Sechs Tage im November (1/2)

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Till Braven

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Ich will nicht vergessen, was mir geschehen ist.
Achter November.
Ich trete aus dem Haus auf die Straße, und spüre, daß es ein kalter Tag werden dürfte, der erste frostige in diesem Herbst. Bevor ich losgehe, drehe ich mich noch einmal um, und lasse den Blick kurz über die Nachbarhäuser ziehen, dies habe ich mir in letzter Zeit angewöhnt. Mein Weg führt mich dann ein kurzes Stück zur Bushaltestelle, so wie an jedem Morgen.
Dort leide ich bereits unter dem seichten Wind, denn der Mantel, den ich eilig vor dem Weggehen übergestreift habe, erweist sich als zu dünn für die heutige Kälte. Doch zum Umkehren ist es zu spät, den Gedanken an ein wärmeres Kleidungsstück muß ich kurzerhand verwerfen, denn der Bus folgt seinem Fahrplan, und sollte daher jeden Moment auftauchen. So stehe ich und warte.
Man wähnt sich wohl in Sicherheit, wenn man steht, und das Auftauchen eines Busses erhofft. Ein solches Weilchen enteilt ohne geschärfte Sinne, gerade am Morgen, wenn der Schlaf noch nicht vollständig gewichen ist. Dann achtet man auf die Abläufe um einen herum nur wage, zumal diese sich gleichen von Tag zu Tag, und bemerkt die Ereignisse lediglich am Rande.
So stoppt eine hellgraue Limousine am Fahrbahnrand in Höhe der Haltestelle, ohne meinen Argwohn zu wecken. Ich nehme zwar ebenfalls zur Kenntnis, daß ich aus dem Innern gemustert, beäugt und beobachtet werde, doch wer auf den Bus wartet, schöpft nicht sofort Verdacht. So verstreichen ein paar Sekunden des Nichtstuns.
Ich beobachte noch, daß auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Frau entlang spaziert, der ich auf diese Art an all den Tagen begegne, an denen ich morgens auf den Bus warte. Ich vermute wohl richtig, daß sie in der Nachbarschaft wohnt, und sich auf dem Weg zum Bäcker befinden dürfte.
Da öffnen sich die Türen des Automobils und heraus steigen zwei Männer, beide schätzungsweise jünger, als ich es bin. Sie gehen geradewegs auf mich zu, und reden mich an.
„Sie sind Herr Braven, wie wir annehmen?“
„Der bin ich.“ antworte ich nickend.
„Till Braven?“
„Ja, genau.“ murmele ich.
„Dann müssen wir Sie bitten, mit uns zu kommen.“
Nun betrachte ich die beiden genauer. Der, welcher die Fragen stellt, hat sich mir bis auf ein kurzes Stück genähert, während sich der zweite, eher lauernd, etwas mehr im Hintergrund aufhält. Sie sind nahezu identisch gekleidet, von dunklen Mänteln umhüllt, die mir, so wie meine eigene Kleidung, für die morgendliche Kühle zu schwach erscheinen.
„Warum?“ frage ich nach kurzer Überlegung.
„Wir haben den Auftrag, Sie vorzuführen.“ sagt der Vordere und legt ein Lächeln ins Gesicht, das seine Zähne entblößt.
„Warum?“ frage ich erneut, „ich warte hier auf den Bus, wie jeden Morgen.“
„Das wissen wir.“ erwidert der Sprechende, „wir haben diesen Moment schließlich abgepaßt.“
„Dann kennen Sie also meine Identität. Warum also die Frage nach meinem Namen?“ möchte ich erfahren.
„Das ist reine Formsache, muß sein.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Darf ich Sie nun bitten, in unser Fahrzeug einzusteigen.“
„Wir sind nämlich nicht befugt, Ihnen Auskünfte zu geben.“ Mit diesen Worten griff nun auch der Entferntere ins Gespräch ein. „Sie werden in Kürze den Grund erfahren, nur Geduld, folgen Sie uns vertrauensvoll.“
„Kann ich das denn?“ frage ich unsicher.
