrem ersten Abstecher dorthin hatte es ihr glatt die Sprache verschlagen. Eingebettet in eine natürlich wirkende und doch liebevoll gepflegte Gartenanlage an den nördlichen Ausläufern der Berge erhob sich ein gewaltiges Landhaus von beeindruckender Schönheit und Eleganz. Die atemberaubende äußere Erscheinung wurde nur noch von dem weitläufigen und luxurios ausgestatteten Innern übertroffen, bei dessen Anblick sie vollends überwältigt war.

Ausgehend von der Eingangshalle, die wie das formell elegante Speisezimmer in hellen Pastelltönen gehalten war, hatte sie sich voller Ehrfurcht durch die mit viel Liebe zum Detail eingerichteten Räume führen lassen. Das dunkel getäfelte Wohnzimmer hatte die Ausmaße eines Tanzsaals und mündete zum Garten in einem gläsernen Vorbau mit Kuppeldach. In der Küche dominierte eine freistehende Theke, über der zahlreiche Gourmet-Utensilien und Dutzende kupferfarbene Töpfe in verschiedenen Größen herabhingen, während ein ausladender ovaler Tisch zu einem ausgedehnten Frühstück mit Blick in den Garten einlud. Für die körperliche Fitness standen neben einem Gymnastikraum mit verspiegelten Wänden ein eigener Tennisplatz und der obligatorische Pool zur Verfügung. Die Bibliothek, in die sich die Herren nach dem Dinner vermutlich zu einer guten Ziggarre und einem Glas Portwein zurückzogen, und die großzügigen Zimmer der oberen Etage rundeten den Eindruck einer herrschaftlichen Residenz ab.


»Bellings?« holte eine herbe Frauenstimme sie abrupt aus ihren Träumen zurück. »Besuch für Sie, Schätzchen. ... Nun machen Sie schon! Stehen Sie auf!«

Erschrocken war sie aufgefahren und hatte sich instinktiv von der Stimme weg in das Zelleninnere zurückgezogen. Erst nach einer Weile realisierte sie wieder, wo sie war.

Die farbige Aufseherin war kräftig gebaut und brachte gut und gerne ihre 180 Pfund auf die Waage. Mit festem Griff geleitete sie die verängstigte Gefangene trotz angelegter Handschellen aus dem Gefängnistrakt und über den Hof in das Nebengebäude, in dem der Besucherraum lag. Über ein Mikrophon an ihrer linken Schulter hatte sie ihr Eintreffen bereits angekündigt, aber erst nach einem kontrollierenden Sichtkontakt mit einem der innseitigen Wachbeamten betätigte dieser die von dem gewohnt durchdringenden Summen begleitete Entriegelung der Sicherheitstüre.

Ein beißender Geruch nach Putzmitteln und frischem Bohnerwachs lag in der Luft, und außer dem lauten Quietschten, das jeder ihrer Schritte auf dem blank polierten Boden hervorbrachte, herrschte eine bedrückende Stille. Die Kälte der unwirklichen Umgebung strenger behördlicher Disziplinargewalt setzte sich in der Monotonie trister Farben und den kahlen Wänden des Besucherraums fort. Gesenkten Hauptes ließ sie sich an den wenigen, vergitterten Fenstern entlang bis zu ihrem Platz führen und sah erst dann durch die leicht spiegelnde Trennscheibe in das Gesicht der Person, die sie am allerwenigsten erwartet hätte.

Ihre blonden Haare wurden mit Ausnahme einzelner Strähnen über eine große Haarklammer aus matt silbernem Metall in Nackenhöhe auf dem Rücken gehalten und reichten bis kurz über die Taille herab. Die schlanken Füße, die unter den Hosenbeinen der figurbetonten Jeans zu sehen waren, steckten strumpflos in unifarbenen Pumps mit normalem Absatz, und Vivian fiel auf, daß sie keinen Schmuck trug.

»Hey«, lautete ihre knappe aber freundschaftliche Begrüßung, nachdem sie den Hörer aufgenommen hatte und mit einem überspielt mitleidigen Blick Vivians weniger gepflegtes Äußeres bemerkte.

»Hey«, erwiderte diese ebenso knapp; sie hätte ohnehin nicht gewußt, wie ausgerechnet sie das Gespräch hätte beginnen sollen.

