Sechstes Märchen: Vom Geschenk, das eine Hexe macht

VikSo

Mitglied
Sechstes Märchen: Vom Geschenk, das eine Hexe macht

Der nächste Morgen war zufällig ein Freitag und Freitag war, seit Jahr und Tag, in Kais Heimatstadt der Markttag. Dann kamen aus den umliegenden Dörfern Landwirte und Biobäuerinnen, um ihre Produkte auf dem rot gepflasterten Platz im Mittelpunkt der kleinen Stadt feilzubieten. An einem Wintertag wie diesem leuchteten schüchtern errötete Äpfel, langgestreckte grüne Gurken und knackige Salatköpfe, duftete frisch aus dem Holzofen gezogenes Bauernbrot und geduldig gereifter Edamer und der Geschmack von zischend gebratenen fetten Würsten in weichen Wasserwecken ließ einem das Wasser im Munde zusammen laufen. Ein wandernder Käsehändler pries zwischen zwei Kundengesprächen streng riechenden Camembert an. Alles umwogte die Musik von gutmütig übertriebenem Alltagsgeschwätz und im Vorübergehen zugeworfenen Morgengrüßen.
Zielbewusst die Stände ablaufend erstand Kai einen halben Laib warmes, hartkrustiges Roggenbrot, eine Tüte grüner Birnen, sowie eine Packung Schnürsenkel. Er war schon dabei, den Platz wieder zu verlassen, als er zwischen zwei konkurrierenden Gemüseständen eine Tür bemerkte.
Nun war an dieser Tür sicherlich nichts besonderes. Eine Ladentür mit einer bodenlangen, schmierigen Glasscheibe ist in der Innenstadt kein verwunderlicher Anblick. Das Auffälligste an dieser Tür allerdings waren zwei Damen, die in ihrem Rahmen standen. Die eine, kräftig gewachsene, reichte mit ihrem Scheitel bis an den oberen Balken und musste sich bücken, als sie aus dem Geschäft heraus trat. Ihre Freundin dagegen schob einen Gürtel von Speck vor sich her, der ihre winzige Gestalt offensichtlich vor Verletzungen schützte. Beide Frauen kamen Kai bekannt vor – irgendjemand, der ihm als Kind im Supermarkt über den Weg gelaufen war oder in der Schlange vor ihm gestanden hatte. Ihre robusten, sonnenverbrannten Gesichter passten vor den Hintergrund des idyllischen Marktplatzes.
Weniger passend für diese Szene war das beängstigende Pink. Pink in allen Variationen von Schweinchenrosa über Barby-Pink bis hin zu einem satt leuchtenden Magenta. Pink als weiche Seidenbluse und als steifer Baumwollrock, Pink als zu knapp sitzende Jeans, als wagenradgroßer Hut und als Jungmädchen-Haarband, Pink als Lippenstift, Rouge und Lidschatten. Möglicherweise, hätte Kai nah genug gestanden, um sie hören, hätten sogar ihre Stimmen pink geklungen. Fasziniert beobachtete er, wie diese beiden monströsen Märchengestalten unter stetem Geschnatter vor dem Laden ihre Kleider richteten, um endlich in Richtung des Rathauses davon zu eilen, die Riesin mit langen, energischen Schritten voraus stapfend, die Kleine mit eifrigem Tapsen folgend. Was blieb, war die schmutzige Ladentür, die ohne die beiden Schreckgestalten auf einmal ganz normal wirkte. So normal, dass sie Kai zwang, neugierig einzutreten.
Das Geschäft wirkte hell und aufgeräumt. Charmant teilrenovierte altertümliche Regale säumten die Wände. Auf einer ausgeblichenen, abgeschabten Theke stand eine frisch gekaufte elektronische Kasse. Ein Windspiel klirrte blechern beim Auf- und Zuschlagen der Tür. Trockene Heizungsluft strich über Kais nackte Gesichtshaut und trug den Duft von getrockneter Pfefferminze, Orange, Apfelschnitzen und Malve an seine Nase. Der Geruch von reichlich aufgetragenem Parfum wehte von einem Regal her, an dem eine hagere, hoch gewachsene junge Frau lehnte. Sie trug ein schwarzes Strickkleid, das auffällig mit ihrem weißblonden Haar kontrastierte. Ihre Wangen wirkten kalkig, trotz der Anstrengungen, die sie auf den Rouge verwendet hatte. Ihre Stimme flog zusammen mit dem Parfum und dem Kräuterduft zu ihm hinüber.
