Rudolf Wolter
Mitglied
Schnee zu Ostern
In den Ecken lag noch der Schnee. Schmutzig grau kauerte er sich in den windgeschützten Ecken. Wenn ein Sonnenstrahl in diese dunklen Ecken fingerte, blitzten silbern kleine Kristalle auf. Sie mochte es nicht glauben, aber die Sonne weckte auch aus dem Schmutz noch ein Glänzen. Morgen ist Ostern. In dieser steinernen Straße, in dieser himmelsfernen Schlucht zwischen den ragenden Häusern sah sie noch nichts davon. Die wenigen Krokusse auf dem schmalen Dreieck des Parks waren hier vergessen.
Ostern, war das nicht Frühling, Leben in bunten Farben? Sie hätte so gerne ihre Hände ausgestreckt nach Leben, aber ihre Arme waren so steif und schwer, sie war so tot, so leichenstarr. Daß ihre Beine sie noch trugen, das konnte sie nicht gelten lassen. Sie bewegten keine lebendige Frau durch diese bedrängende Enge der Straßenklamm. Auf ihren kalten Füßen lastete lebloses Fleisch, nichts als lebloses Fleisch. Sie hastete durch diesen kalten Morgen und legte sich in immer neuen Anläufen zurecht, wer und was sie denn sei. Aber sie fand sich nicht bei allem Suchen und Mühen. Ihre Gedanken holperten und stolperten in engen, geschlossenen Kreisen. Sie war sich selbst abgestorben, das war sie.
Corinna hatte sie begraben. Jeden Tag hatten sie telefoniert. Sie brauchten einander, seit sie sich damals im Kindergarten begegnet waren. Corinna, die mit niemandem auch nur ein Wort sprach, seit ihre Mutter sie dort im fremden Zimmer ablieferte, weil sie jetzt Arbeit gefunden hatte, endlich wieder Arbeit. Corinna, die mit ihrem stählernen Willen jedem Versuch widerstand, dort zu leben, wo sie nicht heimisch werden wollte. Drei Jahre lang hatte sie es geschafft, nicht ein Wort zu irgend jemandem zu sagen. Auch mit ihr redete sie keine Silbe. Aber sie nahmen sich bei den Händen und wichen sich nicht von der Seite. Sie schaukelten zusammen, sie holten sich zusammen das Wasser für die Tuschfarben, sie tauschten ihre Frühstücksbrote und die Apfelhälften. In der Puppenecke legten sie gemeinsam ihre Kinder in die Karre, Corinna ganz schweigsam, und sie redete und redete. Sie brauchte jemanden, dem sie alles erzählen konnte, ihre Angst vor den starken und lauten Jungen, die ihr immer alles kaputt machten und dann so gemein lachen konnten, ihren Neid auf ihre großen Geschwister, die immer alles durften, was ihr verboten war, ihrem Haß auf die beutelige Spielhose, die sie unbedingt im Kindergarten tragen sollte.
Sie waren durch die Grundschule zusammen gegangen, hatten sich bei dem blöden Rechnen gegenseitig den Frust gestanden, später hatten sie sich beide die ersten Lippenstifte in der Parfümerie an der Ecke gekauft, sie probierten die ersten BH’s miteinander aus, und es machte nichts, daß die eine mehr hatte als die andere. Mit den Jungs im Park flirteten sie gemeinsam. Und als die Lehre sie trennte, gab es das Telefon. Jeden Tag. Aber nun gab es keinen An-schluß unter dieser Nummer. Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Wie sah sie nur aus, die schöne Corinna, mit ihrem kahlen Kopf! Und geholfen hatte das alles nicht. Dreiundzwanzig Jahre Jugend wurden vom Krebs zerfressen. In die tiefe Grube hatte sie eine Amaryllis geworfen. Eine weiße Blüte. Als sie auf den Sarg fiel, gab es häßliches Geräusch.