»Behandeln sie dich gut?« erkundigte sich Lydia mit schwesterlicher Fürsorge, aber Vivian reagierte nur mit einem verächtlichen Grinsen.

»Bitte erspare mir deine Anteilnahme. Das kaufe ich dir sowieso nicht ab! Kommen wir doch lieber gleich zum Punkt, ja? Was willst du?«

»Du bist wirklich unverschämt, weißt du das?« beschwerte sich Lydia beleidigt. »Was glaubst du wohl, was ich will? Ich möchte, daß du wieder nach Hause kommst und endlich mit diesem unsinnigen Versteckspiel aufhörst!«

»Fängst du schon wieder damit an! Und wenn du es noch hundert Mal behauptest, ... ich bin nicht deine Schwester!« fuhr Vivian wütend aus der Haut.

»Ich verstehe dich nicht. Warum willst du nicht einsehen, daß es völlig sinnlos ist, diese Farce noch weiter fortzusetzen? Hast du dir eigentlich schon ´mal über die Folgen Gedanken gemacht? Ist dir denn nicht klar, daß dir deine Sturheit womöglich eine mehrjährige Haftstrafe einbringt?«

Vivian zuckte unwillkürlich zusammen. Auf diese Möglichkeit hatte sie auch ihr Verteidiger bereits mehrfach hingewiesen. Immer wieder hatte er von Wahrscheinlichkeiten gesprochen und dabei in zunehmendem Maße der drohenden Niederlage höhere Prozentwerte zugebilligt. Aufgrund ihrer dann als uneinsichtig ausgelegten Haltung würde sie der Arm des Gesetzes vermutlich mit voller Härte treffen. Nur ein offenes Bekenntnis zu der unterstellten Identität konnte sie seiner Meinung nach davor bewahren. Sollte dieser Identitätswechsel jedoch per Gerichtsbeschluß erfolgen, dann würden sämtliche Rechtsgeschäfte, die sie unter der demnach rechtswidrig angenommenen Identität Vivian Bellings abschloß, zwangsläufig als Betrugsdelikte verfolgt. Das bezog unter anderem ihre Ehe mit Jason mit ein.

»Warum tust du das?« stellte sie Lydia mit weinerlichem Unterton zur Rede. »Was hast du nur davon, mir mein Leben wegzunehmen und mir ein anderes aufzuzwingen?« Aus inzwischen genäßten Augen sprach die Verzweiflung.

»Ja, sicher«, stellte Lydia nüchtern fest, »das ist ´mal wieder typisch! Du bist selbstverständlich wieder nur ein Opfer widriger Umstände geworden, und dafür gibst du jetzt mir die Schuld.«

»Ganz genau so ist es doch!« giftete Vivian zurück. »Woher kommen denn diese ganzen Indizien, he? Meine Gebißaufnahme, die angeblich mit der deiner Schwester übereinstimmt, und ihr Ausweis in meinem Gepäck, ... doch wohl nur von dir!«

Lydia schüttelte verständnislos den Kopf, statt ihrer Verärgerung freien Lauf zu lassen, bevor sie sich Vivian mit ernstem Blick wieder zuwandte.

»Ich habe es wirklich satt, mich dauernd mit dir zu streiten, und ich bin es leid, ewig deine Fehler auszubügeln«, erklärte sie frustriert. »Dazu habe ich einfach keine Lust mehr.«

»Dann laß´ es doch, und laß´ mich endlich zufrieden!« forderte Vivian unbeachtet der Empfehlung ihres Verteidigers. Die innere Auflehnung gegen die vorgetäuschte familiäre Bindung, aus der Lydia ihre Verantwortung ableitete, war einfach stärker gewesen.

»Bring´ mich besser nicht in Versuchung!« fauchte ihre Kontrahendin zurück. »Sonst überlege ich mir vielleicht noch, ob es nicht wirklich besser für dich wäre, wenn sie dich für einige Zeit hier behalten!«

Auch ohne heruntergezogene Augenbrauen verfehlte ihr furchteinflößender Gesichtsausdruck, aus dessen Mitte zwei strahlend blaue Augen hervorstachen, seine Wirkung nicht. Vivian lief bei diesem Anblick ein eiskalter Schauer den Rücken hinab.

»Mein Anwalt meint, wir haben gute Chancen«, stachelte sie abwehrend, worauf sich in Lydias Gesicht ein hämisches Grinsen formte.

