Schweigen im Schnee

Jona K.

Mitglied
Schweigen im Schnee

Es war wirklich eine tolle Idee von Inge gewesen, Sebastian zu seinem dreißigsten Geburtstag ein verlängertes Wochenende mit seinen Freunden zu schenken. Zu viert fuhren wir daher im Februar zu einer einsamen Hütte in den Bergen. Da Erich und ich seine zwei besten Freunde waren, hatten wir die Ehre gehabt, das ganze zu organisieren. Dementsprechend froh waren wir, dass bisher alles so gut geklappt hatte. Erich half mir noch rasch die Kiste mit den Vorräten aus dem Anhänger des Schneemobils zu hieven, während Inge und Sebastian bereits händchenhaltend auf die Hütte zusteuerten. Der Bauer, der uns heraufgebracht hatte, verabschiedete sich freundlich und fuhr dann den verschneiten Hang zurück ins Tal. Jetzt waren wir hier allein. Drei Tage lang keine lästigen Telefonanrufe, kein Fernsehnen, kein Radio, nur eine gemütliche Zeit unter Freunden.
In der Hütte erwartete uns eine gemütliche Essecke, eine Küchenzeile und eine Eiseskälte. Während Sebastian gleich damit begann, Feuer zu machen, brachten Erich, Inge und ich das Gepäck nach oben in den Schlafraum. Nach etwa 20 Minuten prasselte zwar das Feuer bereits ordentlich, es würde aber noch eine Weile dauern, bis die Kälte aus dem Wohnraum vertrieben war. Daher bot ich mich an, eine „Führung durch den luxuriösen, an die Landschaft optimal angepassten Außenbereich des Anwesen“ zu machen. Inge war zwar skeptisch, aber Sebastian und Erich schienen begeistert und so begab sich unser Quartett nach draußen. Doch obwohl ich erst fünf Minuten von den Vorzügen der wassersparenden Outdoor-Toilette mit unbegrenzter Frischluft, in anderen Worten vom Plumpsklo vor der Hütte, geschwärmte hatte, traf mich ein Schneeball, der mich wohl zum Schweigen bringen sollte, und aus dem gemütlichen Spaziergang, den sich alle erwartet hatten, wurde eine hitzige Schneeballschlacht.
Als es dann zu schneien begann und die Nässe langsam die Hosenbeine hochkroch, zog es mich wieder in die mittlerweile warme Hütte. Auch Erich war froh, sich am Ofen wärmen zu können. Nur Inge fand einen Spaziergang im Schnee so romantisch, dass Sebastian wohl oder übel das Aufwärmen auf später verschieben musste.
Erich und ich hatten das Schachspiel ausgepackt und waren gerade mitten in der ersten Partie, als die Tür aufgerissen wurde und Inge tränenüberströmt hereinstürmte und sofort die Treppen hinauf in den Schlafraum lief.
Ich warf Erich einen entschuldigenden Blick zu und folgte ihr nach oben um sie zu beruhigen. Als ich zehn Minuten später wieder herunter kam, hatte Sebastian meinen Platz am Schachbrett eingenommen. Er schien kein bisschen aufgeregt und ließ sich nichts von seinem Streit mit Inge anmerken. Ich schnappte mir einen Topf, schüttete 2 Dosen Gulaschsuppe hinein und stellte ihn auf den Ofen. Als die Suppe fast kochte, kam Inge herunter. Sie hatte sich Gott sei Dank wieder beruhigt, und so wurde es ein sehr gemütlicher Abend.
Am nächsten Morgen war ich als erster auf. Der Ofen war fast ausgegangen und das Holz herinnen aufgebraucht. Also musste ich hinaus in die Kälte, um welches von den Tristen vor der Hütte zu holen. Aber als ich hinaustrat, traute ich meinen Augen nicht. Mit einem lauten Schrei lief ich zu der reglosen Gestalt, die zwischen Hütte und Plumpsklo im Schnee lag. Ich fiel neben ihr auf die Knie und fühlte ihren Puls, aber da war nichts, was ich fühlen konnte. Inges lebloser Körper war bereits kalt. In ihrem Rücken steckte bis zum Schaft eines der großen Küchenmesser. Das Blut, das nicht von ihrer dicken Jacke aufgesogen worden war, bildete obskure Muster im Schnee.
Erich und Sebastian kamen durch meinen Schrei alarmiert angelaufen. Während Erich in eine Mischung aus Heulen und Schreien ausbrach und sich nicht mehr zu beruhigen schien, stand Sebastian wie angewurzelt da und starrte auf Inge herunter. Er brachte kein Wort heraus. Es dauerte eine Weile, bis wir fassen konnten, was wir sahen.
Schweigend drehte sich Sebastian um, ging in die Hütte, kam mit seinem Mantel zurück und deckte damit Inges Leiche zu. Wie aus einem Bann gerissen hörte Erich endlich auf zu schreien. Er murmelte leise: „Wer hat das getan?“, bevor er ganz verstummte. Damit hatte er ausgesprochen, was sich jeder von uns fragte. „Und wenn derjenige noch da ist?“, stellte ich erschrocken fest. Mit einem Mörder gemeinsam auf einer einsamen Berghütte.
