Schräglage

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HansSchnier

Mitglied
Schräglage

Aufwachen war das schlimmste. Mittlerweile wusste er zwar, wo er war, doch immer noch fehlte jedes Zeitgefühl nach dem Öffnen der Augen. Wenn das Telefon klingelte, dann war es zu spät. Egal ob morgens oder abends, ob vor dem Früh- oder Nachtdienst. Dann war ein Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung, und es drohte Ärger. Ein Bullauge hatte er nicht. Und Deckenröhren verraten keine Tageszeit. An sich war es auch egal, wie spät es war. Jeder Tag, jeder Dienst war austauschbar. Hauptsache man erschien pünktlich auf der Brücke. Dann riss einen das Telefon auch nicht aus dem Schlaf.

Die Decke der Kabine war mit zwölf Panelen verkleidet. Zwölf Panelen Langeweile. 38 schwer entflammbare Platten bildeten die Wände. 38 schwer entflammbare Platten Tristesse. Bedrückend: Nicht mal die Platten und Panelen konnte er zum Zeitvertreib noch zählen.

„Kein Nautiker schreibt mehr als eine Bewerbung“, hatte der Studienberater gesagt und routiniert zwei, vom vielen Erzählen leicht abgenutzte Seemannsgeschichten aus seiner Zeit auf „dem Kutter“ zum Besten gegeben. Das abschließende Händeschütteln, der Berater hatte gewaltige Pranken, versiegelte ein verbindliches Grinsen und die Worte „Sie werden es nicht bereuen.“
„Nautiker werden immer gesucht“, hatte der Onkel (er hatte es gerade mal drei Wochen als Koch auf einem Frachter ausgehalten) den Eltern eingeredet. Echter Kerl, Freiheit, Welt sehen, bla, bla, bla.

Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpanelen. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
Das Handy hatte auf See grundsätzlich keinen Empfang. Aber wen auch anrufen? Das Aus von Claudia passte in 160 Zeichen. Warum einen teuren Anruf investieren, wenn eine Sache keine Zukunft hat. Peinliches Gestammel, Vorwürfe, Tut mir leid, ja ja. Lieber 160 Zeichen, die sich zu den 38 Wandplatten, zwölf Deckenpanelen und zwei Türen gesellten. Er mittendrin, irgend ein anderer in Claudia.

Tatsächlich hatte eine Bewerbung gereicht. Seine 1,3 hatte bei der Unterschrift niemanden interessiert. Mama hatte vor Stolz geweint, Vater ihm auf die Schulter geklopft. „Ich wusste es doch, Junge!“ Seine zwei Schulterstreifen lagen nun inmitten der 38 Wandplatten, zwölf Deckenpanelen, zwei Türen und neben den 160 Zeichen. Zwei Streifen Fehlentscheidung.
31 und 20 Prozent. So hoch war die Aidsrate in den Ländern, die sie derzeit anfuhren. Er hatte vergessen, wo es genau 31 und wo nur 20 Prozent waren. Er rechnete einfach für beide Länder mit 25,5 Prozent. Hafennutten hatte er bisher keine gesehen – es gab sie in Erzählungen. Er hatte nicht nach welchen gesucht. Vielleicht dran gedacht, nach der SMS. 25,5 Prozent gegen 160 Zeichen unterhalb von zwölf Deckenpanelen, inmitten der 38 Wandplatten. Was helfen da zwei Streifen und eine 1,3?

Siebenmal dröhnte es kurz aus dem Lautsprecher. Ein langer Ton folgte. Generalalarm. Es war kein Drill angesetzt. Ein tiefes Scheppern erfüllte das Schiff. Das war keine der regelmäßigen Übungen. Schritte im Gang. Hektische Schritte. Er zählte die Deckenpanelen ein weiteres Mal nach, es waren plötzlich dreizehn. Konnte das sein? Er zählte erneut und kam wieder auf die so oft erzählten zwölf. Alles beim Alten. Sieben kurz, einmal lang, diesmal gefolgt von Durchsagen im schlechten Englisch. Der Kapitän.

Er griff zur Schwimmweste auf dem Schrank, suchte, wie gelernt, seinen Pulli und legte die Schulterstreifen an. Die 160 Zeichen ließ er liegen, schaute aber noch einmal auf Claudias Nackt-MMS. Zwei Brüste auf dem Display, ein nervtötendes Dauerläuten aus dem Lautsprecher. Abandon-Ship-Alarm. Zwei Türen. Nicht die ins Bad nehmen! Ein Knarksen, wie man es mit 4000 Metern 12 Grad kaltem Wasser unter sich eigentlich nicht hören will. Eigentlich.

Unschlüssig verließ er seine Kabine. Viel zu spät. Das Schiff sackte zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht und prallte mit der Schulter gegen die Wand des schmalen Ganges vor seiner Kabine. Die Wandplatten waren die gleichen wie in seiner Kabine. Wie viele es hier waren, wusste er nicht. Er überlegte kurz, ob er sie zählen sollte. Doch ein weitere Schlag warf ihn wiederholt gegen die Wand. Das Material der Platte federte den Aufprall ab. Durchsagen knisterten aus den Lautsprechern. Drei der sechs Feuerzonen des Schiffes waren abgesperrt. Er hätte längst an seiner Station sein müssen. Er war Offizier: Zwei Streifen, 1,3, eine Bewerbung. Jetzt stand er in einer der abgesperrten Feuerzonen, es war Nummer Vier. Ein weiteres Knarzen erschütterte das Schiff. Ein weiteres Geräusch, das man mit 4000 Metern Wasser unter sich nicht hören wollte. Eigentlich. Aber das war jetzt auch egal. Der Flur war mit 62 Wandplatten verkleidet – das war nicht egal. Er zählte außerdem sieben Türen und zwei Wandschränke. Das Schiff hatte jetzt wohl schon eine Schräglage von 12 Prozent. 78 Deckenpanelen zählte er. 14 Prozent Schräglage. Er hatte sich mittlerweile gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt. Stehen war zu unsicher. Es zog Rauch in den Gang. Er schaute auf den Rauchverbotaufkleber und steckte sich eine Zigarette an.