„Aber natürlich !“ antworten beide wie im Chor.
Kurz überlege ich nun, ob es Zweck haben würde, die Festnahme mit Einwänden hinauszuzögern. Zwar hätte ich davon reden können, daß ich schließlich auf dem Weg zur Arbeit sei, und daß man mich dort im Büro in Kürze erwarten würde, doch ich war mir just sicher, daß meine Gegenüber auch darauf eine durchdacht scheinende Antwort parat hätten, und ließ daher auch die Frage unter den Tisch fallen, ob ich zuvor telefonieren dürfe, um mich zu verständigen.
So gehe ich die wenigen Schritte zum Auto durch das Spalier meiner beiden Verhafter. Sie lächeln, und ihre Hände beschreiben mit einladender Geste, mich im Fond des Wagens niederzulassen.
Als sich das Fahrzeug zuerst in dieselbe Richtung in Bewegung setzt, die auch der erwartete Bus genommen hätte, schweift mein Blick wieder zu den Nachbarhäusern, bis die erste Seitenstraße passiert ist. Schließlich hätte es durch einen Zufall sein können, daß ich jemanden sehe, der mir vertraut ist, wenngleich auch nur durch eine zugegebenermaßen recht unwahrscheinliche Fügung. Und daß auch ich von ihr gewahrt werde, in diesem Moment, in dem mich jenes Auto abtransportiert.
Doch entdecke ich sie nicht.
„Wohin werden Sie mich überhaupt bringen?“ frage ich noch, dabei erwarte ich jedoch keineswegs eine ausführliche Antwort. Ich höre nicht einmal mehr richtig zu, als man mich erneut auf das bevorstehende Gespräch verweist, welches der Vorgesetzte mit mir zu führen beabsichtigt, sondern schweife in meinen Gedanken ab, während die Fahrt deutlich einem Ziel in der Innenstadt entgegen strebt. Im Innern der Limousine ist es angenehm warm, und der eisige Wind, der an der Haltestelle durch meine Kleidung gezogen ist, kann mir nichts mehr anhaben.

Es war an einem Maitage, an dem ein klarer blauer Himmel die wärmenden Strahlen der Mittagssonne durchließ, weshalb ich mich mit einem Magazin lesend auf meinem Balkon niedergelassen hatte, um, in Lektüre versunken, zu entspannen. Dazu hatte ich mir, der Gemütlichkeit im Sonnenschein willen, einen Becher Tee kredenzt. So schaute ich, eher unbewußt, von Zeit zu Zeit auf, verließ für einen kurzen Augenblick das Heft vor mir, nahm einen Schluck, und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Der wurde vom Anblick der Anwohnergärten eingefangen, die sich in blühender Fülle farbenfroh zeigten.
Da sah ich sie zum erstenmal. Im Nachbargarten des Nachbarn stand sie, kurzärmelig aber mit langem Rock bekleidet, an einer Sonnenblume, die einen Kopf kleiner schien als sie selbst, und strich mit der Hand vorsichtig über die Blüte. So sah ich sie das erstemal.
Nun mag es sein, daß sie mich bei dieser Gelegenheit selbst gar nicht bemerkt hatte. Aber später tauschten sich unsere Blicke aus, und signalisierten dies durch einen Wink. Noch verging aber ein gutes Jahr, ehe wir auch miteinander sprachen, und ich ihren Namen erfuhr.
Und ich trank einen kräftigen Schluck, und ich stellte den Becher vor mich auf den Tisch, und ich fand wieder zu der Zeitschrift zurück und las. Doch da war jetzt jemand, dort in dem Haus halb visavis, und hatte diesesmal den Garten in einem langen Sommerrock durchquert, vorbei an den Apfelbäumen, zunächst an dem größeren, schließlich an dem kleineren dahinter, bis zu jener Sonnenblume.


Neunter November.
Ich erwache, und spüre sofort, daß also nichts geträumt ist. Da liege ich in einem Raum von kühl nüchterner Umgebung auf einer Liege, die aus einer harten, dünnen Unterlage in einem Stahlrahmen besteht. Mein Blick tastet schläfrig die Decke ab, von der eine nüchterne Lampe mit einer Milchglaskugel herabhängt. Die Lampe brennt, und ich orientiere mich in ihrem Schein.
