Schwere Kost

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Wanni

Mitglied
Eigentlich hatte ich den Frühling auserkoren, mir das zu bringen, wonach ich mich so lange sehnte. Nun war es der Herbst, der sich dazu herabgelassen hatte mir ein wenig unter die Arme zu greifen. Die Blätter hatten gerade erst angefangen sich zu verfärben, aber der Wind war schon kalt und beißend. In der Sonne ließ es sich aber aushalten. Ich hatte ganz vergessen, wie schön der See war. Bei meinem ersten Besuch war ich erstaunt, dass es überhaupt einen gab und ich stellte mir vor, was alles geschehen könnte um so einen See herum. Nichts von dem ist je eingetreten.
Vögel streiten sich um ein paar Brocken und der Wind, der mir in die Seite bläst, lässt sie vor mir in der Luft stehen. Ich bedauere meinen Fotoapparat vergessen zu haben, wie schon so oft. Ein kleiner Steg führt auf den See hinaus, es gibt dort eine Bank und einige Vögel sitzen auf dem Geländer. Fast wie am Meer. Sie sehen aus wie Verbündete, diese Kotmaschinen. Wo sie sich länger als ein paar Minuten aufhalten, bildet sich eine weiße Pfütze am Boden. Irgendwer muss diese Bank saubermachen, denn es ist der einigste Fleck auf dem Steg, der nicht von Kot bedeckt ist. Ich stelle mir die Person vor, die diese unglaublich selbstlose und gleichzeitig unansehnliche Arbeit verrichtet. Ich zweifle daran, dass sich die Stadt um solche Kleinigkeiten kümmert. Der See ist umgeben von Bäumen und gleich dahinter sieht man die grauen Wohnblocks und Bürogebäude aufragen. Doch das interessiert mich heute alles nicht. Dieser Ort hat mich für diesen Augenblick wieder. Die Vögel kreischen, als hätte man sie sexuell belästigt und die vielen kleinen Wellen reflektieren sie Sonne, so dass ich blinzeln muss, wenn ich aufs Wasser hinausschaue.
Ich weiß schon warum ich hier sitze, ausgerechnet jetzt. es liegt nicht am See, der hat sich nicht verändert. Selbst das Wetter war schon einladender. Das ich hier bin, ist der Beweis dafür, dass sich etwas verändert hat. Ich kenne das, ich hatte es schon einmal. Man könnte von einer Genesung sprechen, doch dazu müsste man meine Verfassung zuvor, als eine Art langjährige Krankheit ansehen, welche einen ohne äußerlichen Eindruck zu hinterlassen, befallen hat. Weniger radikal wäre es, es als einen unnatürlichen Zustand zu bezeichnen, der nun zu Ende geht. Ich frage mich, wie hoch die Heilungschancen sind und wie oft man dieser tückischen Seuche erliegen kann ohne dabei größeren Schaden zu nehmen.
Die Heilung erfolgt rapide, allerdings bedarf es einer fortdauernden "Therapie" um einen Rückfall zu vermeiden. Dieser Aufwand ist zugleich Notwendigkeit und Vergnügen. Risiken sind jedoch nie ausgeschlossen.
Alte Erinnerungen wiegen schwer. Ich bin erst zwanzig Jahre und trage schon so viele mit mir herum, dass es mich manchmal fast erdrückt. Es ist anzunehmen, dass die Schönen unter ihnen mehr belasten, als die Schlechten, weil man sie stets gerne wiederholen möchte. Manchmal frage ich mich z.B. was aus mir und dieser Französin mit dem wunderschönen Mund geworden wäre, wenn ich nur ein paar Tage länger hätte bleiben können. Ich denke gerne an diese Geschichte zurück, sie war eine Art Erfüllung eines Traumes oder besser gesagt eines Wunsches, der sich schon lange zuvor in mir geregt hatte. Ich glaube, dass ist letztendlich auch der Grund, was diese Begebenheit so berauschend machte.
