Schneiderleere

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Ralf Langer

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Schneiderleere

Die altmodische Glocke erklingt stets zweimal.
Zuerst beim Eintreten durch die einfache Holztür, und ein zweites Mal, wenn sich die Tür der Schneiderstube hinter dem Kunden wieder schließt.
Tageslicht fällt sorgfältig durch die Fensterfront neben der Tür, und taucht die Stube, mit seinem mächtigen Arbeitstisch in der Mitte des Raumes, in ein mildes Licht.
Der erste Blick fällt stets auf ein großzügig gerahmtes Bild an der Wand gegenüber dem Eingang.
Ein Kandinsky könnte der spontane Ausruf dazu sein.
Der Schneider wird dann freundlich Lächeln und auf seine trockene Art und Weise erklären, dass es schon Schnittmuster gab bevor die Herren Bauhäusler entdeckt hatten, dass man diese auch als Bilder an großzügig geschnittenen Villenwänden hängen konnte.
Vielleicht ginge er sich dann mit den schmalen Händen durch seine dünnen grauen Haare, die er zu einem Zopf gebunden hat, und nähme schließlich eine Hose entgegen.
Zum Kürzen versteht sich.
Später, wenn er die Naht aufgetrennt, den Saum freigelegt, und mit der Schere begonnen hat die Hose zu kürzen, wie einen zu langen Traum, schaut er vielleicht nachdenklich auf seine gerahmte Gesellenprüfung an der Wand.
Möglich, dass dann neblig gewordene Erinnerungen aus früheren Jahren in ihm aufsteigen.
Bilder von mailändischen Laufstegen. Blitzlichter aus der Pariser Modewelt. Jugendliche Ähnlichkeiten mit dem lagerfeldschen Habitus.
Doch gleich dem Nebel, der sich am Morgen in die Flußauen beißt, klären diese Bilder nur langsam auf.
Er denkt dann an Nähte von Frauenkostümen, die er häufig reparieren muss, da sich die Damen beim Kauf ihrer Garderobe nicht nur von ihrer Kleidergröße, sondern gerne auch von ihren Wünschen leiten lassen.
All das geplatzte Hoffnungen.
Dann öffnet er behutsam eine Schublade am Arbeitstisch, holt ein paar verschlissene Socken heraus, nimmt sich Nadel und Faden, und stopft die Löcher.
Er stopft in aller Ruhe, und stopft und flickt solange, bis sich der Nebel wieder legt, bis sich die Leere wieder füllt.
 

Ralf Langer

Mitglied
liebe(r) anonymus,
ich moechte mich fuer die bewertung
dieses stuecks bedanken. gebe aber auch gerne zu , das ich mich ueber einen kleinen satz auch gefreut haette.

unbekannten gruss
ralf
 



 
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