18 Prozent Schräglage waren auf den ersten Blick immer noch besser als 31 Prozent Aidsrate, zumindest wenn man die nackten Zahlen gegenüberstellte. Doch mit 4000 Metern Wasser unter sich verloren Zahlen ihren Wert. Der Rauch, der anders schmeckte als der der Zigarette, brannte in den Augen und machte langsam müde. Wie lange hatte er schon keinen vernünftigen Espresso mehr getrunken? Die Zigarette schmeckte nun auch nach Rauchgas. Müde. 160 Deckenpanelen. 4000 Zeichen. Zwei Wandplatten. Davon eine ins Klo. 20 Prozent Bewerbung. Neue Durchsagen knarzten Abwechslung. Durchsagen jenseits der Panelen, Platten, Türen und Zeichen. Flammen schlugen durch die Gangtür. Das Telefon in seiner Kabine klingelte. Es war zu spät. Wenn das Telefon klingelte, war es immer zu spät.
 
A

Akirakur

Gast
100 % gelungen, und das kann ich schon nach 1 mal Lesen sagen :)

So etwa beim 5. Absatz fing ich an, mir Sorgen zu machen, dass die Geschichte beim Zählzwang kleben bleibt, aber diese Untiefe hast Du mit Bravour umschifft und am Ende noch fein parodiert. Die Schräglage ist, wie Du zeigst, eine legitime, gar amüsante Perspektive, die Du mit einem pointierten Schlusssatz wieder ins Lot bringst.

Gern gelesen, Spaß gehabt.

Gruß
Akirakur
 
K

KaGeb

Gast
... aber er wäre (m.M.n.) authentischer im Präsens.
Ein guter Text, finde ich auch. Er könnte szenisch packen, aufwühlen, wenn ein paar Hinweise auf die Zählwut vorhanden wären ...
Sehr gern gelesen, Hans. Ein wirklich guter Text.
Könnte ein paar Verbesserungsvorschläge machen, sofern Du magst ...?

LG, KaGeb
 
B

bluefin

Gast
paneel mit zwei ees, lieber @hans. plural: paneele. die schräglage eines schiffes misst sich in grad; ein sinkendes lass besser nicht "knarksen" (was immer das sein mag), sondern knacken (oder stöhnen, wenn ihm die luft entweicht). das mit den 30 prozent aidskranken sag besser keinem afrikaner - er wirft dir glatt an den kopf, dass du keine ahnung hast, sondern nur das nachplapperst, was in irgendwelchen reißerischen news steht.

die zeiten einhalten. wenn du in "alles beim alten" alten groß schreibst, meint man, dass alles beim kapitän ist. was "versiegelt" ein verbindliches grinsen? "die welt" ist nicht die koje des protagonisten, sondern dessen welt, wobei sich der leser aber fragt, was dann das meer, der himmel und das deck wohl sein mögen.

undsoweiter.

die grundidee deines textes gefällt mir sehr gut: ein suchender landet statt in der grenzenlosen freiheit im finsteren loch einer zwangsneurose und wird von ihr verschlungen.

weniger pathetische wiederholungen, insgesamt ein bisschen sorgfältiger geschrieben, ein kleiner hint auf die ursache des weltschmerzes des prot, und schon wärs insgesamt was wohlgelungenes.

tipp: ruhen lassen und später nochmal vornehmen.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

HansSchnier

Mitglied
Schräglage

Aufwachen war das schlimmste. Mittlerweile wusste er zwar, wo er war, doch immer noch fehlte jedes Zeitgefühl nach dem Öffnen der Augen. Wenn das Telefon klingelte, dann war es zu spät. Egal ob morgens oder abends, ob vor dem Früh- oder Nachtdienst. Dann war ein Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung, und es drohte Ärger. Ein Bullauge hatte er nicht. Und Deckenröhren verraten keine Tageszeit. An sich war es auch egal, wie spät es war. Jeder Tag, jeder Dienst war austauschbar. Hauptsache man erschien pünktlich auf der Brücke. Dann riss einen das Telefon auch nicht aus dem Schlaf.

Die Decke der Kabine war mit zwölf Paneelen verkleidet. Zwölf Paneelen Langeweile. 38 schwer entflammbare Platten bildeten die Wände. 38 schwer entflammbare Platten Tristesse. Bedrückend: Nicht mal die Platten und Paneelen konnte er zum Zeitvertreib noch zählen.

„Kein Nautiker schreibt mehr als eine Bewerbung“, hatte der Studienberater gesagt und routiniert zwei, vom vielen Erzählen leicht abgenutzte Seemannsgeschichten aus seiner Zeit auf „dem Kutter“ zum Besten gegeben. Das abschließende Händeschütteln, der Berater hatte gewaltige Pranken, versiegelte ein verbindliches Grinsen und die Worte „Sie werden es nicht bereuen.“
„Nautiker werden immer gesucht“, hatte der Onkel (er hatte es gerade mal drei Wochen als Koch auf einem Frachter ausgehalten) den Eltern eingeredet. Echter Kerl, Freiheit, Welt sehen, bla, bla, bla.

Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpaneelen. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
Das Handy hatte auf See grundsätzlich keinen Empfang. Aber wen auch anrufen? Das Aus von Claudia passte in 160 Zeichen. Warum einen teuren Anruf investieren, wenn eine Sache keine Zukunft hatte. Peinliches Gestammel, Vorwürfe, Tut mir leid, ja ja. Lieber 160 Zeichen, die sich zu den 38 Wandplatten, zwölf Deckenpaneelen und zwei Türen gesellten. Er mittendrin, irgend ein anderer in Claudia.

Tatsächlich hatte eine Bewerbung gereicht. Seine 1,3 hatte bei der Unterschrift niemanden interessiert. Mama hatte vor Stolz geweint, Vater ihm auf die Schulter geklopft. „Ich wusste es doch, Junge!“ Seine zwei Schulterstreifen lagen nun inmitten der 38 Wandplatten, zwölf Deckenpaneelen, zwei Türen und neben den 160 Zeichen. Zwei Streifen Fehlentscheidung.
31 und 20 Prozent. So hoch war die Aidsrate in den Ländern, die sie derzeit anfuhren. Er hatte vergessen, wo es genau 31 und wo nur 20 Prozent waren. Er rechnete einfach für beide Länder mit 25,5 Prozent. Hafennutten hatte er bisher keine gesehen – es gab sie in Erzählungen. Er hatte nicht nach welchen gesucht. Vielleicht dran gedacht, nach der SMS. 25,5 Prozent gegen 160 Zeichen unterhalb von zwölf Deckenpaneelen, inmitten der 38 Wandplatten. Was halfen da zwei Streifen und eine 1,3?

