Schlitterpartie

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Rhea_Gift

Mitglied
Schlitterpartie

Unsicher schlittert der Schritt,
ein sicherer Stand von kurzer Dauer,
ein fester Tritt läßt den Boden splittern,
ein vorsichtiger bringt mich zu Fall -
nur eine Frage der Zeit.

Gallileo hat sich getäuscht,
die Welt ist nur eine Scheibe,
erstarrtes Wasser, erstarrtes Sein,
der Grund verborgen und tödlich -
und jeder schlittert allein.

Ohne Schlittschuhe geboren,
absurder Lauf, absurde Existenz,
vom eisigen Spiegel über die Welt getäuscht,
ist Reflexion doch alles, was bleibt -
und gebrochenes Licht weist den Weg.

Aus dem Wasser geboren lockt der Grund,
in dessen Tiefe wir einst wieder sinken,
dazwischen eine Schlitterpartie -
seltsam nur, daß die spiegelnde Fläche
uns dennoch zum Laufen verführt.
 

george

Mitglied
Macht nachdenklich und kühlt gleichzeitig ab in dieser Hitze. Ob der Text wohl in einer anderen Jahreszeit entstanden ist? Wortwahl und Rhythmik sind wohltuend.
Es gibt sie also immer noch, die guten Texte.

Herzliche Grüsse
 

Jongleur

Mitglied
Eis

Mmh ja, hallo Rhea, man liest gern von Eis und Wasser dieser Tage, in denen man sich manchen Schritt erspart, weil zu schweißtreibend ;)
Des Menschen Seele gleicht dem Wasser, Goethe sagt das - und Du sagst, sein Lebem dem Gehen auf Eis. Gefällt mir! Ein aussagekräftiges Bild, auch wenn hier nur von "Pflicht" und Schwierigkeiten die Rede ist, nicht von Kür, Paarlauf, Tanz. Und das Gedicht einen schwermütigen bis ans Morbide, Suizidale grenzenden (Aus dem Wasser geboren, lockt der Grund) Charakter hat - der immer sich mühende Mensch, dessen höchste Vervollkommnung, Befriedigung bleiben wird, wenigstens zeitweise auf zwei Beinen aufrecht über gefährliche Glätte zu laufen.
Ich frage mich, nachdem der Text in weiten Strecken allgemeingültig, philosophisch formuliert ist, ob es auch ein Weg wäre, die letzten "Ich"-Bezüge allgemein zu halten - denn dass ein enttäuschtes, schlitterndes Ich spricht, ist auf jeden Fall durch die [einseitig gewichtete] Sicht der Dinge enthalten.
Unsicher schlittert der Schritt,
ein sicherer Stand von kurzer Dauer,
ein fester Tritt läßt den Boden splittern,
ein vorsichtiger bringt [meist] zu Fall -
nur eine Frage der Zeit.

--
seltsam nur, daß die spiegelnde Fläche
dennoch zum Laufen verführt.


Inhaltlich hätte ich anzumerken:
vom eisigen Spiegel über die Welt getäuscht
Leuchtet mir nicht ein. Wenn ich von vornherein postuliere, dass die Welt eine Scheibe ist mit eisglatter Oberfläche, wie kann ich mich getäuscht fühlen? Es ist ja von keinem "Dahinter" die Rede, das schlitternd unmöglich zu erreichen wäre. - Was spiegelt der "eisige Spiegel" im Text? Allenfalls einen "Himmel", einen Gestirnelauf, Wolkenbilder.
Ich könnte mir eine offenere Formulierung vorstellen wie "über das Dasein getäuscht", den "Gang der Dinge" o. ä.
seltsam [nur], daß die spiegelnde Fläche
[uns] dennoch zum Laufen verführt.


Und, Kleinigkeit:
Aus dem Wasser geboren lockt der Grund,
in dessen Tiefe wir einst wieder sinken

- scheint mir nicht ganz sauber. Wir versinken in der/die Tiefe des Wassers (bis zum Grund), nicht in die Tiefe des Grundes. Oder? Auch wenn der Grund "tief" liegen mag.