Ich begegnete ihr in der Eingangshalle einer Auberge de Jeunesse in Metz, nachdem ich kurzerhand dort aus dem Zug ausgestiegen war. Sie stand da, unterhielt sich mit der Frau an der Rezeption und aß Kuchen, während ich auf meinen Schlüssel wartete. Sie sah exotisch aus. Halb Marokkanerin, halb Französin, wie sich später herausstellte. Ihr Haar war leicht gekräuselt und sie grinste mich an, als sie bemerkte, dass ich das Stück Kuchen anstarrte, welches sie in der Hand hielt. Dazu muss ich erzählen, dass ich damals auf meiner Reise durch Frankreich, hauptsächlich trockenes Baguette und Käse gegessen aß, manchmal auch ein wenig Wurst aus Dosen oder Schokolade. Kuchen hatte ich schon seit Wochen nicht mehr angerührt. Sie wartete neugierig darauf welches Zimmer ich bekommen würde und als sie bemerkte, dass meines nur einige Schritte von ihrem entfernt war, stieß sie einen freudigen Ton aus und versuchte mir mitzuteilen, dass wir so eine Art Nachbarn waren. Mir war das nicht entgangen und ich fragte gerade heraus ob sie mir vielleicht die Stadt zeigen könnte. "Est-ce que tu peus me montrer la ville?"
Im gesamten Haus, befanden sich außer mir, ausschließlich Mädchen. Die meisten von ihnen noch nicht volljährig. In Frankreich, so erfuhr ich, haben Mädchen, die Probleme mit ihrem Eltern haben, die Möglichkeit, für lau in den Jugendherbergen zu wohnen, bis sie alt genug sind für sich selbst zu sorgen. Ich war also umgeben, von einer ganzen Schar von Problemfällen, auch wenn die meisten nichts dafür konnten, da war ich mir sicher. Wir machten uns einen Termin aus und trafen uns später am Abend zu dritt, d.h. Naouel, so war ihr Name, einer ihrer Freundinnen, deren Namen ich vergessen habe und ich. Wir liefen durch die Straßen, die immer noch von der Sonne aufgeheizt waren, und schlenderten durch die vielen Parks, mit denen in Frankreich nicht gegeizt wird. Auf einer Wiese nahe dem Fluss, legten wir uns ins Gras. Sie versuchten mir Vokabeln beizubringen, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich weiß nicht mehr wieso, aber ich erzählte ihnen von einem Zitat das ich einmal auf den ersten Seiten eines Buches von Djian gelesen hatte. Es war ein Satz ohne jeden Schnörkel und es hatte einen gewissen Reiz ihn auszusprechen. Ich behielt ihn zugegebener Maßen, auch deshalb im Kopf, weil er kurz und leicht zu merken war. Perfekt um ihn ab und an einzusetzen. Eine nicht zu unterschätzende Waffe. Er ging ungefähr so: "L'ignorance est la nuit de l'esprit er cette nuit na ni lune et ni étoile."
Naouel stieß einen Seufzer aus und ließ den Kopf in ihre Arme sinken. Sie lag einfach nur da und ich hätte wer weiß was dafür gegeben, wenn ihre Freundin jetzt auf der Stelle geplatzt wäre. Sie machte sie über Naouel lustig. Es war nicht zu übersehen, dass sich diese aufregende Französin, ein wenig in mich verknallt hatte. In dieser Situation aber konnte ich nicht darauf eingehen, es hätte sie vor ihrer Freundin kompromittiert. Ich versuchte es daraufhin so zu arrangieren, dass wir uns nachts in meinem Zimmer treffen würden, das ungefähr dreimal so groß war wie ihres, mit der dreifachen Anzahl an Betten. Was nicht unbedingt etwas bedeuten muss. Mir war klar, dass die Situation alles andere als einfach war. Wir konnten kaum ein vernünftiges Wort miteinander reden.