Zu dritt umkreisten wir leise die Hütte. Außer dem Knirschen des Schnees unter unseren Schuhen war nichts zu hören. Es hatte gestern Abend aufgehört zu schneien, aber außer unseren Spuren zwischen Hütte, Toilette und Quelle gab es keine Fußabdrücke im Schnee. Dadurch hatten wir Gewissheit: Der Mörder war noch hier.
Wir mussten ihn finden! In der Hütte bewaffneten wir uns mit großen Messern und einem schweren Schürhacken. Ein Gefühl der Panik begleitete uns, als wir mit der Suche begannen. Außer dem Plumpsklo und einigen Winkeln im überdachten Bereich vor der Hütte gab es draußen keinen Ort, an dem sich jemand verstecken konnte. Einerseits waren wir beinahe erleichtert, als wir dort niemanden fanden, andererseits steigerte es noch unsere Angst vor dem Durchsuchen des Innenraums. Unsere Angst verdrängend, stellten wir trotzdem die ganze Hütte auf den Kopf. Am Ende suchten wir nur mehr, um einer kaum fassbaren Tatsache nicht ins Auge sehen zu müssen. Schließlich gaben wir doch auf und setzten uns an den Tisch. Sebastian war der erste, der die Sprache wieder fand. „Wer von Euch beiden war es?“, stieß er hervor und starrte uns abwechselnd an. Erich fing leise an zu weinen. „Woher sollen wir wissen, dass Du es nicht warst?“, entgegnete ich. „Sie war meine Freundin, welchen Grund sollte ich haben, sie zu töten?“ Daraufhin konnte ich nicht anders, als ihn mit dem zu konfrontierte, was mir Inge von ihrem Streit erzählt hatte. Sie war schwanger von ihm, aber er wollte nichts von dem Kind wissen. Er wollte, dass sie das Kind abtreiben ließ, aber für sie kam das nicht in Frage.
Sebastian wurde noch blasser, als er ohnehin schon war. Aufgebracht bestritt er, dass der Streit so abgelaufen war. Allerdings wirkte sein Erklärungsversuch, dass es in ihrem Streit nur um eine baldige Hochzeit gegangen war, für die er sich noch nicht bereit fühlte, nicht überzeugend. Von der Schwangerschaft hatte er angeblich nichts gewusst.
Aus Erichs Gesicht war der letzte Rest von Farbe gewichen. Plötzlich sprang er auf und lief hinaus. Seit wir die Hütte wieder betreten hatten, hatte er noch immer keinen Ton gesagt. Sebastian und ich starrten ihm hinterher.
Laut sprach ich aus, was mir schon eine ganze Weile im Kopf herumschwirrte: „Erich ist schon seltsam. Ich meine, natürlich nimmt uns das alle mit, aber ab und zu habe ich das Gefühl, dass das ganze bei ihm nicht echt ist. Sein Verhalten ist so übertrieben, dass es schon beinahe gespielt wirkt.“
Sebastian schaute mir direkt in die Augen. „Ich weiß natürlich, dass Erich für Inge geschwärmt hat, aber er ist ein solcher Träumer, dass ich ihm so etwas eigentlich nicht zutraue.“ „Ja, eigentlich. Das Problem ist nur: Eigentlich traue ich es keinem von euch beiden zu.“
Erich tauchte kurze Zeit später wieder in der Hütte auf und wir verbrachten die Zeit damit, uns gegenseitig schweigend anzustarren. Obwohl dieses schweigende Warten beinahe unerträglich war, gab es nichts anderes zu tun. Ohne Schneemobil und Kenntnis von der Gegend, kamen wir hier nicht weg. Und ohne Handy konnten wir niemanden informieren. Wer war auf die glorreiche Idee gekommen, keine Handys mitzunehmen, damit wir nicht von lästigen Telefonanrufen gestört werden konnten? Egal.
So saßen wir rund um den Tisch und die Zeit kroch dahin. Wir versuchten instinktiv, zusammen zu bleiben, obwohl uns bewusst war, dass einer von uns ein Mörder war. Aber alleine in dieser Katastrophe zu sein, wäre noch unerträglicher.
Als Sebastian einmal nach draußen ging um Holz zu holen, sprach Erich mich auf den Streit von Sebastian und Inge an: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sebastian sie wirklich zur Abtreibung überreden wollte.“ „Ich fand diese Reaktion auch schrecklich. Aber Sebastian ist nun einmal ein enormer Hitzkopf. Vielleicht sind sie in der Nacht noch einmal in Streit geraten und bei ihm sind die Sicherungen durchgebrannt. Ich kann mir das Ganze nicht erklären. Wie konnte so etwas nur geschehen.“ In dem Moment ging die Tür auf, und Sebastian kam wieder herein, worauf wir unser Schweigen fortsetzten.
Langsam wurde es dunkel draußen, und die Spannung in der Hütte wurde noch unerträglicher. Erich war der erste, der nach oben in den Schlafraum ging. Natürlich war es eine gute Idee, die Zeit bis morgen früh mit Schlafen zu überbrücken, allerdings konnte ich im Moment nicht einmal an Schlaf denken. Zu aufgewühlt, verängstigt und verwirrt war ich von den Geschehnissen des Tages. Gott sei Dank würde morgen der Bauer mit dem Schneemobil kommen, um uns abzuholen. Dann konnte sich die Polizei um die ganze Sache kümmern.
