Seele füttern verboten

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Astrid

Mitglied
Im April bekomme ich Bescheid, haben sie beim Vorstellungsgespräch gesagt. Ich will nicht daran denken und denke doch seitdem jeden Tag daran. Nun ist April. Okay, erst der zweite.
Wieder halte ich mich am Schreiben fest. Meine Finger zerteilen mit ihrem Tippen die Zeit des Wartens. Zack, wieder ein kleines Stück. Zack, ein nächster Tag Warten, zack, weg.
Leichtfüßig laufe ich die Stufen zum Briefkasten runter. Ohne Hintergedanken. Will einfach nur kurz eine Pause einlegen, Luft schnappen, es ist schön draußen, vielleicht gehe ich nachher noch eine Runde, der Tag ist ja noch…
Da liegt er. Der große Umschlag in diesem hässlichen Recycle -Farbton.
Es trifft mich. Es trifft mich mehr, als ich gedacht hätte. "Wir bedauern es sehr…" Wütend werfe ich die Absage auf den Schreibtisch, von dort aus segelt sie leise in den Papierkorb, den ich nach dem Leeren noch nicht wieder unter den Tisch geschoben hatte. Richtig. Da gehörst du auch hin. Mir platzt fast der Hals. Ich tigere durch die Wohnung. Warum? Mit spitzen Fingern fische ich das Papier wieder raus und schaue auf das Datum. Vielleicht ist es ja ein Aprilscherz? 31. März.
Er ist gerissen - der dünne Faden Hoffnung. Wieder einmal. Hundertmal, tausendmal in diesem Land, schon zu oft auch bei mir. Meine Schultern sacken nach unten, als müssten sie dicke Sandsäcke tragen. Sand. In den Sand gesetzt. Ich fühle mich wie ein Luftballon, der langsam immer mehr an Höhe gewonnen hatte und nun mit gerissener Schnur ziellos durch die Luft segelt. Sturzflug.
Ich muss mich sortieren. Diese Arbeit wäre mehr als nur ein Job gewesen, sie hätte auch meine Seele gefüttert, nicht nur mein Portemonnaie. Plötzlich habe ich ein Bild vor Augen, jemand hält ein großes Schild, ein Plakat in die Höhe: Seele füttern verboten.
Ich rufe Kerstin an und heule mich aus. Sie versteht mich, hat mir die Daumen gedrückt und ist nun auch wieder zu Hause nach einer halbjährlichen Maßnahme. Das Leben als Maßnahme. Maßnehmen. Ich muss maßnehmen, wie es passt, wieder passt, weiter passt mein Leben. „Nicht mal Schnaps habe ich zu Hause“ sage ich zu ihr. „Der hilft auch nicht“ sagt sie.
Ich muss etwas unternehmen, ich werde etwas unternehmen. Montag. Ich probiere ein zaghaftes Strecken und drücke die Schultern nach hinten. Nicht unterkriegen lassen! Alles wird. So rede ich doch immer und glaube daran. Und nun?
Nun kille ich die letzten Schokohasen und schreibe meine Ohnmacht in den Computer.
 

Zarathustra

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Sturzflug

Gut, - ganz gut sogar.

Du schreibst über das , was du kennst.
Du schreibst, also lebst du.

Mehr gibt es darüber nicht zu sagen!

L.G. Hans
 

Wolkenreiter

Mitglied
Liebe Astrid

Was du da beschreibst entspricht dem, was ich vor fünf Jahren erlebt habe: das qualvolle Warten auf eine Zusage oder eine Absage nach einer erfolgversprechenden Stellenbewerbung. Leider kam eine Absage ... - Textlich hast Du das sehr eindrucksvoll umgesetzt, deshalb hatte ich sofort dieses déjà-vu. - Gut gemacht!

Liebe Grüsse,
Wolkenreiter
 

Astrid

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Re: Sturzflug

Hallo Hans,

danke für deine Einschätzung, Zustimmung, damit gießt du ein wenig Wasser auf die doch ewig brennenden Zweifel. Ja, wenn ich darüber schreibe, was ich kenne, bin ich am glaubhaftesten, denke ich. Und das ist mein Anliegen, vor allem mit den vielen kurzen Tagebuchtexten, die ich in der letzten Zeit hier reinstellte. Persönlich zu sein, aber ohne Nabelschau zu betreiben, sondern dich durch mich zu erreichen und wieder zu mir zurückzukommen. Ja ich lebe, ja ich schreibe!
Astrid
 

Astrid

Mitglied
Hallo Wolkenreiter,
auch dir möchte ich danken.
Danke für dein Kompliment, es ermutigt mich, weiterzumachen. Ich war ein wenig unsicher, ob ich dieses Thema nicht zu leicht angefasst habe. Es ist nicht schön, dass du solche Erfahrung auch gemacht hast und dass mein Text dich nun daran erinnert hat. Und doch ist es gut, dass er das vermag. Es macht mich stärker. Wie auch die Absage.
Liebe Grüße
Astrid
 



 
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