Seine Liebe

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strumpfkuh

Mitglied
Seine Liebe

Er war ihr sofort aufgefallen, damals vor so vielen Jahren. Es war nicht sein gutes Aussehen, das war eher eine kleine Draufgabe zu der wissenden Güte, die ihn wie eine Aura umgab. Daran hatte sich nichts geändert in der Zeit, in der sie unzählige Stunden miteinander verbracht hatten, ohne sich wirklich je nahe gekommen zu sein.
Über zehn Jahre war es nun her, seit sie als Referendarin im Ludwig Georgs Gymnasium ihre Stelle an seiner Seite angetreten hatte. Vollkommen unerfahren und das Studium gerade erst beendet hatte sie an seinen Lippen gehangen, während er ihr vorführte, wie man all die theoretischen Vorstellungen mit Leichtigkeit in die Praxis umsetzen konnte. Es war ihr ergangen, wie allen anderen in seiner Umgebung. Männer wie Frauen, Schüler wie Lehrer, alle waren verzaubert von seiner väterlichen Großherzigkeit, von seiner Reife, von seinem Können, von seinem Charme und seinem zarten Humor, der niemals ironisch oder herablassend sonder stets verstehend und optimistisch war.
So hatte er ihr vor ihrer ersten eigenen Unterrichtstunde mit einem Augenzwinkern ins Ohr geflüstert: „Das erste Mal sollte gerade so gut sein, dass man es zwar nie vergessen, aber sich mit jedem weiteren doch noch verbessern kann...“
Und dann hatte er sich in die hinterste Schülerbank gesetzt und sie nicht einmal unterbrochen, während sie zunächst schüchtern aber dann zunehmend selbstbewusster mit jugendlichen Schülern im Rahmen eines Gemeinschaftskunde- Unterrichtes über Kriege diskutierte.
Fast vergaß sie ihn, sosehr vertiefte sie sich in die Beiträge der Schüler, und sosehr fühlte sie sich auch von ihnen ernst genommen. Als am Ende der Stunde der Pausengong ertönte, und niemand aufsprang, sondern jeder enttäuscht schien, dass die Diskussion nun nicht weiter ging, da wusste sie, dass auch er nun beeindruckt war.
Sie war enttäuscht, dass er sie von da an in jeder Stunde mit ein bezog, denn das bedeutete ja für sie, dass sie ihn nicht länger stillschweigend beobachten konnte. Aber dafür spürte sie sein Interesse an ihrer Person wachsen, und in ihrer Fantasie träumte sie bereits von Leidenschaft und körperlicher Liebe.
Ihre gemeinsame Arbeit war perfekt, und auch äußerlich passte einfach alles. Er war groß, dunkelhaarig, kräftig und sie zierlich, blond und einen Kopf kleiner als er. Alles war wie im Märchen, und schon daher konnte es nicht wahr werden.
Aber das wurde ihr nur langsam bewusst. Einfach, weil sie es nicht verstehen konnte.
Woher kam diese Mauer, wer hatte die Grenze errichtet? Warum kam sie ihm so nahe und doch niemals nahe genug?
Zaghaft hatte sie versucht, die Initiative zu ergreifen, nachdem sie vergeblich gewartet hatte, dass er einen Schritt weitergehen würde. Es war doch nur dieser eine Schritt, der fehlte. Schon lange verbrachten sie auch einen Teil ihrer Freizeit miteinander. Sie wusste von den Jahren, die er in Südafrika gearbeitet hatte und von der afrikanischen Frau, die vor ein paar Jahren gestorben war. Sie hätte daher auch verstanden, dass er sich nicht leicht tat damit, eine neue Beziehung aufzubauen. Aber dass es unmöglich war, das begriff sie nicht.

Er ließ es nicht zu. Mit ihr genauso wenig, wie mit all den anderen, die es außer ihr versuchten. All die flüchtigen Berührungen, die Blicke direkt in seine Augen, die Zweideutigkeiten in ihren Worten, stets tat er so, als ob all das nicht vorhanden wäre.

Sie hatte sogar darüber nachgedacht, ob er homosexuell oder sogar impotent sein könnte. Aber sie glaubte es nicht. Nicht mehr, seit der Klassenfahrt, auf der sie zwei als Betreuer mitgefahren waren. In der gemeinsamen Nacht hatte sie ein kurzes Flackern in seinen Augen gesehen, bevor es von etwas anderem, undefinierbaren abgelöst worden war. Aber es hatte lange genug gedauert, um sie endgültig davon zu überzeugen, dass er ihre Gefühle teilte. Trotzdem hatte sie ihn nicht geküsst, sie hatte nicht den Mut dazu gehabt, wegen diesem anderen Undefinierbaren, das sie in seinen Augen gesehen hatte.

Und dann war er gegangen. Er hatte einfach die Schule verlassen. Überraschend und so schnell, dass ihr der Atem ausgesetzt hatte. Ohne ein weiteres Wort zu ihr.

Ihre Wut war schnell vergangen. Wenn sie überhaupt je existiert hatte. Zurück blieb eine Traurigkeit von unbegrenztem Ausmaß.
Niemand hatte es ihr erklären können. Niemand hatte ihn ihr erklären können. Niemand kannte ihn, so schien es ihr.