»So? Sagt er das, ja?« zog sie diese Aussicht mit überheblichem Tonfall in Zweifel. »Und du bist sicher, daß du diesen Prozeß tatsächlich gewinnen willst? ... Also schön«, gab sie sich nun einlenkend. »Es ist deine Entscheidung. Du kannst natürlich deine jämmerliche Identität als Vivian Bellings aufrechterhalten und dich gemeinsam mit Jason für den Mord an Vivians Eltern verantworten. ... Oder du gibst diese lächerliche Maskerade endlich auf und läßt dir statt dessen von mir helfen.«

»Wir ... wir sind es nicht gewesen«, widersprach Vivian beinahe kleinlaut, als die in ihr Gedächtnis eingebrannten Traumbilder von der schrecklichen Gewalttat einen heftigen Gefühlsausbruch hervorriefen.

Ihre Atmung beschleunigte sich zusehens, der Puls schlug ihr längst bis zum Hals, und in Sekunden war sie schweißdurchnässt. Vom Haaransatz aus liefen die zu einem Rinnsal vereinigten Tropfen über die Stirn und von den Augenbrauen abgelenkt seitlich an ihrem Gesicht hinunter. Ihre Kleidung nahm die Feuchtigkeit auf und begann sofort am Körper festzukleben. Aus den genäßten Augen strömten immer neue Tränen unaufhaltsam an ihren erröteten Wangen hinab, die sich mit dem Schweiß vermischten und auch durch ein ruckartiges Hochreißen ihres Kopfes gen Zimmerdecke nicht zu bändigen waren.

»Du weißt es noch nicht, oder? Jason hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Allerdings hat er darin auch seine Komplizin schwer belastet«, versetzte Lydia ihr einen Hieb, der sie durch Mark und Bein erschütterte.

Wieder schossen Vivian die Tränen in die Augen, und ihr Hals zog sich zusammen, daß sie beinahe kein Wort mehr hervorbrachte.

»Das ... das ... kann nicht sein!« krächzte sie fassungslos.

»Sieh´ es doch endlich ein! Er hat dich benutzt! Wahrscheinlich liegt die echte Vivian zerstückelt auf dem Grund irgend eines Sees. Er ist ein Mörder, das hat er selber zugegeben! Aber du mußt dich da nicht hineinziehen lassen! Hör´ doch auf mich!« Sie beugte sich näher zur Trennscheibe vor. »Ich weiß, ich hab´s dir nicht immer einfach gemacht. Vielleicht bin ich sogar mit daran schuld, daß du deiner Familie den Rücken gekehrt hast und nun sogar deine Herkunft leugnest. Aber ich bin deine Schwester, und ich will dir doch helfen!«

Vivian war noch zu keiner Antwort fähig. Ihre bislang aufrechte Köperhaltung, die in Verbindung mit einer lebendigen Mimik und aktiven Gestik ihren selbst aufgezwungenen Optimismus wiederspiegelte, war einer unübersehbaren Ernüchterung gewichen. Sie zeichnete sich in verkrampften Gesichtszügen ab und setzte sich in den vorhängenden Schultern fort. Ihre Körpersprache war nun einsilbig, bedächtig, vorhersagbar und schien gelenkt von der freiwilligen Hingabe an den aufkeimenden Haß, der sie nach dem Verrat an ihrem Vertrauen erfüllte. Niemals wieder würde sie sich in seinen Armen sicher und geborgen fühlen.

»Du willst mir helfen?« fragte sie skeptisch, ohne Lydia dabei anzusehen.

»Ja, das will ich!« bekräftige diese mit überlegener Entschlossenheit. Sie wußte, daß sie alle Trümpfe in der Hand hielt. »Allerdings stelle ich ein paar Bedingungen«, wurden prompt Vivians Befürchtungen bestätigt, daß sie die Katze noch nicht vollständig aus dem Sack gelassen hatte.