Siebenmal dröhnte es kurz aus dem Lautsprecher. Ein langer Ton folgte. Generalalarm. Es war kein Drill angesetzt. Ein tiefes Scheppern erfüllte das Schiff. Das war keine der regelmäßigen Übungen. Schritte im Gang. Hektische Schritte. Er zählte die Deckenpaneelen ein weiteres Mal nach, es waren plötzlich dreizehn. Konnte das sein? Er zählte erneut und kam wieder auf die so oft erzählten zwölf. Alles beim alten. Sieben kurz, einmal lang, diesmal gefolgt von Durchsagen in schlechtem Englisch. Der Kapitän.

Er griff zur Schwimmweste auf dem Schrank, suchte, wie gelernt, seinen Pulli und legte die Schulterstreifen an. Die 160 Zeichen ließ er liegen, schaute aber noch einmal auf Claudias Nackt-MMS. Zwei Brüste auf dem Display, ein nervtötendes Dauerläuten aus dem Lautsprecher. Abandon-Ship-Alarm. Zwei Türen. Nicht die ins Bad nehmen! Ein Knarksen, wie man es mit 4000 Metern 12 Grad kaltem Wasser unter sich eigentlich nicht hören wollte. Eigentlich.

Unschlüssig verließ er seine Kabine. Viel zu spät. Das Schiff sackte zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht und prallte mit der Schulter gegen die Wand des schmalen Ganges vor seiner Kabine. Die Wandplatten waren die gleichen wie in seiner Kabine. Wie viele es hier waren, wusste er nicht. Er überlegte kurz, ob er sie zählen sollte. Doch ein weitere Schlag warf ihn wiederholt gegen die Wand. Das Material der Platte federte den Aufprall ab. Durchsagen knisterten aus den Lautsprechern. Drei der sechs Feuerzonen des Schiffes waren abgesperrt. Er hätte längst an seiner Station sein müssen. Er war Offizier: Zwei Streifen, 1,3, eine Bewerbung. Jetzt stand er in einer der abgesperrten Feuerzonen, es war Nummer Vier. Ein weiteres Knarzen erschütterte das Schiff. Ein weiteres Geräusch, das man mit 4000 Metern Wasser unter sich nicht hören wollte. Eigentlich. Aber das war jetzt auch egal. Der Flur war mit 62 Wandplatten verkleidet – das war nicht egal. Er zählte außerdem sieben Türen und zwei Wandschränke. Das Schiff hatte jetzt wohl schon eine Schräglage von 12 Grad. 78 Deckenpaneelen zählte er. 14 Grad Schräglage. Er hatte sich mittlerweile gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt. Stehen war zu unsicher. Es zog Rauch in den Gang. Er schaute auf den Rauchverbotaufkleber und steckte sich eine Zigarette an.

18 Grad Schräglage waren auf den ersten Blick immer noch besser als 31 Prozent Aidsrate, zumindest wenn man die nackten Zahlen gegenüberstellte. Doch mit 4000 Metern Wasser unter sich verloren Zahlen ihren Wert. Der Rauch, der anders schmeckte als der der Zigarette, brannte in den Augen und machte langsam müde. Wie lange hatte er schon keinen vernünftigen Espresso mehr getrunken? Die Zigarette schmeckte nun auch nach Rauchgas. Müde. 160 Deckenpaneelen. 4000 Zeichen. Zwei Wandplatten. Davon eine ins Klo. 20 Prozent Bewerbung. Neue Durchsagen knarzten Abwechslung. Durchsagen jenseits der Paneelen, Platten, Türen und Zeichen. Flammen schlugen durch die Gangtür. Das Telefon in seiner Kabine klingelte. Es war zu spät. Wenn das Telefon klingelte, war es immer zu spät.
 

HansSchnier

Mitglied
Schräglage

Aufwachen war das schlimmste. Mittlerweile wusste er zwar, wo er war, doch immer noch fehlte jedes Zeitgefühl nach dem Öffnen der Augen. Wenn das Telefon klingelte, dann war es zu spät. Egal ob morgens oder abends, ob vor dem Früh- oder Nachtdienst. Dann war ein Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung, und es drohte Ärger. Ein Bullauge hatte er nicht. Und Deckenröhren verraten keine Tageszeit. An sich war es auch egal, wie spät es war. Jeder Tag, jeder Dienst war austauschbar. Hauptsache man erschien pünktlich auf der Brücke. Dann riss einen das Telefon auch nicht aus dem Schlaf.

Die Decke der Kabine war mit zwölf Paneelen verkleidet. Zwölf Paneele Langeweile. 38 schwer entflammbare Platten bildeten die Wände. 38 schwer entflammbare Platten Tristesse. Bedrückend: Nicht mal die Platten und Paneele konnte er zum Zeitvertreib noch zählen.

„Kein Nautiker schreibt mehr als eine Bewerbung“, hatte der Studienberater gesagt und routiniert zwei, vom vielen Erzählen leicht abgenutzte Seemannsgeschichten aus seiner Zeit auf „dem Kutter“ zum Besten gegeben. Das abschließende Händeschütteln, der Berater hatte gewaltige Pranken, versiegelte ein verbindliches Grinsen und die Worte „Sie werden es nicht bereuen.“
„Nautiker werden immer gesucht“, hatte der Onkel (er hatte es gerade mal drei Wochen als Koch auf einem Frachter ausgehalten) den Eltern eingeredet. Echter Kerl, Freiheit, Welt sehen, bla, bla, bla.

Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpaneele. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
Das Handy hatte auf See grundsätzlich keinen Empfang. Aber wen auch anrufen? Das Aus von Claudia passte in 160 Zeichen. Warum einen teuren Anruf investieren, wenn eine Sache keine Zukunft hatte. Peinliches Gestammel, Vorwürfe, Tut mir leid, ja ja. Lieber 160 Zeichen, die sich zu den 38 Wandplatten, zwölf Deckenpaneelen und zwei Türen gesellten. Er mittendrin, irgend ein anderer in Claudia.