Als sie den aufgerissenen Brief in Nurmis Tasche fand, beneidete sie Corinna. Sie erkannte die Handschrift ihrer Schwester, sie kannte sie gut. Das ‚D‘ immer mit so einem eitlen Schnörkel. Und sie konnte sich nicht beherrschen, so wie damals, als sie zwei Tage vor Weihnachten am Schlafzimmerschrank ihrer Eltern den Schlüssel stecken sah. Sie mußte einfach die Tür aufmachen, und dann war der ganze Heilige Abend verdorben, weil man Freude und Überraschung so schwer simulieren kann, und sie mußte doch so tun, als wäre das Skateboard ein ganz unverhofftes Geschenk. Nie wieder wollte sie ihrer Neugier folgen, das brachte nichts Gutes. Aber diesen Brief mußte sie lesen. Außerdem war er ja schon geöffnet, da gilt das Briefgeheimnis nicht mehr, oder? Und dann schoß ihr die Röte ins Gesicht ob der Schamlosigkeit ihrer Schwester. Sie hätte sich nie getraut, in einem Liebesbrief so ins Detail zu gehen. Das also machte Nurmi, wenn er angeblich mit seiner Band probte. Deswegen sollte sie das Kind nicht haben, und es erschien ihr in schmerzhaften Alpträumen immer noch, nach zwei Jahren immer noch. So lange ging es schon zwischen den beiden, der Brief war ein Jubiläumsglückwunsch. Sie hatte, noch bevor er von der Probe zurückkam, die große Reisetasche vom Schrank im Schlafzimmer geholt, ohne das Bett der Lüge eines Blickes zu würdigen, sie stopfte ihre Wäsche, die Hosen und die Pullover hinein, warum hatte sie nur die Armanihose vergessen, das tat ihr immer noch leid, aber die lag bei der Wäsche zwischen seinen verdammten Jeans, die sie ihm noch waschen wollte. Und dann zog sie die Tür ins Schloß.
Jetzt, auf dem Wege von der Nachtschicht in ihr leeres Zimmer, sprang sie wieder der Schmerz an. Schneidend kalte Regentropfen stachen in ihr Gesicht. Vereinzelte Schneeflocken taumelten herunter. Da traf sie der blendende Strahl. Irgend jemand hatte dort ober ein Fenster geöffnet, in dem sich die Sonne spiegelte. Sofort standen sie wieder vor ihren Augen, die Osterausflüge, als ihr Vater noch lebte. Wochenlang hatte er vom Osterspaziergang geschwärmt, Ostereier muß man im Wald suchen, wie kann der Hase in die Stadt kommen, da muß er sich ja fürchten, überfahren zu werden mit seinem schweren Korb voller bunter Eier. Frühling wird jetzt, und man muß sehen, wie sich das Leben wieder durchsetzt. Und in der frühen Morgensonne fuhren sie los, aufgeregt und gespannt, und als das Auto über den Waldweg schwankte, trieb der Schnee gegen die Windschutzscheibe, und ihr Vater sagte das Wort, das Mama nicht hören mochte. Sie spürte ihre kalten Finger, wenn sie im Unterholz der noch kahlen Bäume die bunt leuchtenden Eier in ihren Korb sammelte.
Die Menschen machen sich ein falsches Bild von Ostern, plötzlich wußte sie es in deutlicher Schärfe. Alle die bunten Postkarten zu Ostern waren verlogen. Das springende Leben tapsiger Lämmer, die farbiger Fülle bunter Frühlingsblumen, das grelle Grün der Wiesen, diese Bilder eines immerwährenden Paradieses waren nicht echt. Niemand kann Ostern anknipsen wie eine Nachttischlampe. Das war Ostern: Leben aus welkem Laub, Schneeflocken und Regentropfen im dünnen Strahl der Frühlingssonne. Das war schon richtig: die stille lastende Trauer des Karfreitags und dann der Ostermorgen. Erst das Sterben ermöglicht Leben – sie hatte es nie verstanden, damals im Konfirmandenunterricht. Sie empfand den schmerzgekrümmten Leib am Kreuz immer nur als ein grausames Schreckensbild. Wie können Menschen nur andächtig werden bei so einem furchtbaren Anblick. Sie hätte immer nur wütend werden können vor diesem kalten Greuel. Nun erst verstand sie etwas von diesem ewigen Geheimnis. So tot, wie sie nun war, so ohne Vertrauen zu einem anderen Menschen, so bar jeder Hoffnung, so abgestorben jeder Zuversicht, so würde sie Ostern erleben können.
So tat sie an diesem Morgen noch dreierlei. Im Blumengeschäft kaufte sie sich drei Krokusse für ihre Fensterbank. Im Kaufhof leistete sie sich eine Thermoskanne für den Kaffee am Ostermorgen. Und dann rief sie Karin an, die dicke Karin mit den immer traurigen Augen, und lud sie ein zum Osterausflug. Noch nie hatte Karins Stimme so fröhlich geklungen wie bei der Verabredung zum nächsten Morgen um sechs.