Sebastian schien es ähnlich zu gehen.
Ich bin mir nicht sicher, ob er eine Antwort auf seine Frage wollte, oder ob er nur die Stille nicht mehr aushielt, als er mich fragte: „Hast Du sie getötet?“ Auch ich ertrug das Schweigen kaum mehr, und daher kam mir dieses Gespräch, trotz seines unangenehmen Charakters, gerade recht. „Welchen Grund hätte ich wohl gehabt, sie zu töten? Wir hatten schon vor vier Jahren Schluss gemacht, und ihr wart bereits seit drei Jahren zusammen. Wenn ich sie deshalb hätte töten wollen, dann hätte ich das wohl schon längst getan. Du hattest meiner Meinung nach einen viel besseren Grund, und Erich auch. Du denkst vielleicht, er hat nur ein bisschen für Inge geschwärmt, aber für einen Träumer wie ihn, war es bestimmt die ganz große Liebe. Und dann musste er ständig euer Geturtel mit ansehen. Vielleicht hat er sich letzte Nacht ein Herz gefasst und ihr seine Liebe gestanden und sie hat ihn zurückgewiesen.“ Sebastian sagte nichts zu dieser Theorie. Es war stockdunkel, als auch wir nach oben in den Schlafraum gingen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich ans Bett gefesselt. Ich konnte es nicht glauben. Neben mir standen Erich und Sebastian. „Was soll das?“, stieß ich hervor.
Es war Sebastian, der mir antwortete. „Erich und ich hatten gestern eine nette Unterhaltung, während Du draußen auf der Toilette warst. Uns ist einiges seltsam vorgekommen. Zum Beispiel, dass keiner von uns aufgewacht ist, als Inge in der Nacht aufstand ist, obwohl die Balken ziemlich knarren. Oder, dass Inge Dir angeblich von einem Streit erzählt hat, der nie stattgefunden hat. Im Laufe des Tages, hast Du dann versucht, uns gegeneinander aufzuhetzen. Für jeden hattest Du ein Motiv parat. Am Abend, als Erich vorgab, zu Bett zu gehen, hat er in Wirklichkeit Deinen Rucksack durchsucht, und ein starkes Schlafmittel gefunden. Ich weiß, dass Du oft schlecht schläfst, daher würde mich das alleine nicht wundern. Allerdings: wenn Du uns das vorgestern Abend ins Essen oder in ein Getränk gemischt hast, würde das erklären, warum keiner von uns aufgewacht ist. Und Du kanntest Inge gut genug, um zu wissen, dass sie immer mehrfach in der Nacht zur Toilette muss. Erich hat mir gestern Abend dann etwas von dem Mittel gebracht, während Du wieder einmal draußen warst. Als Du dann mir gegenüber wieder Erich mehr oder minder beschuldigt hast, hast Du mich endgültig von Deiner Schuld überzeugt. Daher habe ich Dir das Zeug in dein Bier gemischt. Dadurch war es kein Problem, dich hier festzubinden. Eines verstehen wir aber beide nicht: Warum? Warum hast Du das nur getan?“
„Ihr verstehet das nicht? Das habe ich mir gedacht. Inge ist zu weit gegangen. Sie ist einfach zu weit gegangen. Ich habe immer nur darauf gewartet, dass sie genug von Dir hat und zu mir zurückkommt. Dann, vorgestern, als sie aufgebracht von eurem Streit zurückkam, habe ich eine Chance für mich gesehen. Sie hat allerdings nur darüber geweint, dass Du sie nicht heiraten willst. Sie hat mir auch erzählt, dass sie schwanger war, dass sie dir aber nichts davon gesagt hat, da sie nicht wollte, dass Du sie nur deshalb heiratest. Schon damit war sie zu weit gegangen. Dass sie etwas mit dir angefangen hatte, war eine Sache, aber mir mein Vorrecht auf ein Kind mit ihr zu nehmen eine andere. Sie gehörte mir, nicht dir, aber das schien sie vergessen zu haben. Ich schluckte meinen ersten Zorn hinunter, gab vor, sie zu verstehen und tröstete sie. Ich wollte in der Nacht noch einmal in Ruhe mit ihr reden. Daher sorgte ich dafür, dass ihr mich dabei nicht stören würdet. Ich folgte ihr, als sie in der Nacht zur Toilette musste und sprach sie unten im Wohnraum an. Ich bot ihr großzügig an, sie zu heiraten und das Kind als meines anzunehmen. Aber sie lehnte ab, meinte nur, dass das Angebot lieb von mir wäre, dass sie das aber sicher noch mit dir klären würde. Dann verließ sie die Hütte. Damit war sie dann endgültig zu weit gegangen. Welcher Mann hätte sich das gefallen lassen? Wenn sie und das Kind nicht mir gehören sollten, dann sollte sie keiner haben. Ich nahm mir also ein Messer aus der Küche und den Rest, nehme ich an, versteht ihr auch ohne, dass ich es euch erklären muss.“ Beide sagten kein Wort zu mir, drehten sich nur um und gingen hinaus. Ob sie mich verstanden haben, kann ich nicht sagen.
 

