blaustrumpf
Mitglied
Schwer zu sagen
Sie hat es nicht leicht gehabt im Leben. Nicht als Kind, nicht als Frau, nicht als Mutter. Nicht nur ihr Haushalt, ihr ganzes Leben arrangierte sich um den Terminkalender meines Vaters, um die Bedürfnisse ihrer Kinder, um die Wünsche ihrer Mutter, die im Alter mehr als wunderlich wurde, die ihre Tochter zuletzt für die eigene Mutter hielt und sich in kindlich-kindischem Trotz wehrte, gegen alles. Aus Prinzip.
Meine Mutter hat ihre Mutter bis zu deren Tod begleitet. Trotz allem. Mit ganzer Kraft. Sie war die einzige, die meinte, es sei nicht genug, was sie tat. Und zuweilen denkt sie es immer noch. Meine Großmutter starb vor über fünfzehn Jahren.
Doch auch danach kamen die eigenen Wünsche meiner Mutter immer erst unter "ferner liefen". Sie kamen, aber sie kamen nach denen ihres Mannes, nach denen ihrer Kinder, nach vielen anderen Wünschen, irgendwann. Vielleicht. Und selten so, wie sie sie geträumt hatte.
Ich höre noch, wie sie eines Tages sagte: "Meine Generation ist betrogen worden." Sie meinte nicht den braunen Adolf und seine Helfershelfer. Sie meinte die Gesellschaft. Ganz allgemein. Die restriktive ihrer Jugend, die restaurative der Adenauerzeit und die "Alles ist möglich, ist die Welt nicht schön bunt"-Generation noch nicht einmal im Besonderen.
"In meiner Jugend hatten Kinder zu funktionieren. Die Erwachsenen waren alles. Und jetzt… jetzt ist es andersherum. Meine Generation ist betrogen worden."
Als die Erkrankung meines Vaters eine fettarme Diät ohne Salz notwendig machte, stellte meine Mutter ihre Küche und die Ernährung der Familie von heute auf morgen um. Dass sie selbst mittlerweile auch strenge Diät leben muss, sieht man nur daran, dass neben dem appetitlich arrangierten Gemüse immer auch ein kleiner grüner Salat auf dem Tisch steht. Ein Teller. Mein Vater mag keinen Salat.
Die Medikamente meines Vaters liegen griffbereit, im Blickfeld. Meine Mutter nimmt ihre tägliche Dosis wie nebenher, verbirgt das Was und das Wie im Küchenschrank, zwischen dem Hustensaft und dem Calcium, als sei es alles harmlos und eigentlich nicht notwendig. Vielleicht erinnert sie sich auch zu sehr an ihre Mutter, die stolz war darauf, was sie alles einnehmen musste – wenn sie nicht meine Mutter beschuldigte, sie vergiften zu wollen, um an das Haus zu kommen, das ihr seit Jahrzehnten überschrieben war.
Was meine Mutter an ihrer und deren Methoden gelitten hat, kommt nur selten zur Sprache, und wenn, dann nur in Nebensätzen, leicht dahin gesagt, wie ein Gazezelt über einer noch immer schmerzenden Brandwunde. Was ihre Mutter an ihr versäumte, das wollte sie ihren Kindern gönnen. Wer kann sagen, ob sie uns zuviel erlaubte oder das Falsche? Vier Kinder hat sie aufgezogen, und keines verließ ohne ihren Segen das Elternhaus. Vier Kinder hat sie groß werden lassen. Aber sie, die Starke, scheint mir jedes Mal kleiner, wenn ich meine Eltern besuche, unter das Dach schlüpfe, das weiterhin ein Bett und mehr für mich bietet.
Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal bemerkte, dass meine Mutter tatsächlich kleiner wurde, so wie es zum wirklich Älterwerden zu gehören scheint. Ich weiß noch, dass mein erster BH aus ihrem Schrank kam, aber das ist schon lange her. Noch vor dem Abitur war ich ihr etliche Kleiderweiten voraus.
Es gab eine Zeit, da gingen wir zur gleichen Friseurin. Sie dauerte über 20 Jahre, und doch hatten wir immer unseren eigenen Kopf. Es gab eine Zeit, da waren wir gleich groß, konnten die gleichen Schuhe tragen und taten es doch nicht, gingen unsere eigenen Wege.
Seit Jahren wohne ich nicht mehr in meinem Elternhaus. Wenn ich nun heimkehre, fällt mir als erstes auf, wie klein meine Mutter geworden ist. Meine stürmischen Umarmungen von einst würden sie nun schmerzen. Behutsam und liebevoll nehme ich sie in meine Arme, sie, die mich so oft umarmt hat. Wenn wir uns verabschieden, segnet sie mich, wie früher. Und ich segne sie, wenn ich gehe, sie in ihrem Alltag zurücklasse.
Vor ein paar Jahren begann ich damit, nur halb im Scherz. Ich zeichnete ihr – wie sie mir – mit der Daumenspitze ein Kreuz auf die Stirn. Eine letzte Umarmung, und wieder gehen wir unsere eigenen Wege. Und während ich gehe, frage ich mich, ob es damals begann, dass sie kleiner wurde.
