Seelenmusik

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Von einer Sekunde auf die nächste war ich hellwach. So wach, dass an weiteren Schlaf nicht mehr zu denken war. Was genau mich aufgeweckt hatte, wusste ich nicht, aber einer bestimmten Ahnung folgend, schlüpfte ich in meine Hausschuhe und tapste vom Schlaf- ins Wohnzimmer. Als ich die Balkontür öffnete, schlug mir die kühle Morgenluft entgegen. Für einen Moment schloss ich die Augen, atmete tief durch und wartete, bis ich mich an die Außentemperatur gewöhnt hatte. Schließlich trat ich auf meinen Balkon hinaus.

Ich mochte es, wenn die Stadt erwachte. Rechts vor meinem Balkon, in etwa 30 Meter Entfernung, lag eine Bushaltestelle. Ein Bus fuhr dort gerade in die Haltestellenbucht. Der Fahrer bremste und kam schließlich zum Stehen. Dieses eigentümliche Geräusch der Scheibenbremsen, das ich so nur von Bussen kannte, gefiel mir. Manchmal war dieses Geräusch das letzte, das ich vor dem Einschlafen hörte. Ich fand diesen pfeifenden Ton melodisch und auf seltsame Weise beruhigend. Gedankenverloren knipste ich ein verschrumpeltes Blatt von meinem Rhododendron ab.

„Das wird aber auch Zeit, dass du endlich hier draußen erscheinst, Sandra!“
Erschrocken zuckte ich zusammen. Woher kam diese Stimme? Ich drehte mich verwirrt um die eigene Achse und suchte nach der Quelle, doch außer mir war niemand auf dem Balkon. Suchend lehnte ich mich über das Geländer, um festzustellen, ob meine Nachbarin mir einen Streich spielen wollte, doch ihr Balkon war leer.
„Hier oben links“, hörte ich es deutlich leiser als beim ersten Mal und meinte, so etwas wie Belustigung aus der weiblich klingenden Stimme herauszuhören. Meine Augen folgten der angegebenen Richtung, aber das einzige, das ich sah, war ein Spinnennetz, das voller Wassertropfen hing. Fasziniert von diesem Anblick, schien wie auf Bestellung die aufgehende Sonne direkt in das Netz und ließ die Wassertropfen wie Glasperlen funkeln.
„Komm näher heran“, dirigierte mich die Stimme, „ich bin schließlich ein bisschen kleiner als du. Ein wenig musst du mir schon entgegen kommen, Sandra.“
Folgsam trat ich näher an das Spinnennetz heran und stellte mich auf die Zehenspitzen, um es genauer betrachten zu können.
„Na endlich!“
„Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte ich verwundert, denn die Stimme schien der kleinen Spinne zu gehören, die regungslos am oberen Rand ihres Netzes saß. Sie war ganz schwarz. Ich war überzeugt davon, dass Spinnen ab einer gewissen Größe Menschen angreifen konnten.
„So ein Quatsch!“, kommentierte die Spinnenfrau meine Gedanken. Ich musste in diesem Moment wohl ein ziemlich dusseliges Gesicht gemacht haben, denn sie gab ein heiser kehliges Geräusch von sich, das mich entfernt an menschliches Lachen erinnerte.
„Spinnen greifen von sich aus keine Menschen an.“ Sie neigte ihren kleinen dunklen Kopf zu mir, „Das darfst du mir als Vertreterin dieser Spezies gern glauben.“
Ich bildete mir ein, dass die Spinne mich anlächelte. Konnten Spinnen überhaupt lächeln? Nun, diese konnte zumindest sprechen!
„…und Gedankenlesen können wir auch“, vollendete sie meinen Gedankengang.

Ich versuchte, mich zu sammeln, atmete tief durch und sprach die Spinne dann das erste Mal direkt an: „Wie heißt du? Was machst du auf meinem Balkon? Und warum kannst du sprechen?“, sprudelte es aus mir heraus.
„Meinen Namen könntest du nicht aussprechen. In deiner Sprache würde man mich in etwa Samira nennen. Auf deinem Balkon bin ich, um dir gleich deine Seelenmusik vorzuspielen, und ich kann sprechen, weil alle Tiere sprechen können. Es liegt nur an den Menschen, wenn sie ihre Sprache nicht verstehen.“ Samira machte eine Pause und richtete sich etwas auf.
„Meine Seelenmusik? Was bedeutet das?“ Ich sah die Spinnenfrau vor mir fragend an.
„Jeder Mensch hat eine eigene Seelenmelodie, die irgendein Tier dieser Welt in sich trägt. Die meisten Menschen hören ihre Seelenmusik nie. Der einfache Grund dafür ist, dass sie dafür nicht bereit sind“, erklärte Samira mir.
„Und ich bin bereit? Warum?“
„Anscheinend“, lächelte sie. Spinnen konnten sehr wohl lächeln, stellte ich fest, zumindest die weiblichen.
„Die männlichen auch“, Samiras Lächeln wurde dabei noch breiter. „Warum ich dir deine Seelenmusik vorspielen darf, weiß ich nicht. Meine Aufgabe ist es nur, das zu tun, mehr nicht.“
„Oh“, antwortete ich und wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte.
„Bist du bereit?“ Samira schien ein wenig ungeduldig zu werden. Vielleicht wollte sie auch nur schnell ihre Aufgabe hinter sich bringen. Ich nickte ihr zu. Die kleine Spinnenfrau streckte sich erneut und hob dann jedes ihrer acht Beinchen nacheinander kurz an, um diese einzeln auszuschütteln. Ich sah ihr dabei verwirrt zu.

