Schule der Selbsterkenntnis

- Aus dem Tagebuch eines Siebzehnjährigen -

Heute Latein-Klassenarbeit, mehr oder weniger gutgegangen. Während wir übersetzten, bekam ich plötzlich Einblicke, die ich mir gern erspart hätte. Einmal zu konzentriert, zu scharfsinnig gewesen – es nicht mehr gutzumachen. Mit Cicero hat das gar nichts zu tun …

Es war so: Ulrich stand auf und verlangte vom aufsichtführenden Lehrer, aufs WC gehen zu dürfen. Unmittelbar davor hatte ich ihn von der Seite beobachtet, er schien nicht mehr voranzukommen. Ihm fehlten wohl wieder einmal Vokabeln, und jetzt schlug er sie draußen in seinem Miniwörterbuch nach - leicht zu erraten. Nun ja, dergleichen kommt halt vor … Und er gab sich nachher nicht einmal viel Mühe, den kleinen Betrug vor uns anderen zu verbergen. Er wollte nichts riskieren, es daher nicht offen zugeben - aber doch das kleine Plus an Prestige einsacken, das bei Heldentaten wie dieser mit herausspringen kann. Klingt das hämisch? Aber ich mag ihn doch wirklich, wir sind Freunde, hoffe ich wenigstens.

In dem Augenblick, als er den Saal verließ und mir klar wurde, zu welchem Zweck, war sie wieder da, meine alte Antipathie gegen ihn. Und wie stark dieses Gefühl jetzt war … Zwei Jahre lang hatte ich ihn doch verachtet, beinahe gehasst. Ich spürte jetzt gleich den untergründigen Neid in mir heraus, das war neu für mich. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, dann schlug alles wieder in Sympathie für ihn um, aber es hatte genügt, mir etwas von meinem Innersten zu zeigen.

Ich empfand also heftigen Widerwillen gegen das, was Ulrich tat. Ich redete mir kurz ein, dass ich es schäbig fände, dass ich niemals wegen solcher Kleinigkeiten pfuschen würde, dass ich nur da betrügen und etwas riskieren würde, wo es sich wirklich lohnt. Und dabei übersah ich für einen Moment völlig, dass ich dieses gleiche Gefühl des Widerwillens, der beinahe körperlichen Antipathie früher gerade dann empfunden hatte, wenn Ulrich etwas Besonderes leistete oder wenn er es verstand, sich auf irgendeine Art in den Mittelpunkt zu stellen, oder wenn er nur ein etwas lautes Wesen an den Tag legte. Ich ignorierte auch, dass ich im Grunde genommen gegen solche kleinen Schwindeleien nichts ernstlich einzuwenden habe, wohl aber gegen den wirklich großen Betrug, und dass ich, ganz offen gestanden, diesmal auch gerne gepfuscht hätte, um sicher zu gehen, wieder eine Eins oder Zwei zu erreichen, wonach es in diesem Augenblick gerade nicht aussah. Ich konnte mich nur kurz selbst täuschen, dann wusste ich es besser: Ich unterließ doch das Mogeln weder aus moralischen noch existentiellen Gründen, sondern einfach aus Feigheit, Laschheit und Schwachheit! Mir fehlt, sagte ich mir, dieses minimale Draufgängertum, das jeder normale Mensch besitzt, eine gewisse Unbekümmertheit, Unbeschwertheit, mir fehlt die Kraft, das zu tun, was ich im Grunde nicht für falsch halte und auch gern tun würde.

Nun wurde mir vollends klar, dass es tatsächlich vor allem Neid auf alle mir abgehenden guten wie weniger guten Eigenschaften Ulrichs war, Neid, der diese starke Antipathie, diesen Hass begründete. Ich war neidisch auf Ulrich – wegen seiner Lebenskraft, seiner Tüchtigkeit, seiner Lust zu leben. Ich hatte ihn gehasst, weil er mich, sobald er irgendwie aktiv war, an meine Schwachheit, meine Resignation erinnerte. Und jetzt, d.h. seit über einem Jahr, schätze ich ihn aus den gleichen Gründen … Wie seltsam nah aber beides beisammen wohnt!

Ulrich kam zurück. Er sah mich nicht an, ging sogleich wieder an seine Arbeit, die ihm nun flott von der Hand ging. Auch ich beugte mich erneut über den Text von Cicero und meine steckengebliebene Übertragung. Ich hörte ihn emsig immer weiterschreiben, ich konnte das Geräusch nicht aus meinem Bewusstsein ausblenden, es drang tiefer und tiefer in mich ein. Auf einmal ging es auch bei mir voran. Ich erfasste den Aufbau der langen Periode, verstand den Sinn und übersetzte mühelos. Und dieser Schwung trug mich bis zum Ende der Arbeit. Schlecht habe ich mich nachher trotzdem gefühlt.
 



 
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