»Wenn hier jemand ins Gefängnis gehört, dann du!« erklärte sie mit ungeschminkter Verbitterung und wischte sich mit dem Ärmel die Spuren ihrer Gemütsverfassung aus dem Gesicht. »Was verlangst du?«

»Ich halte es für sinnvoll, daß die mir nach deinem spurlosen Verschwinden übertragene Vermögenspflege deines Erbteils bestehen bleibt und mit deinem Einvernehmen notariell beglaubigt wird.«

»Meinen Erbteil!« lachte Vivian zynisch. »Du meinst wohl Merendas Erbteil. Das ist doch der Name, oder?«

»Darüberhinaus erwarte ich, daß du versprichst, niemals wieder deine Identität zu leugnen und mich natürlich ohne Widerrede in allen Maßnahmen unterstützt, die ich nach deiner Entlassung zur Einhaltung und Kontrolle der gerichtlichen Auflagen für nötig erachte. Ansonsten findest du dich schneller wieder hier ´drin als dir lieb ist!«

»Ich kann also zwischen Gefängnis und einem goldenen Käfig wählen«, hielt Vivian sarkastisch fest. »Soll das etwa dein Angebot sein?«

»Wenn du es so sehen willst?« gab sich die Gefragte keine Mühe, ihr zu widersprechen. »Aber du wirst verstehen, daß ich nicht einfach meinen Kopf für dich hinhalte, während du, mir nichts, dir nichts, so weitermachst wie bisher. Ich werde gut für dich sorgen, und du sollst alles bekommen, was du brauchst, ... aber ich werde nicht zulassen, daß du weder mich noch dich selbst jemals wieder in solche Schwierigkeiten bringst!«

»Du verdammtes Biest!« reagierte Vivian aggressiv, bevor sie sich wieder einen gemäßigten Tonfall abrang. »Geht es um viel Geld? Wie hoch ist denn dieses Erbe?«

»Unser Vater hinterließ uns ein achtstelliges Vermögen«, antwortete Lydia mit der Nüchternheit einer Geschäftsfrau.

»Wow!« entfuhr es Vivian beeindruckt von dieser Summe, die folglich zwischen 10 und 99 Millionen Dollar liegen mußte.

»Ich warte auf eine Antwort«, erklärte Lydia sachlich.

»Du willst Merendas Erbteil, richtig? Das sollte dir schon noch ein bißchen mehr wert sein«, pokerte Vivian.

»Es geht nicht darum, was ich will. Du mußt dich entscheiden.«

Ihr Blick war bewegungslos, ohne jede sichtbare Emotion.

»Du verlangst zuviel!« wehrte sich Vivian.

»Ach wirklich? Dann bleibst du also lieber für den Rest deines Lebens im Gefängnis? So verrückt kannst du nicht sein! Mach´ dir doch nichts vor. Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Das solltest du in keiner Sekunde vergessen, in der du mit mir sprichst!« warnte sie, und ihr Blick verfinsterte sich. »Und jetzt will ich endlich eine Antwort!«

»Ich muß darüber nachdenken«, vermied die unter Druck Gesetzte mühsam jede andere Reaktion, während sich ihre verdeckte Hand zu einer Faust ballte.

»Ich gebe dir eine Minute«, antwortete Lydia kaltherzig, und nachdem sie demonstrativ den Hörer abgelegt hatte, lehnte sie sich mit abgewandtem Blick zurück.

Das gestellte Ultimatum war hart und viel zu kurz, und in typischer Weise spiegelte es Lydias grausame Unnachgiebigkeit und ihr unerträgliches Verlangen nach Dominanz wieder. Sie hatten sich einmal so sehr gemocht. Ihre gemeinsamen Ausflüge, die langen, tiefgreifenden Gespräche, ihr fröhliches, herzhaftes Lachen und der süßliche Duft ihrer Haare, die sie auf ihrem Gesicht spürte, wenn sie sich zur Begrüßung umarmten, waren alles angenehme Erinnerungen. Doch ihr bisheriger Bezug zu einem bis dahin nicht erfahrenen Glücksgefühl verkehrte sich nun ins Gegenteil und ließ wie eine aufgedeckte Intrige nichts übrig als den Schmerz über die Enttäuschung eines mißbrauchten Vertrauens.

Ihr getrübtes Urteilsvermögen erlaubte keinen klaren Gedanken und verhinderte ein berechnendes Abwägen der zur Auswahl stehenden Alternativen. Ihre Entscheidung war nicht überdacht und ging einher mit dem Streben eines unbeugsamen Besiegten, der seine unehrenhafte Unterwerfung und die Auslieferung eines ganzen Volkes dessen unmittelbarer Vernichtung vorzog. Sie scheute ein sinnloses Ende und würde statt dessen den Kampf wieder aufnehmen, wenn die Zeit dafür gekommen war.

