Selbstfindungs-Seminare

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"Sich selbst finden – Der Weg zum Ich" – bunt strahlte Sofie der Prospekt entgegen. "Finden Sie zu sich selbst, werden Sie ein ausgeglichener und glücklicher Mensch!" So verlockend das alles klang – Sofie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in 72 Stunden in einem Workshop für knapp 120 Euro ein neuer Mensch zu werden.
"Starten Sie mit uns durch! Bauen Sie sich eine Existenz auf!" riefen schwarze Buchstaben auf dem dünnen Zeitungspapier nach Kunden.
Sofie legte das Blatt zur Seite und trank einen Schluck Kaffe. Die Wanduhr tickkte leise. Der Abend nahte.
"Na, Sofie?" Daniel kam nach hause. Er sah müde aus. Sofie bot ihm eine Tasse Kaffe an, er setzte sich zu ihr. Er warf einen Blick auf die Prospekte und die Zeitung, die auf dem Tisch lagen. "Du willst dich also deinen Zweifeln stellen?" fragte er trocken. Er wirkte kühl, distanziert, aber nicht abgewandt. "Naja" Sofie war unsicher. "Die lagen halt so rum. Da hab ich sie eingesteckt." Daniel nickte. Gerne würde sie ihn nach seinen Gedanken fragen, aber sie schwieg. Als Sofie die Prospekte eingesteckt hatte, hatte sie sich leicht und frei gefühlt. Aber jetzt? Jetzt war sie noch verwirrter und stellte sich neue Fragen, wie ein Hamster im Hamsterrad. Verfolgt vom ungewissen Ich.
Vielleicht ist es auch besser, alles beim Altern zu belassen, dachte Sofie. Warum was ändern? Es lief doch alles ganz gut. Bis auf dieses Bohren in ihr, das sie immer wieder aufwühlte, Fragen stellte und nach Antworten verlangte. Sie war sich sicher nicht die Einzige zu sein, in der es bohrte. Nur sah man es den anderen nicht an. Daniel zum Beispiel. Stellte er sich Fragen über das Sein? Zweifelte er, der Macho und Romantik, Liebhaber und Clown, an sich selbst? An seinen Ideen, Gedanken, an seinem Leben?
Lässig, genüsslich saß er da, las Zeitung. Er schien in sich zu ruhen, sie dennoch wahrzunehmen.
"Liebst du mich?" fragte sie laut. Er sah über den Zeitungsrand zu ihr, er lächelte. "Aber natürlich hab ich dich lieb!" "Ich habe dich nicht gefragt, ob du mich lieb hast, wie ein kleines Mädchen. Ich fragte dich, ob du mich liebst." Daniel kannte diese Art von Diskussionen. Oft hatten sie sie geführt. "Ja" bestätigte er sanft. "Ich liebe dich!" Er lächelte noch immer. Sie gab die Diskussion auf. Sie würde ja doch nicht weiterkommen. Wahrscheinlich wird sie die Antworten auf ihre Fragen niemals finden.
Betrübt starrte Sofie in ihre inzwischen leere Tasse. Kaffeesatzlesen müsste man jetzt- Vielleicht bekäme sie dann ein oder zwei Antworten. Das Hamsterrad hielt sie noch immer fest. Wer konnte ihr die Fragen nach dem "Ich" beantworten? Wer hatte den Schlüssel zur verriegelten Tür? Möglicherweise war es sogar gut, dass die Türen zu den Antworten verschlossen waren. Vielleicht würde ihr das gar nicht gefallen, was sie zu sehen bekäme...
Das "Ich" – was war das schon? Sofie glaubte eine Kette von Fragen und Antworten zu erkennen. Fände sie ihr "Ich" und könnte sie sich definieren, würde sie es sicherlich darauf beruhen lassen. Nein, sie stellte sich neue Fragen, immer wieder neue – und sie wäre wieder auf der Jagd nach Lösungen. Ist das Leben demnach ein einziges Suchen und Finden von Antworten?
Die Uhr durchbrach durch ihr leises Ticken, die Stille. Die Zeit rennt davon, ohne auf mich zu warten, fuhr es Sofie durch den Kopf. Sekunde für Sekunde eine neue Frage. Ein Fragezeichen im Nichts. Eins nach dem Anderen, bleiben sie im Raum, lehnen sich aneinander. Bis sich eine Wand, deren Gerüst aus Fragezeichen besteht, bis zur Decke aufgebaut hatte.
Sofies Hunger nach Antworten wuchs, je mehr Gedanken sie sich machte. Das Leben schien ihr bisher so einfach, nie hatte sie sich mit solchen Fragen auseinandergesetzt. Bisher lebte sie einfach so dahin, Tag für Tag. Aber jetzt? Alles schien an Bedeutung zu verlieren. Nichts zuvor Reelles war mehr wirklich
Sie nahm die Prospekte, faltete sie zusammen und schmiss sie zum Altpapier. Daniel sah auf. Fragend sah er sie an. "War ja doch nur Werbung." meinte Sofie und setzte einen Topf Reis auf.
 



 
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