Schuld

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Warui

Mitglied
Schuld (17.11.2003)

Da stehst du nun, bewegst dich nicht,
In deinem Hals, da steckt ein Kloss.
Fühlst dich plötzlich nicht mehr gross;
Siehst vor dir: Meine Augen, mein Gesicht.

Ich steh weit oben, sehe runter
Hinab in die Vergangenheit.
Fühl mich nicht schuldig - nicht soweit
Wollte die Welt nur ein wenig bunter.

Doch fühl auch ich die Schuld in mir
Seh vor mir: Deine Augen, dein Gesicht
Hab ohne Gedanken reagiert, wie ein Tier.

Deine Tränen haben immer noch Gewicht;
Meine Schuld: Die Angst in Dir,
Denn nach oben zu sehen wagte ich nicht

----
Ich wusste nicht sorecht, wo ich das hinpacken sollte ...
Sollte übrigens nicht nur auf meine Situation bezogen sein (auch wenn der Bezug sicherlich da ist ^^), sondern allgemein eine Betrachtung von Schuld ....

Mata ne
Warui
 
J

jester

Gast
hallo warui,

bevor ich mich weiter mit deinem gedicht befasse, wollte ich erstmal nachfragen, ob du es als sonett ansiehst oder ob die vers- und strophenaufteilung nur "sonett-ähnlich" gemeint sind.
da du dies nirgends erwähnst und ich auf anderen seiten schon öfters kommentare zu sonetten geschrieben habe und sich die autoren danach mit dem hinweis, es sei gar nicht als klassisches sonett gedacht gewesen, zurückzogen, wollte ich es diesesmal andersrum probieren ;)

lg, jester
 

Warui

Mitglied
Hallo jester

*lach*

Neinnein, du hast recht, das sollte ein Sonnett sein .... allerdings habe ich nur zwei oder drei bisher gesehen und musste mir von denen ausgehen Struktur und Aufbau erschließen , habe also keine Ahnung, ob das der "klassischen" Form entspricht ... (*schäm*)

Mata ne
Warui
 
J

jester

Gast
hallo warui

vorab zwei links, die für sonett-interessierte in frage kommen http://www.fulgura.de und http://sonett-archiv.de - hier findet man unzählige hinweise und sonette.

zum klassischen sonett: es besteht aus 14 elfsilbigen zeilen (zwei quartetten und zwei terzetten), in der strengsten auslegung abba abba cdc dcd gereimt, weibliche reimendungen, reine reime und im deutschen der fünfhebige jambus als versmaß. wenn man sich mittlerweile sonette anschaut, dann trifft dies nur noch selten zu. die variationen gehen in alle richtungen und fast alles was 14 zeilen hat, wird formal als sonett bezeichnet ;o)
wichtig ist aber auch der inhaltliche aufbau, bei dem das erste quartett als these, das zweite als antithese und die terzette als synthese gelten oder beide quartette als expositorische darstellung eines themas und die terzette als zusammenfassende auswertung. *puhh* ich hoffe, das kann man verstehen ;)

ich kenne inzwischen mehr "sonettartige" gedichte als klassische sonette; auf die zäsur zwischen strophe 8 und 9 ist aber immer - sowohl formal als auch inhaltlich - zu achten!

da sonett übersetzt "klinggedicht" bedeutet, sollte man auch auf einen stimmigen rhythmus achten, damit das ganze nicht allzu holprig klingt.

so und nun schaue ich mir mal dein sonett an (zu besseren lesbarkeit hebe ich einmal die (meiner meinung nach) natürlich betonten silben durch großbuchstaben hervor):

01 da STEHST du NUN, beWEGST dich NICHT, (anzahl der silben: 8)
02 In DEInem HALS, da STECKT ein KLOSS. (8)
03 FÜHLST dich PLÖTZlich NICHT mehr GROSS; (7)
04 SIEHST vor dir: MEIne AUgen, MEIN GeSICHT. (10)

05 ich STEH weit Oben, SEhe RUNter (9)
06 hinAB in DIE verGANGenheit. (8)
07 FÜHL MICH nicht SCHULdig - NICHT soWEIT (8)
08 WOLLte die WELT NUR ein WEnig BUNter. (10)

09 Doch FÜHL auch ICH die SCHULD in MIR (8)
10 SEH vor mir: DEIne AUgen, DEIN GeSICHT (10)
11 HAB OHne GeDANken reAgiert, WIE ein TIER. (12)

12 DEIne TRÄnen HAben IMmer NOCH GeWICHT; (11)
13 MEIne SCHULD: die ANGST in DIR, (7)
14 DENN NACH Oben zu SEHen WAGte ich NICHT (11)

(ich beanspruche keine absolute korrektheit meiner betonung, würde mich auch freuen, wenn auf eventuelle fehler hingewiesen wird)

also, da haben wir jamben (z.b. 4-hebig in zeile 1) und trochäen (z.b. 6-hebig in zeile 12) und andere unregelmäßige verse. das klingt ein bisschen willkürlich und nicht wirklich durchdacht. natürlich kann man auch unkonventionell betonen, aber schon die unterschiedliche silbenanzahl (in klammer hinter dem versende) der verse macht einen wohlklingenden rhythmus unmöglich! :(
das reimschema stimmt mit dem des klassischen sonetts nicht überein (hier: abba - cddc - eae - aea), aber wäre eine durchaus interessante variante, wenn es stimmig interpretierbar sein könnte. die fast durchgehenden männlichen reimendungen sind auch als variation akzeptierbar, einem klassischen sonett würden sie allerdings widersprechen.

in den ersten zwei strophen stört das anaphorische da ("da stehst du nun...da steckt ein kloß"). auch die wiederholung von Gesicht in den versen 4 und 10 ist nicht glücklich gewählt, wobei die inhaltlich variierte wiederholung gelungen ist ("siehst vor dir: meine augen, mein gesicht -->seh vor mir: deine augen, dein gesicht"). eine zäsur zwischen den quartetten und terzetten ist tendenziell erkennbar:
quartett 1: die beschreibung des "Du"
quartett 2: die beschreibung des lyrischen Ich
terzett 1 & 2: die verknüpfung der personen in gedanken und gefühlen
dennoch ist es keine deutliche trennung. vers 7 und 9 sehe ich im klaren widerspruch zueinander ("fühl mich nicht schuldig - nicht soweit --> doch fühl auch ich die schuld in mir")

insgesamt - auch unter der "weicheren" prämisse einer sonett-variation - müsste das sonett gründlich überarbeitet werden. der ansatz allerdings - sowie das thema "schuld" - scheinen mir sehr gut für eine sonettierte form geeignet, aber metrisch gäbe es noch einiges zu verbessern.

ich hoffe, dass dir die kritik weiterhilft und lege dir nochmal die zwei links oben sehr ans herz! am besten lernt man an vielen beispielen und nicht so sehr an abstrakten formeln oder formalen regeln.
ein gelungenes sonett zu schreiben, gehört meiner meinung nach zu den größten herausforderungen für einen dichter (mit ausnahme eines sonettenkranzes natürlich ;) )!
viel erfolg bei deinen weiteren versuchen!

lg, jester
 



 
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