Vorsichtig klopfte sie mit dem Hörer gegen die Trennscheibe und machte so auf sich aufmerksam.

»Du hast gewonnen«, erklärte sie dann. »Ich kapituliere. Aber auch ich stelle ein paar Bedingungen«, versuchte sie ihre Position zu stärken.

»Keine Bedingungen«, unterstrich Lydia mit einem ablehnenden Kopfschütteln. »Über die Gewährung gewisser Freiheiten, die dir vielleicht jetzt vorschweben, werden wir uns erst unterhalten, wenn ich es für richtig halte.«

Vivian mußte schlucken, und nicht nur ihre Nackenhaare, alles in ihr sträubte sich. Doch sie wollte auf keinen Fall ins Gefängnis. Auf keinen Fall ins Dunkel, in dem die Schatten auf sie lauerten. Um nichts in der Welt wollte sie dahin zurück.

»Also gut, ... Schwesterherz. Ich werde tun, was du verlangst«, willigte sie nach einer Verzögerung und mit vorgespielt gebrochenem Widerstand schließlich ein.

»Das Versprechen«, erinnerte Lydia kühl.

Vivians Hals zog sich weiter zusammen, und ein gewaltiger Kloß begann sich darin zu formen. Erst nach einem mehrmaligen Räuspern fand sie ihre Stimme wieder.

»Was willst du hören?«

»Ich verspreche, niemals wieder meine Identität als Merenda Carolyn Kereth zu leugnen oder diesbezügliche Zweifel Dritter zu unterstützen«, gab Lydia den Text vor.

Für diese nicht sichtbar verkreuzte Vivian als imaginären Schutz die Finger, während sie widerwillig die verlangten Worte eines Versprechens wiederholte, dessen Einhaltung für sie selbstverständlich undenkbar war.


* * * * * * * * * *


Vor dem gläsernen Wohnzimmervorbau auf der Terrasse sitzend ließ Vivian verträumt ihren Blick durch den Garten schweifen. In den vergangenen anderthalb Jahren seit ihrer Verhaftung hatte sich ihr Leben grundlegend verändert. Ihre Bewährungsstrafe in der Obhut des gerichtlich anerkannten Bürgen war inzwischen bis auf einen einzigen verbleibenden Monat absolviert, aber in dem näher rückenden Fristende sah sie nicht länger einen Motivationsspender.

Bisher hatte ihre Anstrengung ausschließlich der Verteidigung dessen gegolten, das gemäß eigener Definition als bewahrenswert galt. Klammerte man jedoch das unwiederbringlich Verlorene aus, dann blieb nur die Gewißheit, daß sie auf den bevorstehenden Tag, an dem sie ihre Selbstbestimmung wiedererlangen würde, in keiner Weise vorbereitet war.

Eine erfrischende Brise versetzte die Sträucher und Äste in Bewegung. Das zeitversetzt aufbrausende Rauschen zog mit dem Atem der Jahreszeit davon, verstummte kurzzeitig und kehrte zurück, noch bevor das ausschwingende Grün zum Stillstand gekommen war.

Sie mußte sich wohl damit abfinden, daß die einschneidenden Veränderungen aller Wahrscheinlichkeit nach irreversibel waren und somit eine Wiederherstellung des früheren Zustands unmöglich machten. Daher schien es nicht länger vertretbar, allen Anzeichen zum Trotz an etwas festzuhalten, das eine unbefriedigende Beschränkung ihres Daseins auf die nackte Existenz ohne Vergangenheit und vor allem ohne Zukunftsaussicht bedeuten würde. Schon der Gedanke daran löste vielmehr ein gewisses Unbehagen aus.

Das bislang favorisierte Selbstbildnis, das sie als leidvoll aufschreiende Gestalt inmitten einer surreal anmutenden Umgebung zeigte, war es einfach nicht wert, um sich mit einer fortgesetzten kategorischen Abwehrhaltung der Chance auf ein reales Leben zu verschließen, das so viel mehr zu bieten hatte. Dabei spielte es im Grunde keine Rolle, ob sie das Opfer einer Verschwörung geworden war oder den Hauptgewinn in einem zugegebenermaßen ungewöhnlichen Preisausschreiben gezogen hatte.