Sie konnte ausschließlich französisch und meines war alles andere als ausreichend, für das was kommen sollte. Auch die Tatsache, dass wir beide wussten weswegen wir hier waren, blockierte uns. Ich begann damit den ersten Schritt zu machen, versuchte ihr zu erklären was ich dachte, was nach hinten losging. Ich hatte das befürchtet. Es war allerdings der einzige Ausweg aus dieser beklemmenden Ungewissheit, die immer noch in Fünkchen existierte. Also mit dem Kopf durch die Wand und die Antwort kam prompt.
"Non", sagte sie, sie hätte mich nicht geküsst, so als wäre das, dass normalste von der Welt. Ich versuchte mir weißzumachen, das sie genau das Gegenteil von dem sagte was sie meinte. Sie log, sie musste lügen, anders war das nicht zu erklären. Die Angst sich bloßzustellen blockierte sie, obwohl ich bereits den ersten Schritt getan hatte. von diesem Moment an wusste ich, da es gelaufen war.
Es war plötzlich zu kompliziert geworden. Ich verflüchtigte mich in Ausreden und Entschuldigungen, um nicht in solch einer Weise auseinander gerissen zu werden. Tausendmal die gleichen Sätze, von denen sie wahrscheinlich gerade mal die Hälfte verstand.
Es war still geworden, ich hatte getan was ich konnte, ich war am Ende meiner Weisheit.
Plötzlich erhob sie sich und legte sich zu mir auf das Bett. Die großen, schrägen Fenster trugen die Nacht ins Zimmer und ich war aufs äußerste gespannt, was jetzt kommen sollte. Ich ergriff die Gelegenheit und spielte an ihrem Haar, begann sie sachte an Stirn und Wangen zu streicheln. Als ich mir sicher genug war, dass nichts mehr schief gehen konnte, trug ich noch einmal das Zitat vor, in der Hoffnung, die gleiche Reaktion zu ernten wie am Abend. Es passte nicht zur Situation, dessen war ich mir bewusst, doch meine Neugier auf seine Wirkung ließ mich es mich kühn vortragen. Dem Verpassten nachzutrauern ist die schlimmste Angewohnheit der Menschen - dem wollte ich nicht Rechnung tragen. Sie verharrte einen Augenblick, dann legte sie mir eine Hand auf die Brust und ich wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, sie zu küssen. Das Ganze dauerte über acht Stunden und wir fummelten und knutschten die gesamte Nacht hindurch, bis zum Morgengrauen, bis zum Frühstück.
Ich war mir relativ sicher, dass die anderen Gören den Braten längst gerochen hatten und wussten was geschehen war. Naouel kam nicht, sie musste eingeschlafen sein, ich war also allein gelassen mit diesen Monstern, die mich nun gleich, mit verkniffenen Mienen anschauen würden.
"As-tu bien dormi ?" Ob ich gut geschlafen hatte? Nein hatte ich nicht, wann auch. Ich wusste doch, dass sie darauf anspielen würden. Ich wartete auf weitere Sprüche, doch nichts kam. Ich ließ einen unauffälligen Blick durch die Runde schweifen, doch nichts. Sie aßen brav ihr Frühstück, wenn auch ein wenig irritiert, obschon meiner Anwesenheit. Sie hatten also keinen Schimmer und abgesehen davon sind Frauen in diesem Alter keine guten Lügnerinnen, ich hätte also Wind davon bekommen, wenn sie es versucht hätten. Ich war froh, Naouel nicht in die Scheiße geritten zu haben, Klatsch konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen, Metz war ein Dorf.
Ob es nun daran lag, dass ich nicht geschlafen hatte, weshalb ich so unaufhörlich darüber nachdenken musste, oder an etwas anderem, dass mir dieses Erlebnis so in Erinnerung geblieben ist, ist schwer zu sagen. Man wird das jedenfalls sein ganzes Leben mit sich rumschleppen und es ab und an herausholen um sich daran satt zu sehen und im Stillen zu leiden.
 



 
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