Schmerzjugend

Ich habe einen Freund, dessen Vater nun schon längere Zeit tot ist. Ich habe ihn selbst nie kennen gelernt, aber mein Freund, ein Arbeitskollege, hat mir von ihm erzählt. Jakobs Vater war ein älterer Jahrgang, und so erklärt es sich, daß er starb, als mein Freund noch vergleichsweise jung war. Dennoch hatte dieser Mann seinem Sohn vieles erzählt, und einen Teil davon gab Jakob auch an mich weiter.
Sein Vater, so erzählte Jakob, war mit sechzehn Jahren zur Wehrmacht eingerückt und als Panzerfahrer nach Rußland gekommen.
„Du mußt dir vorstellen“, sprach mein Kollege, „mit sechzehn einberufen, ein halbes Jahr Ausbildung in Wiener Neustadt und dann, ohne weitere Zwischenschritte, direkt an die Front!“ Dort, so berichtete er mir, sei die Hölle losgewesen.
„Mein Vater hat mir erzählt, daß er in einen Panzer gekommen sei, in dem schon einige Veteranen dienten. Sie waren seit Beginn des Krieges dabei, und immer wenn ihr Panzer in die Schlacht fuhren, spuckten sie aus, scherzten und schienen keine Furcht zu kennen, während mein Vater vor Angst fast in die Hose machte.“
„Nach einem Kampf“, hatte Jakobs Vater gesagt, „war mein Sitz im Panzer jedesmal durchgeschwitzt. Die Russen hatte mehr von allem: Panzer, Geschütze, Gewehre und Menschen. Oft lagen wir irgendwo in Deckung, und dann kamen sie, vierhundert, gegen fünfzig oder bestenfalls hundert, und wir schossen, was das Zeug hielt. Die Russen hatten mehr, wir von allem das bessere. Du konntest direkt vor einem Soldaten der Roten Armee stehen, wenn er auf dich schoß, ging die Kugel irgendwo in einen weit entfernten Wald. Wir knallten sie ab, bis keiner mehr übrig war, doch kaum war der letzte Russe tot, kamen die nächsten. Und wenn diese geschlagen waren, marschierten die nächsten vierhundert über den Hügel. Je länger der Krieg dauerte, um so übermächtiger wurde der Gegner, und trotzdem, wir saßen in unserem Panzer und fuhren mitten hinein, dorthin, wo die Schlacht am heftigsten tobte, und wenn ringsum alles fiel, wir fuhren mitten ins Herz der Hölle, und wir waren nicht die einzigen, fast jeder deutsche Panzer raste mit voller Kraft und ohne zu zögern dahin, wo die Gefahr drohte, mitten durch die russischen Tanks hindurch, und wenn die Nacht hereinbrach, dann war der Himmel rot vom Schein der brennenden Russenpanzer. Schlacht um Schlacht schlugen wir auf diese Weise, Sieg um Sieg errangen wir gegen die Übermacht des Feindes, und jahrelang zogen wir auf diese Art immer tiefer nach Rußland hinein.“
„Es war damals“, fuhr er fort, „keine Frage, ob man in den Krieg wollte oder nicht. Nicht nur, daß eine Weigerung undenkbar oder mit den schrecklichsten Folgen bestraft wurde. Es war für uns deshalb keine Frage, weil wir den Krieg als Abenteuer suchten. Ich spreche hier“, erklärte Jakobs Vater, „von den Jungen, nicht den dreißig- oder vierzigjährigen, die Familie hatten und die Welt nicht mehr nur schwarz oder weiß sahen. Ich rede von uns, den Jugendlichen, den Burschen, die wir vor Abenteuerlust strotzten und in die Welt wollten, die wir ans Reich glaubten und uns als Helden sahen. Damals war Deutschland keine Nation, es war alles und der Führer kein Mann, sondern ein Wesen. Und so, begeistert, sicher, daß unser Leben nichts und Deutschland alles war, marschierten wir in den Krieg. Wir gingen in die Schlacht, als gebe es kein morgen, wir gingen hinein, es war unvorstellbar. Die hinter uns, die uns geschickt hatten“, sprach er, „waren Wixer. Es waren die größten Schweine aller Zeiten, aber wir waren begeistert und gingen hinein, egal wieviele Geschütze auf uns gerichtet waren und weil wir so, auf diese Art, in den Krieg zogen, deshalb fürchteten die anderen Völker den Deutschen, deshalb hatte jeder Soldat auf der Welt Angst vor uns.
Die dahinten, das waren die erbärmlichsten Wixer, und wir wurden um unsere Jugend betrogen. Sechzehnjährige gingen in den Krieg, aber heim kehrten Greise, wenn sie überhaupt heimkehrten. Wir waren dumm, wir bekamen nicht mit, was eigentlich ablief, und wir stürmten nach vorn, wie es nur selten ein Volk getan hat.“
„Eines Tages“, schloß Jakobs Vater die Erzählung, „wurden wir mitten im Getümmel getroffen und der Panzerturm explodierte, ich wurde meterweit davongeschleudert, überlebte schwerst verbrannt als Einziger der Besatzung. Verletzung, russische Gefangenschaft, Arbeitslager.
Wir kannten keine Gnade und wir erwarteten auch keine. Wir kämpften mit Leib und Seele. Wir waren der Stolz des Reiches und dafür haben wir mit unserer Jugend bezahlt.

Ich habe darüber nachgedacht, und mir ist nichts sonderlich Kluges dazu eingefallen, aber an diesem Tag war ich, vielleicht zum ersten Mal, wahrhaft dankbar für die Geborgenheit und den Frieden, in dem wir zur Zeit leben dürfen.
 



 
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