Es verging kein Tag, an dem Lydia ihr nicht genau das vorhielt – sie formulierte es nur anders. Dabei konnte einem ihr hochtrabendes Gequatsche, dessen sie sich beizeiten befleißigte, mächtig auf die Nerven gehen. Aber wenngleich sie ihre wahren Gefühle geschickt zu kaschieren verstand, so kannte Vivian sie doch inzwischen gut genug, um hinter den bisweilen kunstvoll arrangierten Worten einen tief verwurzelten Schmerz zu erkennen.

Über dessen Ursache konnte sie natürlich nur Mutmaßungen anstellen, aber es hatte ohne Zweifel etwas mit dem Verschwinden ihrer Schwester zu tun. Vivian graute bei der Vorstellung, daß Lydia am Ende sogar darin verwickelt sein könnte.

Unweigerlich mußte sie an Jason denken, der in einem englischen Hochsicherheitsgefängnis eine 18-jährige Haftstrafe unter verschärften Bedingungen und ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verbüßte. Seine Komplizin, auf die er bei seiner Verhandlung immer wieder verwiesen hatte, konnte nicht ermittelt werden. Immerhin hatte man nach einem Vergleich der auf Drängen britischer Ermittlungsbehörden diesen eingereichten Haar-, Gewebe- und Blutproben mit am Tatort sichergestellten Spuren Vivian von diesbezüglichen Verdächtigungen freigesprochen.


Die Terrassentüre hinter ihr öffnete sich, und Lydia steckte ihren Kopf hindurch.

»Alles in Ordnung?« fragte sie vermutlich in Mißinterpretation des romantischen Sitzplatzes als sorgenerregende Absonderung.

»Sicher. Und bei dir?« fragte Vivian mit ausgelassenem Stimmfall zurück.

»Es ist ziemlich kühl hier draußen. Willst du nicht ´reinkommen?«

»Ich finde es herrlich. Magst du dich zu mir setzen? Wir könnten uns etwas unterhalten.«

»Worüber möchtest du reden?« bot Lydia sich an, als habe Vivian etwas auf dem Herzen, das nach einer Schulter zum Ausweinen verlangte, und nahm neben ihr Platz.

Vivian reagierte jedoch völlig anders als erwartet.

»Was ist ein Versprechen wert, zu dem man gezwungen wurde?« begann sie die Unterhaltung auf ungewöhnliche Art und Weise.

»Ist das eine philosophische Frage?« wich Lydia einer direkten Beantwortung aus, um erst durch weitere Ausführungen zu erfahren, ob sie sich auf das im Gefängnis abverlangte Versprechen bezüglich der Akzeptanz und Verteidigung ihrer neuen Identität bezog.

»Ich weiß nicht, ... nein, ich glaube, nicht. Ich würde nur gerne wissen, was dir ein Versprechen bedeutet.«

»Generell?«

»Ja. Ganz allgemein.«

»Nun, ich halte es für eine Zusicherung mit verbindlichem Erklärungswert hinsichtlich eines zukünftigen Handelns, dessen Einhaltung je nach Äußerungsrahmen die Ehre oder auch das Gesetz gebietet.«

Vivian blickte genervt gen Himmel.

»Ich wollte keine Definition aus einem verdammten Fachwörterbuch hören sondern wie du, Lydia Kereth, dazu stehst.«

»Ich halte, was ich verspreche, falls du das meinst.«

»Ach tatsächlich?« gab sich Vivian mißtrauisch. »Und wie war das mit dem „immer füreinander da zu sein“ an Vaters Sterbebett?« erinnerte sie an das Versprechen, das sich die beiden wahren Schwestern einst gaben, und von dem Lydia ihr vor einiger Zeit erzählt hatte.

Lydia war so perplex, daß sie kurzzeitig wie versteinert einfach nur da saß und in das triumphierend naserümpfende Gesicht ihrer von behördlicher Seite anerkannten Schwester blickte. Vivian schien stolz darauf zu sein, daß es ihr endlich einmal gelungen war, ihrerseits einen wunden Punkt zu treffen und damit eine vorübergehende Sprachlosigkeit hervorzurufen.