Jahre vergingen. Und dann kam der Brief.
Zwei Worte, es waren nur zwei Worte und eine Adresse in einer fremden Stadt.
Innerhalb weniger Minuten war ihr Koffer gepackt. Ohne zu zögern hatte sie sich krank gemeldet.
Zwei Worte, kaum zu lesen, krakelig, krank.
„Bitte komm“. Und die Adresse einer Frau in einer fremden Stadt.

Sie konnte nicht anders, als sofort zu fahren. Die Frau war seine Schwester. Sie begrüßte sie traurig aber liebevoll, und dann gingen sie zu ihm. An sein Sterbebett.

In Südafrika hatte er sich infiziert. Jahrelang war er nicht erkrankt, aber er hatte es gewusst. Und er hatte es angenommen: Seine Krankheit, die in ihm saß und darauf wartete, eines Tages zuzuschlagen.
Und dann saß sie bei ihm und verstand. Sie sah seinen abgemagerten Körper, sie hörte seinen trockenen Husten, sah die seltsamen Flecken auf seiner Haut und erkannte, wovor er sie geschützt hatte. Sie verstand das Undefinierbare damals in seinem Blick, verstand die Mauer, die das Virus errichtet hatte. Sie verstand, nahm seine Hand, presste ihr Gesicht an seines, weinte um ihn, weinte um sich, weinte um ihre und um seine Liebe.
Sie wusste nicht, ob er ihre Tränen noch spüren konnte, aber als er seinen letzten Atemzug tat, ahnte sie die Größe seiner Liebe, denn die war stärker gewesen als das Virus.



I
 

think twice

Mitglied
Hallo strumpfkuh,

Eine sehr berührende Geschichte. Habe schon lange nichts so Gutes mehr gelesen. Ausgezeichnet geschrieben. Man kann sich richtig gut eindenken und einfühlen. Ich würde mir wirklich wünschen, mehr solcher Werke zu lesen zu bekommen.

Liebe Grüße
think twice
 
D

Daktari

Gast
Gefühlvoll, aber nicht up-to-date

Hallo!

Eine tolle Geschichte, die berührt, traurig macht, aber irgendwo auch glücklich.
Bitte versteh das jetzt nicht falsch. Die Story ist klasse geschrieben. Falls die Story eine autobiographische Basis hat, dürfte sie schon ein paar Jahre zurück liegen. Vielleicht sollte man die Jahreszahl kurz erwähnen. In der heutigen Zeit, ist die Medizin so hervorragend, daß normaler an HIV fast keiner mehr stirbt, wenn nichts anderes dazu kommt. Daher der Vermerk, sie macht glücklich. Weil ein Ende durch AIDS der Vergangenheit angehört. 10 Jahre früher in der gleichen Situation - ich glaube, ich könnte keine Texte mehr schreiben - jedenfalls keine optimistischen.

Ciao

Tim
 

think twice

Mitglied
Re: Gefühlvoll, aber nicht up-to-date

Ursprünglich veröffentlicht von Daktari
In der heutigen Zeit, ist die Medizin so hervorragend, daß normaler an HIV fast keiner mehr stirbt, wenn nichts anderes dazu kommt. Daher der Vermerk, sie macht glücklich. Weil ein Ende durch AIDS der Vergangenheit angehört.
Hallo???

Sag mal, von welchem Planeten kommst du denn?

Liebe Grüße
think twice
 

strumpfkuh

Mitglied
Vielen Dank euch beiden für euer Lob

Lieber Think Twice,
das sind ganz aufbauende Worte, die werd ich mir noch öfter durchlesen!

Lieber Daktari,
ich weiß, dass es heute hervorragende und auch immer neue Medikamente gibt, die den Ausbruch der Krankheit verhindern oder verzögern können. Trotzdem sterben auch in Deutschland noch immer Menschen an HIV, ich erlebe das selbst während meiner Arbeit als Krankenschwester auf Intensivstation. Je später die Ansteckung erfolgte, desto größer ist natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass man Medikamente bekommt, die greifen. Dein Optimismus ist also bestimmt gerechtfertigt, und ich habe daher erstens keine Angabe über ein Datum in meiner Geschichte gemacht, und zweitens liegt die Ansteckung des Mannes ja auch schon sehr, sehr lange zurück, so dass ich seinen möglichen Tod für durchaus realistisch halte.
Ich freue mich aber ganz besonders, dass du trotz alledem die Story für gut empfunden hast, also

LG an euch
Doro
 
D

Daktari

Gast
also doch

ich habe angenommen, daß die Geschichte doch schon ein paar Jahre zurück liegt.
Denn in der heutigen Zeit ist es - laut meines Arztes - wirklich so, daß an AIDS direkt nur noch ganz wenige sterben - mehr an irgendwelchen Begleit krankheiten wie Lungenentzündung etc. Aber letztendlich soll Deine Geschichte ja auch kein medizinisches Gutachten sein.
ich selbst bin auch seit 6 Monaten davon betroffen, deswegen is mir ein optimistischer Text natürlich lieber - lol.
Die Medikamente sind heutzutage wirklich hervorragend. Ich kenne einige, die schon dicht an der Grenze zum Jenseits standen und durch Medikamente jetzt VL haben, die beinahe an einer Heilung grenzen.