Tatsächlich hatte eine Bewerbung gereicht. Seine 1,3 hatte bei der Unterschrift niemanden interessiert. Mama hatte vor Stolz geweint, Vater ihm auf die Schulter geklopft. „Ich wusste es doch, Junge!“ Seine zwei Schulterstreifen lagen nun inmitten der 38 Wandplatten, zwölf Deckenpaneele, zwei Türen und neben den 160 Zeichen. Zwei Streifen Fehlentscheidung.
31 und 20 Prozent. So hoch war die Aidsrate in den Ländern, die sie derzeit anfuhren. Er hatte vergessen, wo es genau 31 und wo nur 20 Prozent waren. Er rechnete einfach für beide Länder mit 25,5 Prozent. Hafennutten hatte er bisher keine gesehen – es gab sie in Erzählungen. Er hatte nicht nach welchen gesucht. Vielleicht dran gedacht, nach der SMS. 25,5 Prozent gegen 160 Zeichen unterhalb von zwölf Deckenpaneelen, inmitten der 38 Wandplatten. Was halfen da zwei Streifen und eine 1,3?

Siebenmal dröhnte es kurz aus dem Lautsprecher. Ein langer Ton folgte. Generalalarm. Es war kein Drill angesetzt. Ein tiefes Scheppern erfüllte das Schiff. Das war keine der regelmäßigen Übungen. Schritte im Gang. Hektische Schritte. Er zählte die Deckenpaneele ein weiteres Mal nach, es waren plötzlich dreizehn. Konnte das sein? Er zählte erneut und kam wieder auf die so oft erzählten zwölf. Alles beim alten. Sieben kurz, einmal lang, diesmal gefolgt von Durchsagen in schlechtem Englisch. Der Kapitän.

Er griff zur Schwimmweste auf dem Schrank, suchte, wie gelernt, seinen Pulli und legte die Schulterstreifen an. Die 160 Zeichen ließ er liegen, schaute aber noch einmal auf Claudias Nackt-MMS. Zwei Brüste auf dem Display, ein nervtötendes Dauerläuten aus dem Lautsprecher. Abandon-Ship-Alarm. Zwei Türen. Nicht die ins Bad nehmen! Ein Knarksen, wie man es mit 4000 Metern 12 Grad kaltem Wasser unter sich eigentlich nicht hören wollte. Eigentlich.

Unschlüssig verließ er seine Kabine. Viel zu spät. Das Schiff sackte zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht und prallte mit der Schulter gegen die Wand des schmalen Ganges vor seiner Kabine. Die Wandplatten waren die gleichen wie in seiner Kabine. Wie viele es hier waren, wusste er nicht. Er überlegte kurz, ob er sie zählen sollte. Doch ein weitere Schlag warf ihn wiederholt gegen die Wand. Das Material der Platte federte den Aufprall ab. Durchsagen knisterten aus den Lautsprechern. Drei der sechs Feuerzonen des Schiffes waren abgesperrt. Er hätte längst an seiner Station sein müssen. Er war Offizier: Zwei Streifen, 1,3, eine Bewerbung. Jetzt stand er in einer der abgesperrten Feuerzonen, es war Nummer Vier. Ein weiteres Knarzen erschütterte das Schiff. Ein weiteres Geräusch, das man mit 4000 Metern Wasser unter sich nicht hören wollte. Eigentlich. Aber das war jetzt auch egal. Der Flur war mit 62 Wandplatten verkleidet – das war nicht egal. Er zählte außerdem sieben Türen und zwei Wandschränke. Das Schiff hatte jetzt wohl schon eine Schräglage von 12 Grad. 78 Deckenpaneele zählte er. 14 Grad Schräglage. Er hatte sich mittlerweile gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt. Stehen war zu unsicher. Es zog Rauch in den Gang. Er schaute auf den Rauchverbotaufkleber und steckte sich eine Zigarette an.

18 Grad Schräglage waren auf den ersten Blick immer noch besser als 31 Prozent Aidsrate, zumindest wenn man die nackten Zahlen gegenüberstellte. Doch mit 4000 Metern Wasser unter sich verloren Zahlen ihren Wert. Der Rauch, der anders schmeckte als der der Zigarette, brannte in den Augen und machte langsam müde. Wie lange hatte er schon keinen vernünftigen Espresso mehr getrunken? Die Zigarette schmeckte nun auch nach Rauchgas. Müde. 160 Deckenpaneele. 4000 Zeichen. Zwei Wandplatten. Davon eine ins Klo. 20 Prozent Bewerbung. Neue Durchsagen knarzten Abwechslung. Durchsagen jenseits der Paneele, Platten, Türen und Zeichen. Flammen schlugen durch die Gangtür. Das Telefon in seiner Kabine klingelte. Es war zu spät. Wenn das Telefon klingelte, war es immer zu spät.
 

HansSchnier

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Schräglage

Aufwachen war das schlimmste. Mittlerweile wusste er zwar, wo er war, doch immer noch fehlte jedes Zeitgefühl nach dem Öffnen der Augen. Wenn das Telefon klingelte, dann war es zu spät. Egal ob morgens oder abends, ob vor dem Früh- oder Nachtdienst. Dann war ein Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung, und es drohte Ärger. Ein Bullauge hatte er nicht. Und Deckenröhren verraten keine Tageszeit. An sich war es auch egal, wie spät es war. Jeder Tag, jeder Dienst war austauschbar. Hauptsache man erschien pünktlich auf der Brücke. Dann riss einen das Telefon auch nicht aus dem Schlaf.

Die Decke der Kabine war mit zwölf Paneelen verkleidet. Zwölf Paneele Langeweile. 38 schwer entflammbare Platten bildeten die Wände. 38 schwer entflammbare Platten Tristesse. Bedrückend: Nicht mal die Platten und Paneele konnte er zum Zeitvertreib noch zählen.

„Kein Nautiker schreibt mehr als eine Bewerbung“, hatte der Studienberater gesagt und routiniert zwei, vom vielen Erzählen leicht abgenutzte Seemannsgeschichten aus seiner Zeit auf „dem Kutter“ zum Besten gegeben. Das abschließende Händeschütteln, der Berater hatte gewaltige Pranken, versiegelte ein verbindliches Grinsen und die Worte „Sie werden es nicht bereuen.“
„Nautiker werden immer gesucht“, hatte der Onkel (er hatte es gerade mal drei Wochen als Koch auf einem Frachter ausgehalten) den Eltern eingeredet. Echter Kerl, Freiheit, Welt sehen, bla, bla, bla.

Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpaneele. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
Das Handy hatte auf See grundsätzlich keinen Empfang. Aber wen auch anrufen? Das Aus von Claudia passte in 160 Zeichen. Warum einen teuren Anruf investieren, wenn eine Sache keine Zukunft hatte. Peinliches Gestammel, Vorwürfe, Tut mir leid, ja ja. Lieber 160 Zeichen, die sich zu den 38 Wandplatten, zwölf Deckenpaneelen und zwei Türen gesellten. Er mittendrin, irgend ein anderer in Claudia.