Scheinbar nachdenklich senkte Lydia ihren Blick, als ob sie sich erst selber darüber klar werden mußte, ob dieser Vorwurf berechtigt war oder nicht. Erst nach einer ausgiebigen Bedenkzeit schweigsamen Abwägens nahm sie den Augenkontakt wieder auf, aber selbst danach verging noch eine ganze Weile, bevor sie endlich antwortete.

»Darüber möchte ich nicht mit dir sprechen«, erklärte sie dann.

»Du hast ihn sehr geliebt, hm?«

»Himmel, nein!« lachte Lydia verächtlich auf, daß Vivian das Blut in den Adern gefror. »Gehaßt hab´ ich ihn! Er war der verabscheuungswürdigste Mistkerl unter Gottes Sonne, und wenn überhaupt jemand einen grausamen Tod verdient hatte, dann er!«

»Und Merenda? Hast du die auch gehaßt?«

»Also schön«, lenkte Lydia nach einer Weile in die Fortsetzung dieses Gesprächsthemas ein. »Nein, ich habe Merenda nicht gehaßt. Im Gegenteil. Ich habe sie geliebt, ... mehr als alles andere auf der Welt.«

»Das glaube ich dir nicht! Du hast das Versprechen gebrochen! Oder etwa nicht?« unterstellte Vivian ihr vorwurfsvoll, daß sie mehr über Merendas Verschwinden wußte als sie bisher zuzugeben bereit gewesen war.

»Und wenn es so wäre?« gab Lydia kaltschnäuzig zurück.

»Ich würde gerne die Wahrheit erfahren.« Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Sie ist tot, nicht wahr?«

»Bist du sicher, daß du darauf eine Antwort willst?« erkundigte sich Lydia einer Drohung gleich, daß die Kenntnis grausamer Geschehnisse weit über das hinausgehen könnte, was ein zart besaitetes Gemüt zu verkraften im Stande war.

»Hast ... hast du sie ...?« Vivian brachte es nicht fertig, ihre Vermutung vollständig auszusprechen.

»Ich konnte es nicht verhindern«, entgegnete Lydia trocken. »Sie wollte es genauso wie ich, aber als es dann so weit war, bekam sie kalte Füße. Als er endlich tot war, trank auch sie davon. Sie wurde wohl nicht damit fertig. ... Es gab nichts, was ich tun konnte. Als ich sie fand, war es bereits zu spät.«

Vivians Gesichtsmuskeln verkrampften. Die unerwartete Offenheit und gleichzeitige Kälte, mit der Lydia sie an dem schrecklichen Geheimnis teilhaben ließ, schockierte und verletzte zugleich. Das von Verachtung ausgelöste Entsetzen war so groß, daß es ihr regelrecht die Sprache verschlug.

»Sein unerträglich schwitziger Atem verfolgt mich noch heute!« fuhr Lydia unterdessen mit vor Haß funkelnden Augen fort. Ein gequältes Lachen erschütterte die Abendluft. »Arme, unschuldige Merenda! Wehrloses Opfer schrankenloser Ausbeutung! Aber auch naive Merenda! Zu lange war sie wohl der Unmenschlichkeit, seiner mit Bösartigkeit durchsetzten Gleichgültigkeit ausgesetzt gewesen, daß sie das gnadenlose Ausleben sadistischer Triebe stillschweigend über sich ergehen ließ und seine unbarmherzige Rücksichtslosigkeit ohne die geringste Auflehnung ertrug.«

Durch Lydias niederschmetternde Enthüllungen hatten sich längst kleine Brandherde entzündet, die sich nun unaufhaltsam ausbreiteten, Barrieren und Gräben überwanden und nichts zurückließen als öde Wüste. Das ohne erkennbaren Anspruch auf Trost oder Mitgefühl beschriebene Leid war alles verzehrend, jede Hoffnung auf Barmherzigkeit erstickend und in seinen tragischen Auswirkungen schier unabsehbar.

»Es gibt keine Rechtfertigung für das Unverzeihliche!« betonte Lydia mit furchteinflößender Miene, während sich Vivians Herzschlag rapide beschleunigte. »Nichts konnte ihn mehr retten, als sich die Gelegenheit bot, uns dieses Jochs zu entledigen, unter dem wir beide litten. Dabei hat es ihn noch viel zu gnädig dahinrafft! Ich hatte gehofft, er würde die aufweichenden Stadien des Dahinvegitierens erleben, aber ich habe ihm wohl etwas zuviel verabreicht.«

Eine Zeit lang saßen sie wortlos nebeneinander und blickten wie erstarrt auf die vom aufbrausenden Wind in Bewegung gehaltenen Äste und Sträucher.

