Schnipp!

Schnipp!

Es war immer schön, sich beim alten Fritzsch die Haare schneiden zu lassen. Seit fünfzig Jahren war seine Frisierstube unverändert, und betrat man sie, saß der alte Mann zuverlässig auf einem Holzstuhl und las die Bildzeitung. Da er allein arbeitete, wurde nur an einem Platz geschnitten, das war auch der einzige Platz, zu dem der Duschschlauch langte, der aus der Wand kam. Während einer Sitzung rauchte Fritzsch zwei oder drei Zigaretten, und unablässig hustete er. Es war nicht zu überhören, dass dabei mächtige Schleimbrocken frei wurden. Als ich ihn einmal auf einen möglichen Kausalzusammenhang zwischen dem Rauchen und dem Husten ansprach, erwiderte er erstaunt: „Aber jeder hustet doch mal“ und fuhr ungerührt mit seiner Arbeit fort.
Leider schnitt Fritzsch nicht gut. Und als ich heute die Frühlingssonne meine Nase kitzeln spürte, die lachenden Gesichter der Menschen erblickte, zugleich an den trüben, dichten Filz auf meinem Kopf dachte, da beschloss ich, es einmal mit einem anderen Friseur zu versuchen.

Der Salon, den ich betrete, wirkt nur unwesentlich jünger als Fritzschens. Die einzige, etwa 60jährige Friseurin ist gerade dabei, den Schnitt eines jungen Mannes zu beenden. Sie ist stämmig, hat ein großes viereckiges Gesicht und trägt die grauen Haare kurz.
„Und jetzt fange ich noch mal ganz von vorn an...“, sagt sie, während er aufsteht. „Halten Sie die Ohren steif“, wünscht er ihr im Gehen, nun bin ich dran. Eine sehr alte Frau mit gelben Haaren kommt hinein, sie begrüßt die Friseurin und geht in einen Raum, dessen Eingang von einem Paravent verdeckt ist. „Machen Sie sich einen Kaffee, Frau Frenz“, ruft die Friseurin hinüber. „Milch ist im Kühlschrank!“

„Alles weg“, sage ich, und sie beginnt. Sie plaudert, über den Frühling, heute habe sie einen reinen Männertag gehabt, im Frühling kämen sie aus ihren Löchern gekrochen. Ich fühle mich ertappt.
Frau Frenz erscheint wieder und setzt sich in einen Stuhl, sie bedauert, dass meine schönen Locken fallen werden. Die Friseurin spricht jetzt nur noch mit Frau Frenz. Seit 8 Uhr sei sie heute im Laden, zuhause habe sie es nicht mehr ausgehalten. Ja, sie würde verbrannt werden, bald würden wohl alle verbrannt, es sei ja auf den Friedhöfen überhaupt kein Platz mehr. Ob sie noch mal jemanden finde, sagt die Friseurin im Plauderton, das bezweifle sie, man müsse sich ja auch sympathisch sein, mit dem anderen klar kommen.
Zu mir gewandt, erklärt sie: „Mir ist die andere Friseurin weggestorben, letzten Freitag, in der Nacht auf Samstag. Das ist schon die zweite, und bei beiden Herzinfarkt, ich weiß ja auch nicht, kommt das von dem Salon, oder was?“
Mit Frau Frenz redet sie nun übers Wetter, heiß sei es heute geworden, das verkrafte ja nicht jeder, vielleicht sei der Umschwung auch zuviel gewesen... „Frau Frenz!“, ruft sie, „gehen Sie sich doch ihren Kaffee holen, ich brauche hier noch ein wenig, trinken Sie ruhig schon einen Kaffe! Milch ist im Kühlschrank!“

Ein älterer Mann mit einem runden, roten Gesicht kommt mit einem Kasten Mineralwasser herein. Er nimmt die Friseurin lange in den Arm. Schnell stellt sich heraus, dass er der Ehemann der Verstorbenen ist. Die Bestattung sei am Samstag, sagt er und klärt die Friseurin in gelassenem Ton über die Einzelheiten auf, während er die Kiste hinter den Paravent schleppt. „Warte noch kurz“, ruft die Friseurin, doch er hat keine Zeit. Sie wirft die Schere auf den Tisch und eilt ihm hinterher.
„Ich habe hier noch ein paar Schuhe, ich kann die nicht anziehen, kannst du sie nicht...“ und nun beginnt die Friseurin hinter dem Paravent zu schluchzen, stößt undeutliche Worte aus, weint immer lauter. Die leise Stimme des Mannes versucht sie zu beruhigen, doch sie kann nicht mehr an sich halten.
Als sie wieder hervor kommt, schnieft sie noch zwei Mal und verfällt dann wieder in ihren leutseligen Tonfall. Sie fordert Frau Frenz auf, sich doch nun wirklich ihren Kaffee zu holen, und endlich erhebt sich die alte Dame und geht nach hinten. Der Mann steht jetzt wieder im Salon und verabschiedet sich. Sie würden es schon schaffen.
„Ja, aber sie hat uns doch allein gelassen“, die Friseurin ist den Tränen wieder nahe, und plötzlich schreit sie: „Warum hat sie uns denn allein gelassen!“
Der Mann guckt sie bestürzt und ratlos an. „Aber sie hat uns doch gar nicht allein gelassen“, sagt er, "schau mal, es geht weiter, das müssen wir uns sagen, du siehst ja, wie ich angezogen bin...“ Er weist hilflos auf seinen frappierend grellroten Pullover und die strahlend blaue Hose.
Er geht nun, es ist kurz still. „Frau Frenz?“, ruft die Friseurin nach hinten, und wenig später ruft es zurück: „Wo ist denn die Milch?“

Der Schnitt ist sehr gelungen. Jetzt kann der Frühling beginnen!
 

Markus Veith

Mitglied
Hallo, Alex !

Hm, ein wenig schade. Es fing, nach meinem Empfinden etwas holperig an. (Was war so schön daran, sich die Haare bei diesem alten Raucher und Schleimhuster schneiden zu lassen?) Aber spätestens bei zweiten ‚Milch ist im Kühlschrank!’ war ich gespannt. Ich mag Wiederholungen. Ich mag Wiederholungen. Und die Pointe am Schluss gefällt mir sehr. Aber ansonsten ließ mich am ende dein text recht alleine stehen. Vielleicht habe ich etwas verpasst? Ich habe aufgefasst, was passiert, aber warum ist es passiert und wofür der Anfang mit Fritzsch? Ich weiß, nicht jeder Text muss so etwas wie eine Botschaft haben. Aber ich fände es schön, wenn er mir etwas mehr sagen würde, als dass, was sich alternde FrisörInnen so sagen.
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 



 
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