Die vier Wände, innerhalb derer ich mich wiederfinde, geben sich grob verputzt, und haben, wenn überhaupt, vor langer Zeit einen letzten Anstrich verpaßt bekommen. So vermag es auch das Glühlampenlicht von der Decke nicht, die Trostlosigkeit, in der dieser Morgen beginnt, zu vertreiben. Vom Fenster her, das in die Außenwand in Übermannshöhe eingelassen ist, so daß es unmöglich erscheint, nach draußen zu gucken, dringt kein Tageslicht an den Ort. Daher wird mein Schlaf zu einem Zeitpunkt beendet gewesen sein, noch bevor die Sonne aufsteigen dürfte.
Ich will die Stunde wissen, aber am Handgelenk befindet sich nicht wie gewohnt die Armbanduhr, und ich besinne mich kurz des gestrigen Tages, da man mir meine diversen Gegenstände abgenommen hat, um sie während meines Aufenthalts statt meiner zu verwahren.
Also entschließe ich mich weiter zu schlafen, und wenn es dagegen ein inneres Sträuben geben sollte, so doch einfach zu ruhen, zu dösen, nicht anzuspannen, sondern vielmehr die kommenden Dinge zu erwarten, wenn möglich in vollkommener Gelassenheit. Ich solle ein bißchen Geduld mitbringen, mehr nicht, so ist es mir gesagt worden am gestrigen Tag, man benötige von mir ein paar Angaben, mehr wirklich nicht, ich würde einfach gebeten werden, einige Details zu erläutern, auf die eine oder andere Frage einzugehen, um in einer schwierigen Untersuchung hilfreich zugegen zu sein.
Daher liege ich. Auf dem Rücken liege ich, und verschränke die Arme hinterm Kopf. Ich halte die Augen geschlossen und will nichts bewerten, an nichts Bestimmtes denken, mich nicht in Kleinigkeiten verzetteln. Der Raum geht mir aber nicht aus dem Kopf, auch bei verschlossenen Lidern nicht. Über mir schwebt die Lampe und wirft ihren matten Schein. Dieser trifft mich, genauso unter mir das Bettgestell oder die schwere Holztür, welche mich einsperrt. In Gedanken lasse ich die Leuchte schwingen, damit ihr Lichtkegel umhertanzen kann. Auf diese Weise soll es hier etwas geben, was sich bewegt, abgesehen von meinem Atem.
Es ist jetzt meine Aufgabe, abzuwarten, darauf zu hoffen, daß sich bald jene Tür öffnen wird, welche mich festhält. Doch solange dieser Fall nicht eintritt, kann ich wachen oder in den Schlaf versinken, ganz wie es mir beliebt, und ich mag in Gedanken versponnen sein dabei, oder träumen, am Tage sowie nach Einbruch der Dunkelheit. Es zählt einzig, ausgeruht zu sein, wenn ich zum Gespräch gebeten werde.

Dann rief ich ihr etwas zu.
Das geschah, während ich auf meinem Balkon an die Brüstung gelehnt stand und hinüberschaute, als ich sie hinter einem Fenster ausmachen konnte. Sie huschte vorbei, und hielt dann doch inne. Mit einem fröhlichen Lächeln winkte sie mir zu, und ich grüßte auf die gleiche Weise zurück. Und schon verschwand sie vom Fenster, um flugs ihrerseits auf dem Balkon aufzutauchen. Eine ganze Weile lächelten wir nur, in ganz ähnlicher Pose verharrt, ein jeder auf einem Balkon stehend, auf die Balustrade gelehnt.
Aber es geschah nichts, denn sie sagte keinen Ton, obwohl sie ja schon herausgetreten war, an die frische Luft. Nun dachte ich bei mir, daß dieser Moment wohl nicht verrinnen sollte, ohne ein Wort. Denn noch kannte ich nicht einmal ihren Namen.