Aber rein textmäßig finde ich das Werk sehr gelungen.

Ciao Tim
 

think twice

Mitglied
Hallo Daktari,

Ich will dich ja nicht desillusionieren, aber, wenn du das, was dein Arzt gesagt hat, wörtlich wiedergegeben hast, dann hat er dich entweder belogen, um dich nicht zu sehr zu beunruhigen, oder aber er ist kein besonders guter Mediziner, denn erstens ist mir bisher noch kein Fall bekannt, wo jemand direkt an Aids gestorben wäre (sehr wohl aber an irgendwelchen Begleit- und/oder Folgeerkrankungen) und zweitens ist die Medizin zwar schon sehr weit fortgeschritten, sodass die Lebenserwartung eines HIV-Infizierten deutlich erhöht werden kann, aber trotzdem handelt es sich bei Aids immer noch um eine tödliche Erkrankung.

Liebe Grüße
think twice
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
liebe doro

gut geschrieben, spannend, schöner stil, berührende geschichte.
inhaltlich kann ich nicht so übereinstimmen. dass es so große liebe ist, alles zu verschweigen.
wenn er sie wirklich so liebte, wie er jetzt am schluss tut, hätte sie dann nicht ein recht gehabt, seine liebe auch zu seinen lebzeiten zu spüren und nicht erst im tod? wäre er dann nicht verpflichtet gewesen, seine sorgen, seine ängste und auch das schöne im leben mit ihr zu teilen. natürlich auch ohne sie zu gefährden?

mir scheint der gute ein bisschen zu egoistisch. und gar nicht so grandios, wie er geschildert wird.

aber wie gesagt, das alles erlebe ich nur so, weil die geschichte so schön geschildert ist, dass man sich mit den figuren auseinandersetzt und sich in sie hineinfühlt.
und ich hab mich verständlicherweise eher in die frau hineinversetzt.

liebe grüße
die k.
 

IlkaSehnert

Mitglied
Sehr berührend...

...Deine Geschichte, liebe "Strumpfkuh"( was für ein Nick, schmunzel...)
Ich hab sie atemlos gelesen, weil in jeder Zeile klarer wurde, daß es Gründe geben mußte. Und die wollte ich wissen...Im Gegensatz zu meiner "Vorrednerin" denke ich, daß es kaum eine größere Form von Liebe sein konnte, unter Verzicht auf das eigene Glück einem geliebten Menschen das Erleben eines langsamen Endes nicht zumuten zu wollen, zumal die Beziehung, wie tief sie auf bestimmte Weise auch gewesen sein mag, ja noch keine war... Man könnte meinen, dann hätte er ihr konsequenterweise auch das tatsächliche Ende ersparen müssen, aber wer weiß schon, was in einem sterbenden Menschen vor sich geht; man kann nur ahnen, daß einer so eine Sache wie eine unausgesprochene Liebe unbedingt noch loswerden will und dann eben "egoistisch" ist...das billige ich jedem zu, daher ist die Geschichte für mich auch sehr realistisch...Und klasse geschrieben! Ilka
 

strumpfkuh

Mitglied
Liebe K.,
ein schöneres Lob, als dass der Leser sich mit den Figuren auseinandersetzt, kann es kaum geben. Danke! Und ich sehe es eigentlich genauso wie du. Bestimmt hätte er auch sein Leid mit ihr teilen wollen, wenn die Beziehung schon weiter voran geschritten wäre. Aber zum Zeitpunkt seiner Erkrankung hatte er wahrscheinlich einfach noch nicht das Vertrauen in ihre Liebe gehabt. Vielleicht hätte er auch ihr Mitleid nicht ertragen können, wer weiß. So entschied er sich dazu, wegzufahren, und dachte wahrscheinlich jeden Tag darüber nach, sie anzurufen und ihr alles zu sagen.
Danke für deine netten Worte!

Liebe Ilka,
schön, dass die Geschichte zu so unterschiedlichen Gedanken führt. Sein Schweigen kann von Egoismus bis zu der "größten Form der Liebe" gedeutet werden. Dass er sie aber kurz vor seinem Tod gerufen hat, das zeigt für mich in jedem Fall, wie wichtig sie ihm war. Denn da bin ich mir sicher, wenn man weiß, dass man bald sterben muss, dann denkt man über vieles nach und über vieles anders.
Ich freue mich sehr, dass dir die Geschichte gut gefallen hat, und dass du sie für realistisch hälst. Danke dir.

Lieber Traveller,
genau, so sehe ich das auch. Auf Daten oder medizinische Fakten kam es hier nicht an. Ein guter Einwand von dir, dass es auch ein ganz anderer Virus sein könnte. Und auch dir danke für dein Lob.

Ich freu mich sehr über die zahlreichen Antworten
LG
Doro
 



 
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