Ohne Schlittschuhe geboren
Ja, das ist vollkommen richtig, ich sehe es vor mir. "Schlittschuhe" ist aber in diesem Eissee-Metaphertext so unendlich konkret - und aus der Realwelt. Könnte da auch etwas weniger Geläufiges stehen? Gleitschuhe??

ist Reflexion doch alles, was bleibt -
Ich verstehe, der Sprachfluss möchte gern dies "doch" im Satz halten. Aber es scheint mir entbehrliches Füllselwort, das keinen Sinn transportiert. ist Reflexion letztlich (= am Ende) alles, was bleibt ???

und gebrochenes Licht weist den Weg.
Ist meine Lieblingsstelle! :) gebrochenes Licht weist den Weg! Schön!

Die letzte Strophe habe ich wiederholt gelesen. Nachdem ich zuerst den Eindruck hatte, dass die "Sinnfrage" seltsam ... an den Schluss gehörte, also erst die "Verführung" zum Laufen, dann die Schlitterpartie. Aber je öfter ich es lese, kommt der Text mir logisch vor im Ablauf.

Grüße vom Jongleur, heute durch schwüle Luft schlitternd. Geht nicht? Naja eigentlich nicht, käme man gleich zu Fall. Aber es gibt so 'ne wunderschöne Gedichtzeile "Ich setze meinen Fuß in die Luft" o. ä. von Rose Ausländer.
 

Rhea_Gift

Mitglied
Hi George,

danke, freut mich, daß Dir mein Gedicht gefällt! :)

LG, Rhea


Hi Jongleur,

danke für die intensive Auseinandersetzung mit dem Gedicht. Wie schon erkannt, ist es sehr doppeldeutig/vielschichtig.
Zu Deinen Anmerkungen:
Es gibt zwar allgemein-phil. Aussagen im Gedicht, dennoch ist es sehr subjektiv geschrieben, daher soll das Ich auch deutlich erscheinen - kann ja nicht anderen meine Sicht, die auch nicht immer so negativ ist, aufdrücken.
Das Gedicht ist ein konkretes Bild für einen abstrakten Sinn, daher find ich die Schlittschuhe nicht verkehrt - Gleitschuhe wäre eine künstliche Wortkreation, die ich in dem ansonsten im Wortsinn nicht künstlichen Gedicht verkehrt fände - sie würden auch den Sinn verfehlen, schließlich schlittert das Ich und gleitet eben leider nicht*seufz*.
Interessant eigentlich, daß die Dinger, mit denen es erwünscht wäre zu gleiten, Schlitt-Schuhe heißen - ob der Namensgeber eine ähnliche Phase der Weltsicht hatte wie ich??? :D Ebenso der Schlitten - heißt auch nicht Gleiter ;)

Die Welt als Spiegel, wir nehmen die Reflexion wahr, nicht das darunter=dahinter, den Grund (im dreifachen Wortsinn!), erst nach dem Tod=Einsturz nehmen wir vielleicht anderes wahr - aber dann sind wir nicht mehr Mensch. Wir sinken (bewußt so gemeint) IN den Grund - er beginnt unter der Spiegeloberfläche, unter der üblichen Wahrnehmung ( bzw. über, siehe Para-psychologie, etc.), und wir vereinen(=einsinken) uns mit dem Grund (der Schöpfung/dem All/was auch immer der Grund IST).
Achja, das "doch" ist kein Füllsel, natürlich ist es fraglich, ob Reflexion alles ist - manchmal GLAUBT man DOCH mehr wahrzunehmen und für wahr zu nehmen, als die Sinne es ermöglichen - daher ist das "doch" dazu da, aus der Aussage eine bezweifelnswerte Behauptung zu machen, quasi das Fragezeichen.

Södele, hoffe, damit genug erklärt - eigentlich ein Fehler, man sollte dem Leser die Deutung überlassen, er kann sich ja auch gern was anderes daraus herauslesen. Andererseits schade, daß man tote Dichter z.B. nicht mehr fragen kann, wie sie was meinten... ;)

Ich wünsche noch einen guten Lauf, wenns ein Tanz wird, um so besser! :)

LG, Rhea
 

Jongleur

Mitglied
tiefgrundig ...

Hi Rhea,
mit und ohne Schlittschuhe, schön die Arme zum Balancieren nehmen ... hoffe ich, Du und ich, wir schlittern ohne einzubrechen mutig und munter weiter!
;)
Grüße vom Jongleur,
heute ist es abgekühlt hier, man kann sich wieder einen Winter mit Eis vorstellen ...
 



 
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