Also rief ich ihr etwas zu. „Wolln wir nicht mal ein Bier trinken gehen?“ fragte ich so von Haus zu Haus, von Balkon zu Balkon.
„Ja, können wir machen.“ rief sie mir als Antwort herüber. „Ich werde mal schauen, wann ich Zeit habe, aber nächste Woche wird's schon klappen.“
Ich nickte, und dürfte gestrahlt haben. Noch einen ganzen Zeitraum blieben wir stehen, um uns anzulächeln, ehe sich die Situation auflöste.
An dem Abend ging gerade die Sonne über der Stadt unter, als wir uns in die nächste Eckkneipe begaben, und wir redeten dort über einander, so wie man sich vorstellt, wenn zwei Menschen sich das erstemal miteinander unterhalten, und sprachen, wie man so schön sagt, über Gott und die Welt, und ganz nebenbei verriet sie mir, daß sie Nina heißen würde, während wir uns ab und an mit den Biergläsern zuprosteten, wobei wir ein Lächeln auf den Lippen zeigten, und keinesfalls vergaßen, die Farbe in den Augen gegenüber anzusehen. So konnten wir die Stunden verstreichen lassen.
Am Ende des anschließenden Heimwegs blieben wir vor Ninas Hauseingang stehen, und verweilten.
„Es war ein schöner Abend.“ sagte sie leise.
„Ja, das war's.“ gab ich zur Antwort.
„Wir sollten sowas wiederholen, bei Gelegenheit.“ fuhr sie fort.
Ich nickte zustimmend. „Auf jeden Fall.“ sagte ich noch, als wir uns zum Abschied die Arme entgegen streckten. Und dann, als würde sich niemals wieder die Möglichkeit bieten, drückte ich ihr einen Kuß auf die Wange, und löste mich, indem ich weiterging.
Bis zu meinem Zuhause war es schließlich ein kurzes Stück, an ein paar Häusern vorbei, und eben um die Ecke, dann war die Haustür erreicht. Auf diesem Weg ging mir nur eins durch den Kopf, daß ich wohl all meinen Mut aufgebracht haben dürfte, in genau dem Moment, in dem ich Nina das Küßchen gab.

Ein scharrendes Geräusch weckt mich. Nun ist es Tag, und ich sehe gerade noch, wie in der Zellentür eine Klappe zugeschoben wird. Es muß mir jemand ein Tablett mit Essen in den Raum gerückt haben, wodurch auch das Gerumpel entstanden sein wird, denn da befindet es sich auf dem kalten Boden, beladen mit einem Stück Brot, etwas Käse, und einer Wasserflasche.
Ich erhebe mich, und stehe nach drei Schritten davor. Doch die Tür ist verschlossen, wie zuvor. Aus der Nähe betrachtet, macht sie einen noch undurchdringlicheren Eindruck, als von meiner Liegestatt aus. Ein massiver Eisenrahmen hält dicke Holzbohlen zusammen. Nirgendwo ist eine Ritze, durch die man hindurchlugen könnte, um einen schmalen Blick auf den Flur davor werfen zu können. Und, mehr um einfach auszuprobieren, was wohl geschehen würde, oder, um überhaupt etwas zu tun, klopfe ich mit den Fingerknöcheln dagegen, mehrere Male klopfe ich an das Holz, so wie man an eine Tür klopft, um sein Eintreten zu signalisieren.
Doch schon erscheint mir mein Handeln albern. Wieviele Fäuste, kommt es mir in den Sinn, mögen wohl schon dagegen gehämmert haben, sich an der Tür wund geschlagen haben in einer unbeschreibbaren Hoffnung, und nie dürfte sie sich auch nur einen Spalt breit geöffnet haben, nicht auf das stärkste Pochen hin.
Ich betrachte nur kurz das eingeschobene Essen, und ohne es vorläufig anzurühren, setze ich mich dagegen wieder auf das Bett, schließlich verfüge ich an diesem Ort über keine weitere Sitzgelegenheit, wenn man von der recht flachen Klosettschüssel absieht, die ihren Platz in der Ecke zwischen der Liege und der Tür hat.