Tatsächlich hatte eine Bewerbung gereicht. Seine 1,3 hatte bei der Unterschrift niemanden interessiert. Mama hatte vor Stolz geweint, Vater ihm auf die Schulter geklopft. „Ich wusste es doch, Junge!“ Seine zwei Schulterstreifen lagen nun inmitten der 38 Wandplatten, zwölf Deckenpaneele, zwei Türen und neben den 160 Zeichen. Zwei Streifen Fehlentscheidung.
31 und 20 Prozent. So hoch war die Aidsrate in den Ländern, die sie derzeit anfuhren. Er hatte vergessen, wo es genau 31 und wo nur 20 Prozent waren. Er rechnete einfach für beide Länder mit 25,5 Prozent. Hafennutten hatte er bisher keine gesehen – es gab sie in Erzählungen. Er hatte nicht nach welchen gesucht. Vielleicht dran gedacht, nach der SMS. 25,5 Prozent gegen 160 Zeichen unterhalb von zwölf Deckenpaneelen, inmitten der 38 Wandplatten. Was halfen da zwei Streifen und eine 1,3?

Siebenmal dröhnte es kurz aus dem Lautsprecher. Ein langer Ton folgte. Generalalarm. Es war kein Drill angesetzt. Ein tiefes Scheppern erfüllte das Schiff. Das war keine der regelmäßigen Übungen. Schritte im Gang. Hektische Schritte. Er zählte die Deckenpaneele ein weiteres Mal nach, es waren plötzlich dreizehn. Konnte das sein? Er zählte erneut und kam wieder auf die so oft erzählten zwölf. Alles beim alten. Sieben kurz, einmal lang, diesmal gefolgt von Durchsagen in schlechtem Englisch. Der Kapitän.

Er griff zur Schwimmweste auf dem Schrank, suchte, wie gelernt, seinen Pulli und legte die Schulterstreifen an. Die 160 Zeichen ließ er liegen, schaute aber noch einmal auf Claudias Nackt-MMS. Zwei Brüste auf dem Display, ein nervtötendes Dauerläuten aus dem Lautsprecher. Abandon-Ship-Alarm. Zwei Türen. Nicht die ins Bad nehmen! Ein Knarksen, wie man es mit 4000 Metern 12 Grad kaltem Wasser unter sich eigentlich nicht hören wollte. Eigentlich.

Unschlüssig verließ er seine Kabine. Viel zu spät. Das Schiff sackte zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht und prallte mit der Schulter gegen die Wand des schmalen Ganges vor seiner Kabine. Die Wandplatten waren die gleichen wie in seiner Kabine. Wie viele es hier waren, wusste er nicht. Er überlegte kurz, ob er sie zählen sollte. Doch ein weitere Schlag warf ihn wiederholt gegen die Wand. Das Material der Platte federte den Aufprall ab. Durchsagen knisterten aus den Lautsprechern. Drei der sechs Feuerzonen des Schiffes waren abgesperrt. Er hätte längst an seiner Station sein müssen. Er war Offizier: Zwei Streifen, 1,3, eine Bewerbung. Jetzt stand er in einer der abgesperrten Feuerzonen, es war Nummer Vier. Ein weiteres Knarzen erschütterte das Schiff. Ein weiteres Geräusch, das man mit 4000 Metern Wasser unter sich nicht hören wollte. Eigentlich. Aber das war jetzt auch egal. Der Flur war mit 62 Wandplatten verkleidet – das war nicht egal. Er zählte außerdem sieben Türen und zwei Wandschränke. Das Schiff hatte jetzt wohl schon eine Schräglage von 12 Grad. 78 Deckenpaneele zählte er. 14 Grad Schräglage. Er hatte sich mittlerweile gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt. Stehen war zu unsicher. Es zog Rauch in den Gang. Er schaute auf den Rauchverbotaufkleber und steckte sich eine Zigarette an.

18 Grad Schräglage waren auf den ersten Blick immer noch besser als 31 Prozent Aidsrate, zumindest wenn man die nackten Zahlen gegenüberstellte. Doch mit 4000 Metern Wasser unter sich verloren Zahlen ihren Wert. Der Rauch, der anders schmeckte als der der Zigarette, brannte in den Augen und machte langsam müde. Wie lange hatte er schon keinen vernünftigen Espresso mehr getrunken? Die Zigarette schmeckte nun auch nach Rauchgas. Müde. 160 Deckenpaneele. 4000 Zeichen. Zwei Wandplatten. Davon eine ins Klo. 20 Prozent Bewerbung. Neue Durchsagen knisterten Abwechslung. Durchsagen jenseits der Paneele, Platten, Türen und Zeichen. Flammen schlugen durch die Gangtür. Das Telefon in seiner Kabine klingelte. Es war zu spät. Wenn das Telefon klingelte, war es immer zu spät.
 

HansSchnier

Mitglied
@Akirakur und nachts:
vielen dank für euer lob. hat mich sehr gefreut.

@kageb
anfangs war der text sogar im präsens geschrieben. aber er wirkte in meinen augen nicht. er soll szenisch auch nicht unbedingt aufwühlen, denn selbst das schiffsunglück geht in in der zahlenfixierten eintönigkeit, in der der protagonist gefangen ist, unter.
ich würde mich über vorschläge freuen.

@bluefin

die ganzen unsauberkeiten, die du aufgelistest hast, sind mir sehr peinlich. wollte den text noch schnell online stellen, bevor ich eine verabredung hatte. die schlussredaktion musste da zu sehr leiden. ist mir sehr unangenehm. gleichzeitig bin ich dir für deine mühen dankbar.

deine kritik zu der aidsrate kann ich hingegen nicht wirklich nachvollziehen. die zahlen entstammen nicht reißerischen news, sondern können im internet bei seriösen quellen überprüft werden. bewusst habe ich auch keine länder genannt, da es sich lediglich um einen randaspekt handelt.

zu dem welt-aspekt: der text ist in personaler erzählform geschrieben. die welt ist damit automatisch seine welt. meer, himmel und deck müssten tatsächlich abgefangen werden.

mich würde sehr interessieren, welche wiederholungen du pathetisch findest?

ich danke euch allen, für die auseinandersetzung mit dem text

liebe grüße
 
B

bluefin

Gast
beispiele für pahetische wortwiederholungen, lieber hans:
Aufwachen war das schlimmste. Mittlerweile wusste er zwar, wo er war, doch immer noch fehlte jedes Zeitgefühl nach dem Öffnen der Augen. Wenn das Telefon klingelte, dann war es zu spät. Egal ob [blue]morgens oder abends[/blue], ob vor dem [blue]Früh- oder Nachtdienst[/blue]. Dann war ein Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung, und es drohte Ärger. Ein Bullauge hatte er nicht. Und Deckenröhren verraten keine Tageszeit. An sich war es auch egal, wie spät es war. [blue]Jeder Tag, jeder Dienst [/blue]war austauschbar. Hauptsache man erschien pünktlich auf der Brücke. Dann riss einen das Telefon auch nicht aus dem Schlaf.