Samira bewegte sich langsam, Schritt für Schritt, vom oberen Rand ihres Netzes in die Mitte. Ein Ruck ging durch ihren kleinen, schwarzen Körper, dann begann sie an den einzelnen der filigran gewebten Fäden ihres Spinnennetzes zu rütteln, so dass sich die Wassertropfen lösten und entlang der Fäden kreuz und quer herunter liefen. Dabei entstanden einzelne Töne, die sich langsam zu einer Melodie verbanden.
Völlig gefangen von dem Schauspiel, beobachte ich Samira, die in unglaublicher Schnelligkeit Faden für Faden zog, sowie die Wassertropfen, in denen sich noch immer das Sonnenlicht brach, und die sich funkelnd ihren Weg entlang der Netzfäden bahnten. Die Musik schwoll langsam an, wurde lauter, dann wieder leiser. Ich fand die Melodie, die Samira so virtuos spielte, wunderschön und begann wie in Trance mitzusummen. Ein immenses Glücksgefühl breitete sich in meiner Brust aus. Es fühlte sich an, als wäre die Musik in mir und würde mich ganz und gar ausfüllen. Ich empfand etwas Warmes, das sich angenehm in mir ausbreitete. Von meiner Brust aus kribbelte sich dieses Gefühl durch meinen Körper bis es in meinen Fingerspitzen und Zehen angekommen war. So musste sich Glück anfühlen, dachte ich.

Als alle Wassertropfen verspielt waren, verklang meine Seelenmelodie langsam, und auch das warme Gefühl in mir ebbte ab. Samira keuchte, sie schien total erschöpft zu sein.
„Oh Samira, das war einfach wundervoll! Ich bin noch immer ganz ergriffen… Du hast mir mit deiner musikalischen Virtuosität einen wahren Ohren- und Augenschmaus beschert! Wie kann ich dir dafür nur danken?“
Die Spinnenfrau grinste und freute sich augenscheinlich über mein Lob und meine Begeisterung über ihr Spiel. In diesem Moment klingelte mein Telefon.
„Wer zur Hölle ruft mich denn in einem so unpassenden Moment an,“ fluchte ich.
„Einen Augenblick bitte. Ich bin gleich wieder bei dir“, entschuldigte ich mich bei Samira und sprang schnell durch die offene Balkontür zurück in mein Wohnzimmer. Mein Telefon lag auf dem Tisch vor dem Sofa. Als ich es in der Hand hatte, hörte es auf zu schellen.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Ich war wütend. Alle Ergriffenheit, die ich eben noch durch das Hören meiner Musik empfunden hatte, war schlagartig dahin. Ich schüttelte wütend den Kopf, legte mein Telefon auf den Tisch zurück und trat wieder auf meinen Balkon hinaus. Ganz nah trat ich an Samiras Netz heran, doch die kleine Spinnenfrau war fort. Ich suchte den gesamten Balkon nach ihr ab, konnte sie jedoch nirgendwo mehr finden. Enttäuscht zog ich mich schließlich wieder in meine Wohnung zurück.

Zeit meines Lebens ging mir meine Seelenmusik nie wieder aus dem Kopf. Ich erzählte niemandem von der seltsamen Begegnung mit der sprechenden Spinnenfrau Samira, wusste ich doch nur zu gut, dass mir diese Geschichte keiner geglaubt hätte. Manchmal, wenn ich selbstvergessen meine Seelenmelodie vor mich hin summte, wurde ich auf diese eigentümliche Melodie angesprochen. Fast allen, die sie von mir hörten, gefiel diese Musik.