Ich denke über meine Tageseinteilung nach. Ich erkläre es für schädlich, tagsüber schon zuviel zu verschlafen. Einerseits, weil damit die Gefahr steigt, nicht hellwach zu sein, wenn ich zu dem angekündigten Gespräch gerufen werden sollte, aber auch, um denn nachts nicht allzu lange und allzu oft wach liegen zu müssen.


Zehnter November.
Ich rechne fest damit, daß sich heute meine Lage ändern wird, immerhin beginnt der dritte Tag in diesem Raum unter Verschluß.
Als ich aufwache, ist es längst schon heller Tag, es dringt ein wenig Sonnenlicht durch das Fenster über mir, und die Lampe mit der trüben Glaskugel ist andernorts bereits ausgeschaltet worden. Aber ich habe im Schlaf geschwitzt, und die Bettdecke, sowie meine Kleider, fühlen sich unangenehm feucht an.
Außerdem kann ich mich nicht daran erinnern, im zurückliegenden Schlaf etwas geträumt zu haben, und zwar weder an bildnerische Details, noch an die Tatsache an sich, überhaupt von Illusionen umgeben worden zu sein. Daher richte ich mich plötzlich erschrocken auf, und blicke in die Richtung zur Tür. Aber das Essen ist noch nicht eingeschoben worden, was mir einen ungefähren Anhaltspunkt über die Tageszeit gibt, wenn davon ausgegangen werden kann, daß jenes immer in derselben Zeitspanne gereicht wird.
Inzwischen, so vermute ich, wird mein Entfernen aufgefallen sein. Es hat schließlich seit einigen Tagen kein elektrisches Licht mehr in meiner Wohnung gebrannt, niemand hat auf das Klingeln des Telefons hin zum Hörer gegriffen, und die Katze dürfte auf der Suche hungrig durch die Gegend streunen.
Daher erweist es sich doch als Vorteil, zumindest für das Tier, daß ich stets ein kleines Fenster offen halte, um es nicht einzusperren. Natürlich hätte ich sie gebeten, sich ein wenig um die Katze zu kümmern, wenn mir die Gelegenheit zu einem Ferngespräch bei meiner Einlieferung vergönnt gewesen wäre, doch die Katze wird sich zu helfen gewußt haben, nachdem ich nicht mehr, wie gewöhnlich, zurückgekehrt bin, und möglicherweise, so kann ich nur hoffen, hat sie sich sogar in ihre Nähe begeben.

Da hatte es sich die Katze auf Ninas Schoß bequem gemacht, und wurde umarmt und gestreichelt. Beide waren dabei so vertieft in ihre zu einander geneigte Tätigkeit, daß ich mir beinah wie ein Störenfried vorgekommen wäre, sollte ich gerade jetzt den Versuch unternommen haben, die Aufmerksamkeit, etwa durch etwas Gesagtes, auf mich zu lenken.
An diesem Abend war etwas aufgetischt worden, und ich wußte einen mittelalterlichen Auflauf zu bereiten, bei dem ein Teig aus saurer Sahne und Mehl eine Füllung aus süßer Sahne, in die ich Lauch und Schinken gegeben hatte, so ummantelte, damit dieses Werk eine gute Stunde im Ofen backen könne. Dieses Gericht wurde nur sehr sparsam von Gewürzen getragen, und es bedurfte gerade einer winzigen Prise Salz und einem Hauch von Pfeffer, den ich einzubringen hatte, um dessen Geschmack entfalten zu lassen. Dazu tranken wir Bier, und saßen einen lauen Sommerabend lang auf dem Balkon meiner Wohnung.
„Ich bin noch nie so wunderbar bekocht worden.“ Mit diesen Worten konnte Nina ihr Gefallen an meiner Mühe kundtun, und mich freuten diese Worte über die Maßen, als ich mit dem letzten Licht des Tages das Geschirr in die Küche davon räumte.