„Sie interessieren sich für Tee...?“
Eigentlich trinke ich lieber Kaffee. Stark. Schwarz. „Was bieten Sie denn an?“
„Das hängt von ihrem Charakter ab...“ Sie betrachtete ihn aus kleinen dunklen Augen. „Nüchtern... Einfach... Selbstsicher... Forschend... Ordentlich... Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege...“ Ihre Sätze hatten die Angewohnheit, unvollendet zu klingen. Ihre Einschätzung stimmte auffallend.
„Ich empfehle Schwarzen Tee... Zitronengras... Kekse mit dunkler Schokolade... Und Dunkelblau...“
„Dunkelblau?“
„Ihre Farbe... Kleidung in Dunkelblau... Glatte Stoffe, die nicht hinderlich sind... Ich erkenne immer die passende Farbe für meine Kunden...“
„So wie bei den beiden Damen, die gerade den Laden verlassen haben?“ Kai war überrascht über die mangelnde Ironie in seiner Stimme.
„Pink...Laut...Agil...Aufdringlich...Himbeer-Vanille mit viel künstlichem Aroma...Erdbeertorte mit reichlich süßer Sahne darüber... Ein Schoss Likör in den Kaffee...“
Zugegeben, das konnte gut dem Charakter der beiden Frauen entsprechen. „Und woher kennen Sie meinen Charakter?“
„Beobachtung... Menschenkenntnis... Eindeutige Anzeichen... Und Frau Grünwald war gestern Mittag hier, um von der Beerdigung zu erzählen... Das macht 6,29 Euro...“
Zu Kais Überraschung bemerkte er in diesem Moment ein Jutesäckchen, das er in der Hand hielt. Es roch nach Zitrone und einem Hauch von etwas anderem, dass seine Sinne anregte. Er konnte sich nicht erinnern, es bestellt zu haben, aber es zu besitzen, fühlte sich ganz richtig an. „Können Sie auf 50 Euro rausgeben?“
Die junge Frau nahm den Geldschein gnädiger Geste entgegen. Kai betrachtete interessiert, wie ihre Spinnenbeinfinger das Wechselgeld hantierten.
„Schwarz.“
Ihre sachte gehobenen Brauen sagten ihm, dass er laut gedacht hatte, was ihn zu einer Erklärung nötigte: „Ist das Ihre Farbe? Schwarz?“
Münzen klirrten in eine Porzellanschale mit Blumenmuster, die für das Wechselgeld vorgesehen war. „Andernfalls trüge ich es nicht... Es ist ungesund, etwas an sich zu haben, das einem nicht entspricht... Sie sollte sich von dieser Mütze trennen...“
Kai tastete unbewusst nach der leuchtend grünen Kunstfasermütze, die ihm seine letzte Freundin geschenkt hatte. „Dann haben Sie einen schwarzen Charakter? Ungewöhnlich, so etwas von sich selbst zu behaupten.“
Die scharfen Äuglein flitzten hin und her, als scannten sie sein Gesicht ab. Schwarz, dachte Kai. Ihre Augen sind schwarz. Eine Erinnerung regte sich in seinem Hinterkopf.
„Hexen...“
„Bitte?“, hikste Kai. Nicht schon wieder!
„Ich bin eine Hexe... Von Geburt an... Kein Grund, das zu leugnen... Schwarz ist unser Wesen... Mein Name ist übrigens Maria...“
Leben denn hier nur noch Verrückte? „Maria – Schön, Sie kennen zu lernen. Leider muss ich jetzt gehen.“
„Essen Sie Kekse mit Bitterschokolade zu dem Tee... Trinken Sie ihn keinesfalls kurz vor dem Einschlafen... Grüßen Sie Viola von mir...“

Als Kai den Laden verließ, schien die Luft draußen dichter geworden zu sein, als drohe ein Sommergewitter über der winterlichen Stadt. Bis vor die Tür seines Hauses folgte Kai der Hauch von getrockneten Teeblättern und abgenutztem Holz. Er fühlte sich etwas benommen. Die Kälte, die um Mittag herum eher angezogen als nachgelassen hatte, drang ihm kaum ins Bewusstsein.