Die Decke der Kabine war mit [blue]zwölf Paneelen [/blue]verkleidet. [blue]Zwölf Paneele [/blue]Langeweile. 38 [blue]schwer entflammbare Platten[/blue] bildeten die Wände. 38 [blue]schwer entflammbare Platten [/blue]Tristesse. Bedrückend: Nicht mal die Platten und Paneele konnte er zum Zeitvertreib noch zählen.

„Kein Nautiker schreibt mehr als eine Bewerbung“, hatte der Studienberater gesagt und routiniert zwei, vom vielen Erzählen leicht abgenutzte Seemannsgeschichten aus seiner Zeit auf „dem Kutter“ zum Besten gegeben. Das abschließende Händeschütteln, der Berater hatte gewaltige Pranken, versiegelte ein verbindliches Grinsen und die Worte „Sie werden es nicht bereuen.“
„Nautiker werden immer gesucht“, hatte der Onkel (er hatte es gerade mal drei Wochen als Koch auf einem Frachter ausgehalten) den Eltern eingeredet. Echter Kerl, Freiheit, Welt sehen, bla, bla, bla.

Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpaneele. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
Das Handy hatte auf See grundsätzlich keinen Empfang. Aber wen auch anrufen? Das Aus von Claudia passte in 160 Zeichen. Warum einen teuren Anruf investieren, wenn eine Sache keine Zukunft hatte. Peinliches Gestammel, Vorwürfe, Tut mir leid, ja ja. Lieber 160 Zeichen, die sich zu den 38 Wandplatten, zwölf Deckenpaneelen und zwei Türen gesellten. Er mittendrin, irgend ein anderer in Claudia.

Tatsächlich hatte eine Bewerbung gereicht. Seine 1,3 hatte bei der Unterschrift niemanden interessiert. Mama hatte vor Stolz geweint, Vater ihm auf die Schulter geklopft. „Ich wusste es doch, Junge!“ Seine [blue]zwei Schulterstreifen [/blue]lagen nun inmitten der 38 Wandplatten, zwölf Deckenpaneele, zwei Türen und neben den 160 Zeichen. [blue]Zwei Streifen [/blue]Fehlentscheidung.
[blue]31 und 20 Prozent[/blue]. So hoch war die Aidsrate in den Ländern, die sie derzeit anfuhren. Er hatte vergessen, wo es genau [blue]31 und wo nur 20 Prozent [/blue]waren. Er rechnete einfach für beide Länder mit 25,5 Prozent. Hafennutten hatte er bisher keine gesehen – es gab sie in Erzählungen. Er hatte nicht nach welchen gesucht. Vielleicht dran gedacht, nach der SMS. 25,5 Prozent gegen 160 Zeichen unterhalb von zwölf Deckenpaneelen, inmitten der 38 Wandplatten. Was halfen da zwei Streifen und eine 1,3?

Siebenmal dröhnte es kurz aus dem Lautsprecher. Ein langer Ton folgte. Generalalarm. Es war kein Drill angesetzt. Ein tiefes Scheppern erfüllte das Schiff. Das war keine der regelmäßigen Übungen. [blue]Schritte im [/blue]Gang. [blue]Hektische Schritte[/blue]. Er zählte die Deckenpaneele ein weiteres Mal nach, es waren plötzlich dreizehn. Konnte das sein? Er zählte erneut und kam wieder auf die so oft erzählten zwölf. Alles beim alten. Sieben kurz, einmal lang, diesmal gefolgt von Durchsagen in schlechtem Englisch. Der Kapitän.

Er griff zur Schwimmweste auf dem Schrank, suchte, wie gelernt, seinen Pulli und legte die Schulterstreifen an. Die 160 Zeichen ließ er liegen, schaute aber noch einmal auf Claudias Nackt-MMS. Zwei Brüste auf dem Display, ein nervtötendes Dauerläuten aus dem Lautsprecher. Abandon-Ship-Alarm. Zwei Türen. Nicht die ins Bad nehmen! Ein Knarksen, wie man es mit 4000 Metern 12 Grad kaltem Wasser unter sich [blue]eigentlich[/blue] nicht hören wollte. [blue]Eigentlich.[/blue]

Unschlüssig verließ er seine Kabine. Viel zu spät. Das Schiff sackte zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht und prallte mit der Schulter gegen die Wand des schmalen Ganges vor seiner Kabine. Die Wandplatten waren die gleichen wie in seiner Kabine. Wie viele es hier waren, wusste er nicht. Er überlegte kurz, ob er sie zählen sollte. Doch ein [blue]weitere[/blue] Schlag warf ihn [blue]wiederholt[/blue] gegen die Wand. Das Material der Platte federte den Aufprall ab. Durchsagen knisterten aus den Lautsprechern. Drei der sechs Feuerzonen des Schiffes waren abgesperrt. Er hätte längst an seiner Station sein müssen. Er war Offizier: Zwei Streifen, 1,3, eine Bewerbung. Jetzt stand er in einer der abgesperrten Feuerzonen, es war Nummer Vier. Ein [blue]weiteres [/blue]Knarzen erschütterte das Schiff. Ein [blue]weiteres [/blue]Geräusch, das man mit 4000 Metern Wasser unter sich nicht hören wollte. Eigentlich. Aber das war jetzt auch egal. Der Flur war mit 62 Wandplatten verkleidet – das war nicht egal. Er zählte außerdem sieben Türen und zwei Wandschränke. Das Schiff hatte jetzt wohl schon eine Schräglage von 12 Grad. 78 Deckenpaneele zählte er. 14 Grad Schräglage. Er hatte sich mittlerweile gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt. Stehen war zu unsicher. Es zog Rauch in den Gang. Er schaute auf den Rauchverbotaufkleber und steckte sich eine Zigarette an.