Heute bin ich achtundachtzig Jahre alt, mein Geist fühlt sich zwar deutlich jünger an, doch mein Körper ist verbraucht. Ich bin schwerkrank und sehne mir oft das Ende herbei, wenn meine Schmerzen zu stark werden. Wie alle Menschen, die wissen, dass der Tod naht, frage ich mich immer öfter, was mich nach dem irdischen Dasein wohl erwarten wird.
Meine Schmerzen sind wieder sehr stark. Selbst die hoch dosierten Morphiumpräparate scheinen nicht mehr zu helfen. Ich seufze und versuche die Schmerzen zu ignorieren, damit ich endlich einschlafen kann.

Da!

Zuerst denke ich noch, dass ich es mir einbilde, aber die Musik wird lauter und lauter. So laut habe ich meine nicht gehört, als Samira sie mir damals vor so vielen Jahren auf meinem Balkon vorgespielt hat. Ich entspanne mich. Jetzt habe ich keine Angst mehr zu sterben.
 

Mira

Mitglied
Hallo,

deine Geschichte hat mich gerührt. Dass dir jemand dafür nur drei Punkte in der Wertung gegeben hat, kann ich nicht nachvollziehen. Vielleicht sind sprechende Spinnen nicht jedermanns Sache. Für mich kam die Botschaft durch, dass wir ein Teil des Ganzen (was immer sich der Einzelne auch darunter vorstellen mag) sind, der Mensch nicht isoliert zu sehen ist und wir das, spätestens wenn wir sterben, spüren werden. Ich fand die Geschichte gut.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
auch

ich finde die geschichte gut.
mira, du könntest die miese bewertung mit einer guten wettmachen.
lg
 

Mira

Mitglied
Das hole ich sofort nach. Hab's doch glatt vor lauter Schreiben gestern vergessen. Sorry.

Gruß von Mira
 

maerchenhexe

Mitglied
Liebe Schnacktasche,

eine fein gesponnene Geschichte, die den Mensch als einen kleinen Teil des großen Ganzen zeigt.

ganz lieber Gruß
maerchenhexe
 

MarenS

Mitglied
Sehr, sehr schön, einfühlsam und leise...und doch sehr eindringlich. Das fällt mir zu dieser Geschichte ein.

Grüße von Maren
 

FrankK

Mitglied
Eine herrliche, gefühlvolle Geschichte.
Alleine schon der Name der Spinnenfrau: "Samira".

Es passt einfach alles zusammen. :)
Gratuliere.

Frank
 
Ich danke euch allen sehr für eure wohlwollenden und wirklich ermunternden Kommentare, denn dieser Text stand ja lange umkommentiert hier, nachdem er durch einen Admin - für mich unverständlich - aus der Rubrik "Kurzgeschichten" in "Fantasy und Märchen" verschoben wurde.

Herzliche Grüße von Schnack.
 

Inu

Mitglied
Ich finds grässlich. Wenn Du es wenigstens noch als wirkliches Märchen und nicht in der Ich-form geschrieben hättest.

Für mich ist es einfach ein unehrliches Geschreibe, tut mir leid. 'Seelenmusik' aus dem Spinnennetz, die man dann auf dem Sterbebett auf einmal wieder hört ( Musik in Verbindung mit einer Spinne zu bringen, finde ich ohnehin schon krank ) eine Spinnen-Seelenmusik also, die einem angeblich die Angst vor dem Tod nimmt ... ich mag so ein an den Haaren herbeigezogenes Zeug nicht. Für mich passt da einfach gar nichts zusammen
Schüttel ...

Gruß
Inu
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

liebe inu, man kann auch in der ich-form ein richtiges märchen schreiben.
wenn du alles in der ich form geschriebenes, aber erfundenes als unehrlich bezeichnen möchtest, da verdammst du eine ganze reihe toller geschichten. zb gullivers reisen.
lg
 

Inu

Mitglied
Hallo Flammi

Das hier empfinde ich als Pseudo-Esoterik. Grauenhaft.

Ich empfinde es so, andere mögen es lieben. Die Geschmäcker sind eben verschieden

Liebe Grüße
Inu
 
Liebe Inu,

Für mich ist es einfach ein unehrliches Geschreibe, tut mir leid. 'Seelenmusik' aus dem Spinnennetz, die man dann auf dem Sterbebett auf einmal wieder hört ( Musik in Verbindung mit einer Spinne zu bringen, finde ich ohnehin schon krank ) eine Spinnen-Seelenmusik also, die einem angeblich die Angst vor dem Tod nimmt ... ich mag so ein an den Haaren herbeigezogenes Zeug nicht. Für mich passt da einfach gar nichts zusammen
Schüttel ...
Es gibt da ein Instrument, das heißt "Spinett". Guckst du hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Spinett

Lächelnde Grüße von Schnack.
 



 
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