Den Tag verbrachte er damit, Emails zu beantworten, die ihm Kommilitonen und sein Doktorvater während seiner Abwesenheit geschickt hatten. Danach stöberte er in den Stellenanzeigen mehrerer Universitäten und Forschungsinstitute und bereitete zwei Bewerbungen vor. Gegen 20 Uhr schmierte er sich in der Küche zwei Brote, die er am Schreibtisch verschlang.
Der Zeiger ging auf 22 Uhr zu. Viola, seine neue Mitbewohnerin, war noch nicht aufgetaucht. Kai schaltete Großvaters Röhrenfernseher ein und zappte durch. Er überlegte, eine weitere Weinflasche zu entkorken, entschied sich dann aber, statt dessen Marias Tee zu probieren. Als Physiker war er immer für Experimente offen. In einer Schublade fand er ein Teeei, dessen Gebrauch ihm mangels Übung einige Schwierigkeiten bereitete. Als er die Kräuter mit dem noch brodelnden Wasser übergoss, stieg ihm sofort ein schwerer, prominenter Duft in die Nase und legte sich betörend auf seinen Geist. Er spürte, wie sich seine Muskeln entspannten. Vorsichtig schlürfte er auf dem Sofa die ersten Schlucke. Der Sud war zuerst bitter; dann entfaltete sich ein säuerlich-erfrischendes Aroma und dann, im Abgang, eine Note, die er nicht ganz einordnen konnte. Nicht schlecht, aber ungewohnt.
Prüfend nahm er nun einen größeren Schluck, dann noch einen, dann noch einen. Kaum dass er es merkte, war die Tasse leer. Wohlig seufzend lehnte sich Kai in den Kissen zurück. Er fühlte sich leicht. Sein Kopf schwebte. Er wurde sich des ruhigen Schlagens seines Herzens bewusst. Dann verloren die Gegenstände um ihn ihre Umrisse. Farben flossen zäh ineinander.
In diesem Moment schlief Kai ein. Obwohl er das noch nicht gleich merkte.
Im Traum erhob er sich vom Sofa. Keine Minute schien vergangen zu sein und doch kam es ihm vor, als habe sich das Haus in tausend Einzelheiten verändert, die er nicht benennen konnte. Luft, dachte er. Ich brauche frische Luft.
Die Nacht draußen war kühl. Wolken bedeckten den Himmel. Unerklärlicherweise brannten die Straßenlaternen nicht. Nur schwarze Silhouetten erhoben sich in der nächtlichen Umgebung.
Wenn ich doch nur eine Lampe hätte!, schoss es Kai durch den Kopf. Höflicherweise glitten in diesem Augenblick die samtigen Wolken beiseite, um einen glänzend weißen, kreisrunden Mond zu enthüllen. Magisches Strahlen ergoss sich über die Welt.
Möglicherweise lag es an dem plötzlichen Wechsel des Lichts, dass Kai eine Bewegung am Gartenzaun wahrnahm. Einbrecher? Aber nein! Das war nur ein Fuchs, der in der Hoffnung auf ein Abendessen um die Mülltonnen schlich. Sein Fell glänzte im Mondlicht silbern.
Vielleicht sollte ich ihn wegscheuchen, bevor er den Hausmüll auf der ganzen Straße verteilt?
Kai ging ans Gartentor und klatschte in die Hände. „Sch! Sch!“ Wovon sich der Fuchs nicht beeindrucken ließ. Er sah nur neugierig zu dem jungen Mann auf. Ob er wohl Tollwut hatte?
Da huschte am Rande von Kais Gesichtsfeld etwas über die Straße. Als er aber genau hinsah, war es verschwunden. Oder? Da! Auf Nachbars Grundstück! War das ein Dachs? Nein.