18 Grad Schräglage waren auf den ersten Blick immer noch besser als 31 Prozent Aidsrate, zumindest wenn man die nackten Zahlen gegenüberstellte. Doch mit 4000 Metern Wasser unter sich verloren Zahlen ihren Wert. Der Rauch, der anders schmeckte als der der Zigarette, brannte in den Augen und machte langsam müde. Wie lange hatte er schon keinen vernünftigen Espresso mehr getrunken? Die Zigarette schmeckte nun auch nach Rauchgas. Müde. 160 Deckenpaneele. 4000 Zeichen. Zwei Wandplatten. Davon eine ins Klo. 20 Prozent Bewerbung. Neue [blue]Durchsagen [/blue]knisterten Abwechslung. [blue]Durchsagen[/blue] jenseits der Paneele, Platten, Türen und Zeichen. Flammen schlugen durch die Gangtür. Das [blue]Telefon in [/blue]seiner Kabine [blue]klingelte[/blue]. [blue]Es war zu spät[/blue]. Wenn das Telefon klingelte, [blue]war es immer zu spät. [/blue]
sparsam eingesetzt sind solche stilmittel durchaus brauchbar, in der häufung aber nutzen sie sich ab und fallen lästig.

tipp: je trockener du den untergang beschreibst, desto nasser wird der leser. weniger wäre viel mehr. es reicht der tick des prot, sich an zahlenreihen entlang zu hangeln.

das land mit der höchsten aidsrate, das man mit dem schiff erreichen kann, ist südafrika mit (geschätzt) knapp über 15%. die höchste aidsrate hat swasiland (angeblich 42 %), das ist aber ein binnenland und hat keinen hafen.

der satz
Er blickte sich in der Welt um
kann so nicht stehenbleiben. es ist nicht die welt, sondern seine.

du musst kritik nicht unbedingt (sofort) umsetzen, lieber hans. es genügt doch, dass du sie zur kenntnis nimmst. was du damit machst, kannst du ganz allein entscheiden.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

HansSchnier

Mitglied
@bluefin

verzeih meine verwunderung über deine bestimmtheit.
[blue]
der satz

quote:Er blickte sich in der Welt um

kann so nicht stehenbleiben. es ist nicht die welt, sondern seine.[/blue]

ich bin mir sicher, dass der satz so stehen bleiben kann.


wir haben meinungen zu aspekten des textes, die sich deutlich unterscheiden. dies gilt etwa für den "welt"-satz als auch für die vermeintlich pathetischen wiederholungen.
doch all dies spielt sich auf der subjektiven ebene ab. ein müssen oder "nicht stehenbleiben können" ist da meines erachtens fehl am platz.

da ich länger nicht mehr im forum unterwegs war und mir die forumskultur noch nicht erneut zu eigen gemacht habe,weiß ich nicht, wie üblich es ist, auf die kritiken zu reagieren. ich sehe die gefahr, schnell beratungsresistent, empfindlich, gar all zu verliebt in das eigene Werk zu erscheinen und potentielle Kritiker schon im voraus abzuschrecken - was schade wäre. doch löste deine kritik (vielleicht war es die bestimmtheit, die darin lag, vielleicht der ton, vielleicht beides) in mir den drang aus, Stellung zu nehmen. mehr noch: mich rechtfertigen zu müssen.

auch wenn es anders erscheinen mag, bin ich dir dennoch dankbar für deine mühe; besonders für die, die du dir im ersten post gemacht hast.

liebe grüße
 

herb

Mitglied
gern gelesen

Hallo Hans, mir gefällt die Geschichte sehr gut. Je mehr Tempo hinein kommt, um so kürzer werden die Sätze. Finde ich toll man hält quasi die Luft an beim Lesen. Ich hatte auch den ersten Eindruck, es wäre noch dichter, die Story in der Gegenwart zu erzählen. Aber wenn du schreibst, du hättest es probiert, dann glaube ich dir. Vielleicht wäre es zu viel des Guten...
Die Einlassungen bluefins sind in etwa so, wie früher die Deutschlehrer die Aufsätze beurteilten. Ich weiß gar nicht, ob das gut gemeint ist...
Die ganze Geschichte ist aus der Sicht des Protagonisten erzählt und das ist okay. Er hat die Informationen über Aidsraten aufgeschnappt, für ihn ist die Welt ganz klein und bedrängt... es wäre fatal die Ratschläge bluefins aufzunehmen und nun so von oben herab (objektiv) zu erzählen. Das ist nicht literarisch, sonder allenfalls Wikepedia... bitte lass dich nicht verwirren...

guten Nacht wünscht herb
 
B

bluefin

Gast
sorry, wenn ich nochmal aufscheine und auch meinem "neuen" fan @herb widerspreche: in der story heißt's wörtlich und komplett:
Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpaneele. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
"sich in der welt umblicken" ist ein feststehender begriff. mit dieser phrase wird zum ausdruck gebracht, dass jemand nicht, wie der protagonist, nur mehr im innern lebt und dabei den zahlencode, aus dem er gerade noch besteht, allmählich durcheinanderbringt, sondern dass jemand sich in der welt umsieht. "welt" ist dabei ebenfalls ein allgemeiner begriff und umschreibt nicht irgendeine spezialität, sondern alles.

jeder lektor streicht dir den besagten satz an, lieber @hans. richtig müsste er heißen:
Er blickte sich in [blue]seiner [/blue]Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpaneele. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
auch über die falschen aidszahlen kann man nicht diskutieren. sie müssen stimmen, denn sie werden alls allgemeinverbindlich hingestellt (wie die anzahl der paneele oder der türen) und nicht als beliebige sicht des prot - im prinzip ist das der gleiche fehler wie bei "die welt". deine story lebt von der metapher, dass sich am ende die zahlen (bzw. die wirklichkeit) nicht mehr auf die reihe bringen lassen und der dampfer mit mann und maus sinkt. und das funktioniert natürlich nur dann wirklich dramatisch, wenn der eimer, in dem der arme tropf hockt, zuvor schwimmfähig war und nicht schon von anfang an leckte.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

HansSchnier

Mitglied
@bluefin

aus meiner verwunderung wird offenmäuliges staunen. zum dritten mal wiederholst du deine kritikpunkte. berufst dich bereits jetzt auf alle lektoren deiner Welt. doch richtiger wird das alles durch penetration nicht. der nächsten schritt mögen posts in versalien sein, textgewordenes aufstampfen, drohanrufe. ich unterstelle dir ungerne, dass es dir nur noch ums recht haben geht, aber der eindruck schleicht sich mir ein.