In den Ecken lag noch der Schnee. Schmutzig grau kauerte er sich in den windgeschützten Ecken. Wenn ein Sonnenstrahl in diese dunklen Ecken fingerte, blitzten silbern kleine Kristalle auf. Sie mochte es nicht glauben, aber die Sonne weckte auch aus dem Schmutz noch ein Glänzen. Morgen ist Ostern. In dieser steinernen Straße, in dieser himmelsfernen Schlucht zwischen den ragenden Häusern sah sie noch nichts davon. Die wenigen Krokusse auf dem schmalen Dreieck des Parks waren hier vergessen.
Ostern, war das nicht Frühling, Leben in bunten Farben? Sie hätte so gerne ihre Hände ausgestreckt nach Leben, aber ihre Arme waren so steif und schwer, sie war so tot, so leichenstarr. Daß ihre Beine sie noch trugen, das konnte sie nicht gelten lassen. Sie bewegten keine lebendige Frau durch diese bedrängende Enge der Straßenklamm. Auf ihren kalten Füßen lastete lebloses Fleisch, nichts als lebloses Fleisch. Sie hastete durch diesen kalten Morgen und legte sich in immer neuen Anläufen zurecht, wer und was sie denn sei. Aber sie fand sich nicht bei allem Suchen und Mühen. Ihre Gedanken holperten und stolperten in engen, geschlossenen Kreisen. Sie war sich selbst abgestorben, das war sie.
Corinna hatte sie begraben. Jeden Tag hatten sie telefoniert. Sie brauchten einander, seit sie sich damals im Kindergarten begegnet waren. Corinna, die mit niemandem auch nur ein Wort sprach, seit ihre Mutter sie dort im fremden Zimmer ablieferte, weil sie jetzt Arbeit gefunden hatte, endlich wieder Arbeit. Corinna, die mit ihrem stählernen Willen jedem Versuch widerstand, dort zu leben, wo sie nicht heimisch werden wollte. Drei Jahre lang hatte sie es geschafft, nicht ein Wort zu irgend jemandem zu sagen. Auch mit ihr redete sie keine Silbe. Aber sie nahmen sich bei den Händen und wichen sich nicht von der Seite. Sie schaukelten zusammen, sie holten sich zusammen das Wasser für die Tuschfarben, sie tauschten ihre Frühstücksbrote und die Apfelhälften. In der Puppenecke legten sie gemeinsam ihre Kinder in die Karre, Corinna ganz schweigsam, und sie redete und redete. Sie brauchte jemanden, dem sie alles erzählen konnte, ihre Angst vor den starken und lauten Jungen, die ihr immer alles kaputt machten und dann so gemein lachen konnten, ihren Neid auf ihre großen Geschwister, die immer alles durften, was ihr verboten war, ihrem Haß auf die beutelige Spielhose, die sie unbedingt im Kindergarten tragen sollte.
Sie waren durch die Grundschule zusammen gegangen, hatten sich bei dem blöden Rechnen gegenseitig den Frust gestanden, später hatten sie sich beide die ersten Lippenstifte in der Parfümerie an der Ecke gekauft, sie probierten die ersten BH’s miteinander aus, und es machte nichts, daß die eine mehr hatte als die andere. Mit den Jungs im Park flirteten sie gemeinsam. Und als die Lehre sie trennte, gab es das Telefon. Jeden Tag. Aber nun gab es keinen An-schluß unter dieser Nummer. Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Wie sah sie nur aus, die schöne Corinna, mit ihrem kahlen Kopf! Und geholfen hatte das alles nicht. Dreiundzwanzig Jahre Jugend wurden vom Krebs zerfressen. In die tiefe Grube hatte sie eine Amaryllis geworfen. Eine weiße Blüte. Als sie auf den Sarg fiel, gab es häßliches Geräusch.