Dies hielt Kai für den geeigneten Zeitpunkt, die Polizei zu holen. Oder den Jäger. Auf Nachbars Rasen, unweit des verkrüppelten Kirschbäumchens, wühlte ein Frischling im Boden.
Ob die Frau Mama wohl auch in der Nähe ist?, überlegte Kai. Er hatte aber keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn genau da wurde er sich einer hektischen Betriebsamkeit zu seinen Füßen bewusst. Na so was! Zu dem einen Fuchs hatten sich zwei weitere gesellt. Zu dritt starrten sie ihn an und legten nachdenklich die Köpfchen schief.
Gleich darauf spürte Kai über sich einen Luftzug. Wie er den Kopf hob, blickte er einem Raben hinterher, der eine Runde über dem Garten drehte, bevor er sich auf der Dachtraufe niederließ. Doch er war nicht der einzige Gast. Zu Kais maßloser Verwunderung wimmelte es in dem silbern erleuchteten Garten auf einmal vor Leben: Auf dem toten Ast eines Apfelbaums hockten nebeneinander aufgereiht zwölf Spatzen, die aufgeregt tschilpten, während am Stamm des Baumes eine Karawane von Schnecken mit sandfarbenen Häusern aufwärts rutschte. Das silbergrün leuchtende Gras wogte rhythmisch hin und her. Die Zweige der kahlen Rosenbüsche reckten sich knarzend nach rechts und nach links. Zu dem Frischling nebenan hatten sich inzwischen zwei oder drei Geschwister gesellt, mit denen er quiekend Fange spielte. Eine streunende Katze hielt im Laufen inne, um ihnen dabei zuzusehen. Vom Balken eines Laternenmastes über ihr schuhuhte ein Uhu mit hochgezogenen Schultern. Eine Spitzmaus flitzte aus dem Gulliloch heraus über die Straße. Kreischend stieß ein Bussard auf sie hernieder, krallte sie, trug sie einige Meter weit über den Rasen, um sie dort behutsam abzusetzen.
Kai war noch dabei, sich zu wundern, als etwas hinter ihm knurrte. Er fuhr herum, in der Erwartung, zumindest einem Braunbären gegenüber zu stehen. Es war aber kein Bär, kein Wolf und auch kein Yeti. Hinter ihm stand, gebeugt wie eine Greisin, die Trauerweide, die dort schon seit Ewigkeiten wuchs. Ihre dürren, biegsamen Arme wiegten sich hin und her, schlangen sich ineinander, streckten sich verlangend nach dem jungen Mann aus. Ein Ast streichelte seine Wange. Kai hob die Hand, um ihn zu berühren – Da verschwand er. Der Ast verschwand wirklich und wahrhaftig, löste sich vor den Augen des Jungen in Luft auf. Ja, als Kai seinen Blick aufhob, erkannte er gar, dass der ganze Baum aus dem Garten verschwunden war. Silbriges Gras wuchs an der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte.
Kais Augen schnellten zum Dach. Der Rabe, der sich dort niedergelassen hatte, hob die Flügeln, als zuckte er die Schultern. Im nächsten Moment verschmolz sein pechschwarzes Gefieder mit der Nacht – dann war auch er gegangen.
Was geht hier vor?, dachte Kai. Die Wildschweinchen? Die Schnecken? Fort. Die Katze, der Uhu, die Maus? Wo sind sie alle? Bestürzt eilte er zurück zu den Mülltonnen. Die Füchse hockten noch da, ängstlich aneinander gedrängt. Bang jaulte der größte von ihnen, flehentlich die großen Augen auf den Menschen heftend. Dann lösten auch die drei sich in Luft auf.
Ganz still war die Nacht auf einmal. Keine Laute, keine Bewegungen. Nicht einmal der Wind wehte mehr durch die Straße. Eisig schien der weiße Mond vom Himmel herab. Eine Gänsehaut rannte über Kais Arme. Von plötzlicher Panik ergriffen wollte er um Hilfe rufen.
Da wachte er auf.
 



 
Oben Unten