und ja, auch damit hättest du recht gehabt: die von dir angeführten lektoren hätte die Idee verworfen, dass ein mann als käfer aufwacht. sowas gibt es nicht.

und ja, das mädchen, das nach einem picknick mit ihrem Freund auf der wiese liegt, beschwipst vom sekt und frisch verliebt sagt: "die welt ist schön", sollte verhaftet werden, da sie einfach ihre subjektive welt zu der welt erklärt und vergisst, dass es menschen gibt, die über aidsraten diskutieren, sogar vergisst, dass es welche gibt, vergisst, dass kriege ausgefochten werden, übersieht, wie unrecht manchen menschen getan wird, die es besser wissen, besser wissen, besser wissen.

mit staunenden grüßen
 
B

bluefin

Gast
wenn ein mädchen sagt "die welt ist schön", lieber @hans, ist ihm das freilich unbenommen. die welt schön finden darf jedes, und es ist völlig egal, welche es dabei meint. bei
Er blickte sich in der Welt um. Sieben Quadratmeter. 38 Wandplatten. Zwölf Deckenpaneele. Zwei Türen. In die Freiheit? Nein! Die eine führte zum Klo. Die andere in den Gang. Bloß nicht verwechseln.
sagt der autor, dass sich jemand in der welt umsähe. nochmal: 'sich in der welt umsehen' ist ein sprachlich fest stehender begriff und meint 'sich in der welt umsehen', und nicht, bloß auf paneele starren.

in der musik bezeichnet man solche fehlgriffe als "patzer". bei einem laienorchester sieht man darüber hinweg; welche ansprüche du an dein stück stellen möchtest, steht natürlich bei dir. leider kannst du nicht verhindern, dass es jemand kritisert, wenn du es öffentlich aufführst.

tipp: cool bleiben und etweder auf kritik pfeifen oder sie irgendwann beherzigen - es hat beides was für und gegen sich.

in der welt, in der bluefin schwimmt, gibt's nur ganz und gar unerbittliche lektoren. wer (kleine) patzer wie die deinen durchgehen lässt, ist kein lektor, und wenn doch, dann kein unerbittlicher. ein guter lektor, lieber @hans, ist leider immer unerbittlich, denn nur dafür bekommt er sein geld.

amüsierte grüße aus münchen

bluefin

p.s.: was gregor samasa mit deiner weltanschauung zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht ganz: er bildete sich doch nicht nur ein, ein kerf zu sein - er war plötzlich wirklich einer.
 

herb

Mitglied
Die Welt

Grins, München ist aber auch nicht die Welt, Fischlein. Und mancher Wal entpuppt sich als Clownfisch. Vielleicht möchtest du für dein dilettantisches Lektorat auch noch Geld kassieren :))
Die traurige Wahrheit ist, du verstehst gar nicht so viel vom Schreiben, möchtest aber gern den Eindruck erwecken... deine Welt, die Welt der Lektoren, der unerbitterlichen, wow.

Tipp: wirklich cool bleiben und nicht so tun als ob.

Dein Zitat zeigt eindeutig, der Autor hat aus der Perspektive des Helden geschrieben, er zeigt auch gleich, wie die Welt für den Helden aussieht. Er macht uns Leser zu Eingeweihten, sehr schön. Das ist perspektivisches Schreiben, auch in deinem Textlein, dass ich die Ehre hatte zu lesen (hast ja schließlich hier reingestellt, grins) ist da die Falle, in der du tappst. Du weißt scheinbar gar nichts von Perspektive, macht doch nix, wird vielleicht noch. Immer schön cool bleiben. Tipp, ha.
Der Vergleich des Helden hier in fast einem Sarg dahin vegetierend... mit dem Gregor Samsa, der zum Käfer mutiert in seinem Kämmerchen, ist da gar nicht mal so abwegig, meint herb,

nicht Fisch, noch Käfer, Mensch aus Berlin, das ist auch nicht die Welt :))
 
B

bluefin

Gast
ich seh in dem hier zur debatte stehenden protagonisten keinen helden, lieber @herb. dessen welt besteht aus ein paar beschichteten spanplatten, einer klotüre und noch einer, die auf irgendeinen gang führt. er telefoniert nicht, sondern er wird angerufen.

er ist kein antiheld, sondern ein keineswegs unsympathischer unglückswurm.

du solltest diese coole geschichte, die nur ein paar belanglose webfehler aufweist, nicht zur jagd auf den wal missbrauchen. mit solch plumpen tricks erwischt du ihn nie...

...*bubbles*...

bluefin
 

HansSchnier

Mitglied
ich finde schade, dass ein text hier zur profilierung der eigenen person genutzt wird.

bluefin, ich wäre dir dankbar, wenn du dich hier fortan einfach zurückhalten könntest. es geht hier nicht um dich, sondern um einen text. Da du deine meinung (die im ersten post für mich durchaus verwertbar war) bereits vier mal wiederholt hast, gehe ich davon aus, dass du mir in bezug auf den text nichts neues zu sagen hast.
deine rechtfertigungen, deine selbstdarstellung in der dritten person und deine privatfehden interessieren mich nur nicht, nein, sie stören mich und vor allem mein anliegen: eine auseinandersetzung mit "Schräglage".

dass die diskussion ein eigenleben entwickelt hat, mag auch in meiner schuld liegen. aber ich hoffe, dass dies nun ein ende findet.
 
B

bluefin

Gast
lieber @hans,

du bist bei bluefin an der falschen @adresse.

vielleicht magst du dir alle postings zu deinem stückerl noch einmal sorgfältig durchlesen: weder hat er sich selber dargestellt, noch ist er - im gegenatz zu dir und dem user @herb - persönlich geworden. solcherlei mätzchen haben in der lelu - jedenfalls unter der rubrik "prosa" - nichts verloren, und sie bringen keinen weiter, der literarische interessen hat.

ich bin sicher, da sind oder werden wir uns einig.

liebe grüße aus münchen

bluefin

p.s.: bei einer deiner zahlreichen, persönlichen unterstellungen bist du mir mit kafka gekommen, und ich hab mich amüsiert zur "verwandlung" geäußert. der tropf in der geschichte heißt natürlich "samsa", nicht "samasa". sorry!
 



 
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