»Du wirst mich nicht gehen lassen, oder?« brach Vivian schließlich das Schweigen.

»Wo wolltest du denn hingehen? Etwa zurück nach England?«

»Warum nicht? Immerhin bin ich von da zu Hause.«

»Nicht mehr.«

»Und wenn ich trotzdem gehen wollte?«

Statt zu antworten wandte Lydia lediglich ihren Kopf in Vivians Richtung und blickte sie aus kalten, emotionslosen Augen an.

»Würdest du mir dann einen Gefallen tun?« bat Vivian nun vorsichtig, während ihr die Angst vor Lydias Kaltblütigkeit deutlich ins Gesicht geschrieben stand.

»Welchen?«

»Enbindest du mich von dem Versprechen, das ich dir im Gefängnis geben mußte?«

»Warum bittest du mich darum?«

»Es ist doch nicht mehr wert als ein erpreßtes Geständnis. Ich dachte, du empfindest etwas für mich. Willst du mir dann nicht vertrauen?«

»Ich habe nicht die Absicht, dir zu vertrauen.«

»Und wie soll ich dann jemals dir vertrauen?«

»Das brauchst du nicht. Es genügt völlig, wenn du tust, was ich sage.«

»Ich bin nicht dein Eigentum!« wagte Vivian ihr mit unterdrückter Lautstärke zu widersprechen.

»Mag sein, aber ich nehme an, du erinnerst dich, daß ich dir ebenso etwas versprochen habe?«

»Was meinst du?«

»Sagte ich nicht, daß ich nicht zulassen werde, daß du weder mich noch dich selbst jemals wieder in Schwierigkeiten bringst?«

Vivian bemühte sich nach Kräften, den drohenden Gefühlsausbruch zu unterdrücken, mit dem sie ihre Unterlegenheit eingestehen würde, doch es gelang ihr nicht. Zu sehr war sie davon überzeugt, daß sie Lydia in keiner Weise gewachsen war. Eher würde sie sich dem fügen, das sie ihr vorschrieb als durch Auflehnung oder gar eine Flucht ihr Leben auf´s Spiel zu setzen. Wohin hätte sie auch fliehen sollen? Lydia standen durchaus die Mittel zur Verfügung, sie auf jedem Fleck dieser Erde aufspüren zu lassen. Demnach schien der einzige Ort, an dem sie keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt war, an Lydias Seite zu sein.

Inzwischen war es dunkel geworden, und die Sterne zeigten sich am Firmament. Sie war wieder allein. Das Rauschen der Blätter, deren dem Wind gehorchenden Bewegungen von der Dunkelheit verschluckt nur mehr zu hören waren, beruhigte und ließ ihren sehnsüchtigen Blick zu den endlos weit entfernten Lichtern reisen. Das war er also, der Sternenschimmer, der sich ihr in einer ihrer Träume angekündigt hatte und fortan ihr Schicksal bestimmen würde. Es war wohl eine Vorahnung gewesen, eine verschlüsselte Botschaft ihres Unterbewußtseins, die ihr auf unerklärliche Weise den Weg gewiesen hatte, und die sie noch nicht vollständig verstand.

Vielleicht war es besser so. Fröstelnd wandte sie sich von dem zauberhaften Anblick ab, dem sie sich noch vor einiger Zeit die ganze Nacht lang hätte hingeben können, und folgte Lydia hinein.


– Ende –
 

visco

Mitglied
Hinweis der Autorin:

Erst ´mal Hallo allerseits!

Nachdem ich einige der hier veröffentlichten Beiträge gelesen hatte, war ich unsicher, ob ich meinen überhaupt ´reinsetzen sollte. Immerhin unterscheidet er sich doch ziemlich von den übrigen - nicht nur wegen der Länge.
Ich habe mich dann aber doch dazu entschlossen, weil ich eure Meinung bzw. Kritik hören möchte, wie vernichtend sie auch sein mag.

Tut mir doch bitte den Gefallen und gebt mir ein paar Anhaltspunkte, damit ich mich selber - oder besser meine Arbeiten - besser einschätzen kann.

Viele Grüße,
Viktoria.
 



 
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