Schlingensiepe und die Halbwertzeit

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Walther

Mitglied
Schlingensiepe und die Halbwertzeit


Schlingensiepe, ganz ernüchtert,
Vor der Diskussion verschüchtert,
Hat die Hose richtig voll.
Himmel, es steht nicht so toll

Um den Euro und das Alter.
Um das Haus weht schon ein kalter
Wind von Schicksal und von Angst.
Wenn Du um Dein Sparbuch bangst,

Um das, was zurückgelegt,
Wenn sich nichts mehr schmerzlos regt,
Was an Körper ist geblieben,
Bist Du durch die Zeit getrieben,

Hast das Leben recht genossen
Und Dein Pulver fast verschossen,
Sehnst nach Stille Dich und Ruh,
Machst bald Deine Augen zu:

Dann wird’s Zeit, um sich zu sorgen,
Weiß er, ernsthaft um das Morgen.
Halber Schein ist ganzer Schein,
Ist der Schein auch noch so klein.

Lieber als den blöden Euro,
Den man tituliert als Teuro,
Möchte er die D-Mark haben,
Die mit ihren milden Gaben,

Die hat Omma schon gespart.
Sie war sicher, sie war hart.
Das gab damals richtig Zinsen,
Denkt er und muss dabei grinsen.

Heute aber gibt’s nur Steuern,
Die das Leben stets verteuern.
Und die Nachbarn schlemmen heftig,
Finanzieren dieses kräftig

Stapelweis mit neuen Schulden.
Er muss sich jedoch gedulden,
Bis nach jenen ollen Griechen
Auch noch andre furchtbar siechen.

Schluss mit dieser Halbwertzeit!
Er ist die Debatten leid.
Mögen sie auch noch so lästern,
Er will schnell zurück ins Gestern,

So als wär mit den Chinesen
Und den Indern nichts gewesen,
Als wär alles wie vor Jahren,
Wo wir die Weltmeister waren

In Export und Produktion.
Ist vorbei, wen juckt das schon:
Ihm ist das doch schnurz wie Piepe,
Denkt vernagelt Schlingensiepe.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das Gedicht ist ein halbes Jahr alt, aber seine Halbwertszeit ist länger.

Es fasst ein wichtiges Problem an, man könnte es mit dem Seerosenteich vergleichen.

Zunächst gibt es Wachstum, sogar exponentielles Wachstum mit Zins und Zinseszins.

Wenn die Kurve in den Sättigungsbereich übergeht, stagniert das Wachstum.

Aber es scheint - oberflächlich - noch mit einer Art Halbwertzeit versehen zu sein.

Doch muss man das stark bezweifeln, es geht nicht nach der Gaußkurve (wie ein Modell ohne Schranken), sondern es zeigt chaotisches Verhalten. Beim chaotischen Verhalten bewirken kleine Änderungen der Parameter wie beim Wetter starke Schwankungen der Ausgangswerte, es sind eben keine voneinander unabhängige Zufallswerte, sondern miteinander verkoppelte Zufallswerte.

Schlingensiepe hing der deterministischen Anschauung eines stationären bzw. wachsenden Zustandes an, die nun zusammenbricht.

Und das macht ihn hilflos, traurig und wütend.
 

Walther

Mitglied
Lb. Bernd,

Du hast das Stück Zivilisationskritik, das in diesen Versen steckt, gut herausgearbeitet. Wir neigen gerne dazu, das Gestern zu überhöhen, ins Heute zu verlängern und dann diesen Trend in die Zukunft zu projizieren. Dabei vergessen wir, daß sich die Zeiten ändern und damit auch der Rahmen des Handelns/Lebens.

Ebenso vergessen wir gerne, daß das Gestern nicht ideal war, sondern mindestens so unvollkommen wie das Heute. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das Morgen kein Stück anders aussieht, was diesen Teil der Wirklichkeit angeht.

Mein Alter Ego spießt solche Umstände auf. Danke, daß Du diesen Text wieder nach vorne gehoben hast.

LG W.
 



 
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