Roni

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hallo jona,

eine schwierige konstellation, in die du dich da selbst bringst. eine leiche - drei moegliche taeter.

die idee selbst gefaellt mir ... bei der umsetzung habe ich das gefuehl, mehr beschreibung denn erlebnis zu bekommen.


z.b.:

"Aufgebracht bestritt er, dass der Streit so abgelaufen war. Allerdings wirkte sein Erklärungsversuch, dass es in ihrem Streit nur um eine baldige Hochzeit gegangen war, für die er sich noch nicht bereit fühlte, nicht überzeugend. Von der Schwangerschaft hatte er angeblich nichts gewusst."

warum nicht als dialog? warum bewertend? warum nicht den leser schliessen lassen, wie ueberzeugend seine argumentation wirkt?

ich glaube, ein straffen und kuerzen wuerde die spannung des textes steigern.

lieben gruss
roni
 

Jona K.

Mitglied
Hallo Roni!

Vielen Dank für Deinen Kommentar.
Ich habe versucht, sehr bewußt beschreibend aus der Sicht des Ich-Erzählers zu schreiben. Das hat anscheinend nicht ganz so gewirkt, wie ich das erhofft habe.
Mit dem Kürzen habe ich immer leichte Schwierigkeiten. Einerseits möchte ich eine stimmige, glaubwürdige Situation aufbauen, die die Handlungen der Personen schlüssig erscheinen läßt ohne in einer platten Darstellung einzelner Punkte zu enden. Andererseits sollte die Spannung natürich nicht darunter leiden. Ich werde beim nächsten Überrbeiten versuchen, die Geschichte zu komprimieren, um die Spannung zu steigern.

Grüße,
Jona
 

Zinndorfer

Mitglied
Hallo Jona,

der erste Satz ist ein Hammer. Du bringst 18 Worte/Angaben, bevor ein erlösendes Verb auftaucht, dass dem Ganzen (dann eigentlich erst im Nebensatz) einen Sinn gibt.

Zu Sebastians dreißigstem Geburtstag für ein verlängertes Wochenende zu viert in eine einsame Hütte in den Bergen zu fahren, war wirklich eine tolle Idee.
Vorschlag: alles umdrehen und etwas weglassen.

Es war eine tolle Idee gewesen, zu Sebastians dreißigstem Geburtstag für das Wochenende in eine einsame Hütte in den Bergen zu fahren.

Das zu viert kannst du später noch unterbringen.

Das ist mir zwar immer noch eine Angabe zu viel, man könnte also noch die Berge in den Satz mit dem Bauer verschieben, aber es ist schon ein Stück geklärter ...


Verzwirbelte Morgengrüße, Zinndorfer
 

Jona K.

Mitglied
Hallo Zinndorfer!

Oje, der Satz ist ja wirklich nach dem Motto: Wie halte ich erfolgreich einen Leser vom Weiterlesen ab. Mir ist das noch nicht einmal aufgefallen.
Ich werde das sofort ändern.
Vielen Dank,
Jona
 



 
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