„Und ich habe nie zuvor eine so wundervolle Nachbarin bekocht.“ lautete meine Antwort auf ihr Kompliment, doch mit einer stillen Geste wies sie, kaum wahrnehmbar, meine Nettigkeit zurück.
In der Zwischenzeit, in der ich den Balkontisch von den Dingen unseres Essens entledigt hatte, war nun die Katze angekommen, hatte Nina mit der gebotenen Vorsicht in Augenschein genommen, und ihr, durch das Zurruhelegen auf ihren Oberschenkeln, entspannend die Freundschaft angeboten.
So floß die Zeit dahin, und über uns breitete sich ein allmählich ein klarer Sternenhimmel aus, als wir da saßen, auf dem Balkon darunter. Es war der Sommer, in dem Jupiter das dominierende Glanzlicht der frühen Nächte war, und so fragte ich Nina nach einigen verstrichenen Minuten einfach: „Soll ich dir Sterne zeigen, die du mit bloßem Auge noch nie gesehen hast?“
„Wie?“
Nun erhob ich mich, und deutete mit ausgestreckter Hand auf den hellsten Punkt am Firmament. „Ich hab ein kleines Teleskop, und wenn wir das auf diesen Stern richten würden, den Jupiter, siehst du ihn, dann könnten wir einen Blick auf seine vier großen Monde werfen, die schon Galilei entdeckt hat.“
Daher beschauten wir bei Einbruch jener Nacht die Jupitermonde, von derer vier sich uns allerdings nur drei präsentieren sollten, da sich einer davon wohl verstohlen hinter dem Planeten versteckt hielt.
Und wir fühlten uns nicht nur von der Ferne angezogen, die uns umgab, sondern auch von einander. Wir standen hinter der Linse, als wäre der Platz dort drangvoll eng, und so berührten wir uns ganz nebenbei, und die Schultern rieben sich, immer, wenn wir uns beim Durchblicken ablösten, um ein Stück des Universums zu erspähen. So berührte ich ihre Hand, als Nina sich nach vorn neigte, und dies wurde der Moment, in dem ihre Arme mich umschlangen, und ich es gestattete, von ihr angezogen zu werden, um mich umfangen gedrückt zu fühlen. Und so geschmiegt, um und an einander, fanden sich unsere Lippen ganz von selbst, und es folgte ein dicker Kuß auf den nächsten, dabei streichelte ich ihr durch's Haar und über die Wangen, während die Münder, verspielt und unermüdlich, emsig versunken waren und nicht ans Aufhören zu denken schienen. Also verstärkte ich erneut den Druck meiner Arme um ihren Hals, und Nina lehnte sich dagegen, während der Augenblick sich dehnte, und jene Himmelskörper, derentwillen wir uns aufgestellt hatten, unmerklich ihre Bahn fortsetzten, weil sie von uns nicht aufgehalten werden konnten.
„Laß mich jetzt gehen.“ sagte sie leise, und richtete ihren Kopf auf, um mir in die Augen zu schauen. So lösten wir allmählich unsere Einigkeit, wobei wir uns allerdings keineswegs beeilten, aber nun bewegten wir uns in kleinen Schritten auf die Wohnungstür zu, und stiegen die Treppe hinab zur Straße. Auf dem Hof vorm Haus werkelte jemand in einer gegenüberliegenden Garage, und ein schwacher Lichtkegel drang von dort zu uns herüber. Wir ließen uns davon aber nicht abhalten, zum Abschluß dieses Abends genau dort umarmt zu verweilen, und dann sollte der Zeitpunkt nahen, an dem Nina ging.
„Es war ein schöner Abend.“ flüsterte ich zuvor, und diesmal durfte ich es sein, der diesen Satz in den Mund nahm. Sie nickte und lächelte.
„Schlaf gut, und träum was Schönes.“ lauteten Ninas Worte, mit denen sie sich schließlich entfernte. Dann, als sie die Ecke erreicht hatte, winkte sie noch einmal, und ich tat es ihr nach, denn so lange hatte ich immer gewartet, bis ich in die vier Wände zurückkehrte.


Fortsetzung "Sechs Tage im November (2/2)"
 



 
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