Als sie den aufgerissenen Brief in Nurmis Tasche fand, beneidete sie Corinna. Sie erkannte die Handschrift ihrer Schwester, sie kannte sie gut. Das ‚D‘ immer mit so einem eitlen Schnörkel. Und sie konnte sich nicht beherrschen, so wie damals, als sie zwei Tage vor Weihnachten am Schlafzimmerschrank ihrer Eltern den Schlüssel stecken sah. Sie mußte einfach die Tür aufmachen, und dann war der ganze Heilige Abend verdorben, weil man Freude und Überraschung so schwer simulieren kann, und sie mußte doch so tun, als wäre das Skateboard ein ganz unverhofftes Geschenk. Nie wieder wollte sie ihrer Neugier folgen, das brachte nichts Gutes. Aber diesen Brief mußte sie lesen. Außerdem war er ja schon geöffnet, da gilt das Briefgeheimnis nicht mehr, oder? Und dann schoß ihr die Röte ins Gesicht ob der Schamlosigkeit ihrer Schwester. Sie hätte sich nie getraut, in einem Liebesbrief so ins Detail zu gehen. Das also machte Nurmi, wenn er angeblich mit seiner Band probte. Deswegen sollte sie das Kind nicht haben, und es erschien ihr in schmerzhaften Alpträumen immer noch, nach zwei Jahren immer noch. So lange ging es schon zwischen den beiden, der Brief war ein Jubiläumsglückwunsch. Sie hatte, noch bevor er von der Probe zurückkam, die große Reisetasche vom Schrank im Schlafzimmer geholt, ohne das Bett der Lüge eines Blickes zu würdigen, sie stopfte ihre Wäsche, die Hosen und die Pullover hinein, warum hatte sie nur die Armanihose vergessen, das tat ihr immer noch leid, aber die lag bei der Wäsche zwischen seinen verdammten Jeans, die sie ihm noch waschen wollte. Und dann zog sie die Tür ins Schloß.
Jetzt, auf dem Wege von der Nachtschicht in ihr leeres Zimmer, sprang sie wieder der Schmerz an. Schneidend kalte Regentropfen stachen in ihr Gesicht. Vereinzelte Schneeflocken taumelten herunter. Da traf sie der blendende Strahl. Irgend jemand hatte dort ober ein Fenster geöffnet, in dem sich die Sonne spiegelte. Sofort standen sie wieder vor ihren Augen, die Osterausflüge, als ihr Vater noch lebte. Wochenlang hatte er vom Osterspaziergang geschwärmt, Ostereier muß man im Wald suchen, wie kann der Hase in die Stadt kommen, da muß er sich ja fürchten, überfahren zu werden mit seinem schweren Korb voller bunter Eier. Frühling wird jetzt, und man muß sehen, wie sich das Leben wieder durchsetzt. Und in der frühen Morgensonne fuhren sie los, aufgeregt und gespannt, und als das Auto über den Waldweg schwankte, trieb der Schnee gegen die Windschutzscheibe, und ihr Vater sagte das Wort, das Mama nicht hören mochte. Sie spürte ihre kalten Finger, wenn sie im Unterholz der noch kahlen Bäume die bunt leuchtenden Eier in ihren Korb sammelte.
Die Menschen machen sich ein falsches Bild von Ostern, plötzlich wußte sie es in deutlicher Schärfe. Alle die bunten Postkarten zu Ostern waren verlogen. Das springende Leben tapsiger Lämmer, die farbiger Fülle bunter Frühlingsblumen, das grelle Grün der Wiesen, diese Bilder eines immerwährenden Paradieses waren nicht echt. Niemand kann Ostern anknipsen wie eine Nachttischlampe. Das war Ostern: Leben aus welkem Laub, Schneeflocken und Regentropfen im dünnen Strahl der Frühlingssonne. Das war schon richtig: die stille lastende Trauer des Karfreitags und dann der Ostermorgen. Erst das Sterben ermöglicht Leben – sie hatte es nie verstanden, damals im Konfirmandenunterricht. Sie empfand den schmerzgekrümmten Leib am Kreuz immer nur als ein grausames Schreckensbild. Wie können Menschen nur andächtig werden bei so einem furchtbaren Anblick. Sie hätte immer nur wütend werden können vor diesem kalten Greuel. Nun erst verstand sie etwas von diesem ewigen Geheimnis. So tot, wie sie nun war, so ohne Vertrauen zu einem anderen Menschen, so bar jeder Hoffnung, so abgestorben jeder Zuversicht, so würde sie Ostern erleben können.
So tat sie an diesem Morgen noch dreierlei. Im Blumengeschäft kaufte sie sich drei Krokusse für ihre Fensterbank. Im Kaufhof leistete sie sich eine Thermoskanne für den Kaffee am Ostermorgen. Und dann rief sie Karin an, die dicke Karin mit den immer traurigen Augen, und lud sie ein zum Osterausflug. Noch nie hatte Karins Stimme so fröhlich geklungen wie bei der Verabredung zum nächsten Morgen um sechs.