Sie hat es nicht leicht gehabt im Leben. Nicht als Kind, nicht als Frau, nicht als Mutter. Nicht nur ihr Haushalt, ihr ganzes Leben arrangierte sich um den Terminkalender meines Vaters, um die Bedürfnisse ihrer Kinder, um die Wünsche ihrer Mutter, die im Alter mehr als wunderlich wurde, die ihre Tochter zuletzt für die eigene Mutter hielt und sich in kindlich-kindischem Trotz wehrte, gegen alles. Aus Prinzip.
Meine Mutter hat ihre Mutter bis zu deren Tod begleitet. Trotz allem. Mit ganzer Kraft. Sie war die einzige, die meinte, es sei nicht genug, was sie tat. Und zuweilen denkt sie es immer noch. Meine Großmutter starb vor über fünfzehn Jahren.
Doch auch danach kamen die eigenen Wünsche meiner Mutter immer erst unter "ferner liefen". Sie kamen, aber sie kamen nach denen ihres Mannes, nach denen ihrer Kinder, nach vielen anderen Wünschen, irgendwann. Vielleicht. Und selten so, wie sie sie geträumt hatte.
Ich höre noch, wie sie eines Tages sagte: "Meine Generation ist betrogen worden." Sie meinte nicht den braunen Adolf und seine Helfershelfer. Sie meinte die Gesellschaft. Ganz allgemein. Die restriktive ihrer Jugend, die restaurative der Adenauerzeit und die "Alles ist möglich, ist die Welt nicht schön bunt"-Generation noch nicht einmal im Besonderen.
"In meiner Jugend hatten Kinder zu funktionieren. Die Erwachsenen waren alles. Und jetzt… jetzt ist es andersherum. Meine Generation ist betrogen worden."
Als die Erkrankung meines Vaters eine fettarme Diät ohne Salz notwendig machte, stellte meine Mutter ihre Küche und die Ernährung der Familie von heute auf morgen um. Dass sie selbst mittlerweile auch strenge Diät leben muss, sieht man nur daran, dass neben dem appetitlich arrangierten Gemüse immer auch ein kleiner grüner Salat auf dem Tisch steht. Ein Teller. Mein Vater mag keinen Salat.
Die Medikamente meines Vaters liegen griffbereit, im Blickfeld. Meine Mutter nimmt ihre tägliche Dosis wie nebenher, verbirgt das Was und das Wie im Küchenschrank, zwischen dem Hustensaft und dem Calcium, als sei es alles harmlos und eigentlich nicht notwendig. Vielleicht erinnert sie sich auch zu sehr an ihre Mutter, die stolz war darauf, was sie alles einnehmen musste – wenn sie nicht meine Mutter beschuldigte, sie vergiften zu wollen, um an das Haus zu kommen, das ihr seit Jahrzehnten überschrieben war.
Was meine Mutter an ihrer und deren Methoden gelitten hat, kommt nur selten zur Sprache, und wenn, dann nur in Nebensätzen, leicht dahin gesagt, wie ein Gazezelt über einer noch immer schmerzenden Brandwunde. Was ihre Mutter an ihr versäumte, das wollte sie ihren Kindern gönnen. Wer kann sagen, ob sie uns zuviel erlaubte oder das Falsche? Vier Kinder hat sie aufgezogen, und keines verließ ohne ihren Segen das Elternhaus. Vier Kinder hat sie groß werden lassen. Aber sie, die Starke, scheint mir jedes Mal kleiner, wenn ich meine Eltern besuche, unter das Dach schlüpfe, das weiterhin ein Bett und mehr für mich bietet.
Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal bemerkte, dass meine Mutter tatsächlich kleiner wurde, so wie es zum wirklich Älterwerden zu gehören scheint. Ich weiß noch, dass mein erster BH aus ihrem Schrank kam, aber das ist schon lange her. Noch vor dem Abitur war ich ihr etliche Kleiderweiten voraus.
Es gab eine Zeit, da gingen wir zur gleichen Friseurin. Sie dauerte über 20 Jahre, und doch hatten wir immer unseren eigenen Kopf. Es gab eine Zeit, da waren wir gleich groß, konnten die gleichen Schuhe tragen und taten es doch nicht, gingen unsere eigenen Wege.
Seit Jahren wohne ich nicht mehr in meinem Elternhaus. Wenn ich nun heimkehre, fällt mir als erstes auf, wie klein meine Mutter geworden ist. Meine stürmischen Umarmungen von einst würden sie nun schmerzen. Behutsam und liebevoll nehme ich sie in meine Arme, sie, die mich so oft umarmt hat. Wenn wir uns verabschieden, segnet sie mich, wie früher. Und ich segne sie, wenn ich gehe, sie in ihrem Alltag zurücklasse.
Vor ein paar Jahren begann ich damit, nur halb im Scherz. Ich zeichnete ihr – wie sie mir – mit der Daumenspitze ein Kreuz auf die Stirn. Eine letzte Umarmung, und wieder gehen wir unsere eigenen Wege. Und während ich gehe, frage ich mich, ob es damals begann, dass sie kleiner wurde.