Selbstjustiz

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25. November 1897
Das Haus der hiesigen Irren lag auf einer Anhöhe zwischen dem angrenzenden Wald und der aufbrausenden See. Die Schatten des alten Gemäuers erstreckten sich bis zu den südlichen Mauern, die die Irren davon abhalten sollten, das Gelände zu verlassen und das nicht allzu weit entfernte Dorf zu erreichen.
So stand ich nun außerhalb der Mauern in dem südlich der Anstalt gelegenen Wald und starrte auf die grauen Fassaden des stillen Gebäudes. Nicht einmal ein Mondstrahl drang durch die dichten Baumkronen und das einzige was ich hören konnte, war das Rauschen der Wellen, die voller Wucht gegen die Steilküste schlugen.
Ich bewegte mich weiter durch das Unterholz auf die Irrenanstalt zu und je näher ich ihr kam, desto lichter wurde das Blattwerk über mir. Nach geraumer Zeit war die Dunkelheit dem Mondlicht gewichen, aber mit ihr war auch der einzige Schutz, den ich verspürt hatte, hinfort. Nun war es als griffen die kalten Schatten der nackten Bäume nach mir.
Von dem dunklen Gebäude ging etwas Böses aus. Das Böse, welches die Bäume sterben, das Rauschen des Meeres verstummen und die Krähen über mir wachen ließ. Meine Schritte wurden schneller, obwohl ich wusste, dass eine Flucht vor Schatten und Krähen unnütz war.
Als ich klein war, hatte mein Vater mir immer zu von seiner Arbeit erzählt. Er war Oberarzt gewesen in einer – wie er es genannt hatte – Heilanstalt gewesen. In ebendieser Heilanstalt, die nun groß und schwarz vor mir lag. Aber damals hatte er allen nichts von dem erzählt, was in dieser Anstalt wirklich von Statten gegangen war. Mir selbst graust immer noch davor, die Wahrheit über das Gemäuer zu kennen.
Ein Rascheln erklang vor mir und ich stockte, erstarrte in meiner hastigen Bewegung, löste die Starre und tat wenige Schritte. Auf dem Boden vor meinen Füßen lag ein Vogel. Ein toter Vogel, der geradewegs aus den Höhen der Bäume gefallen war. Ich tippte den Körper mit meiner Fußspitze an und wunderte mich, warum ein Vogel einfach so von einem Baum fallen könnte. Jedoch fand ich keine Erklärung. Mein Herz raste und als ich den hohlen, beschuldigenden Blick und den erstarrten Körper des Wesens vor mir sah, wurde mir klar, dass ich nicht hätte hier sein sollen.
Laufend erreichte ich den Teil der Mauer, der vor Jahren bei einem Gewitter von einem umgestürzten Baum zerstört worden war. Niemand aus den Reihen des Personals hatte dieses Schlupfloch je gefunden, lediglich die Patienten kannten diesen Weg den düsteren Mauern zu entkommen. Meine Beine fühlten sich schwerer an denn je, als ich über die mit Moos bewachsenen Steinblöcke stieg und mir den Weg durch die Sträucher bahnte, die den geheimen Weg diese vielen Jahre verborgen hatten.
Die klagenden Schreie der Krähen über meinem Kopf schwollen nahezu zu einem hysterischen Kreischen an. Als ich an meinem Ziel ankam und mir dessen bewusst wurde, packte mich größere Angst als zuvor, denn der Ort, an dem ich mich nun befand war kein geringerer als der anstaltseigene Friedhof. Seit dem 15. Jahrhundert waren hier die in Behandlung verstorbenen Patienten und das langjährige Personal bestattet worden. Generationen meiner Familie, die über Jahrhunderte die Anstalt geführt hatten, lagen hier und rotteten vor sich hin.
Ich ging weiter, mehr aus Reflex, als dass ich es wirklich wahrnahm. Die Reihen der Grabsteine zogen an mir vorbei. Anonyme Gräber, allesamt ohne Widmung, vermodernd. Später – ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht hatte – befand ich mich auf einer kleinen, abgelegenen Wiese hinter dem Patientenfriedhof. Rechts von mir lag der Teil des Friedhofs, der dem Personal gebührt hatte, mit prächtigen Kreuzen und unserer Familiengruft. Jedoch war auf dem gesamten Friedhof schon seit gut fünfzig Jahren niemand mehr bestattet worden, da es für die Irrenanstalt zu teuer geworden war. Was jedoch aus den Toten geworden war, wusste niemand.
Nach einigen weiteren Schritten erreichte ich einen Steinkreis, verborgen von denselben widerspenstigen Sträuchern, wie sie auch die Mauer umwucherten. Der Platz war blutgetränkt. Ich wusste, dass dies das Blut meines Vaters war. Ebenso wie das Blut, mit dem Namen an die großen Steine geschrieben worden waren. Bei dem Anblick wurde mir schlecht und ich fing an zu laufen.
Während ich mir meinen Weg durchs Unterholz bahnte dachte ich über meinen Vater und das, was er gesagt und getan hatte, nach. Immer wieder hatte er von den Behandlungsmethoden geschwärmt. Er hatte die einschlägigen Erfolge bejubelt, die schon nach kurzer Zeit ersichtlich gewesen waren. Was jedoch der Wahrheit entsprach, war etwas anderes.
Ohne es wahrgenommen zu haben, stand ich plötzlich vor der dunklen, hoch aufragenden Fassade der Anstalt. Ich stand so dicht davor, dass ich nicht nur schemenhaft Fenster sah, sondern auch die Gitter davor und die gequälten Gesichter dahinter. Auch wenn nur wenige Räume besetzt waren, war es als sehe mich aus jedem Fenster eine geschundene, einsame Seele an, wie jene, die mich fixierte.
Man sagt, Irrenanstalten seien humaner geworden, aber ich sage, dass es nicht stimmt. All die Lügen und Verherrlichungen meines Vaters stimmen nicht. Als Oberarzt hatte er bis zu seinem Tod die volle Verantwortung. Er ist für Schocktherapien, Medikamentversuche und Selbstmorde verantwortlich gewesen. Seien es Stromschläge oder ein Bad in eisigem Wasser, um die nicht vorhandenen Schäden im Körper der Patienten zu kurieren. Oder sei es die Bekämpfung der zweiten Person durch christliche Brandmarken oder Medikamente. Aber er folgte der langjährigen Tradition unserer Familie.
Irgendwie hatte ich es ins Gebäude geschafft. Ich stand in einem langen Flur von dem rechts Türen abgingen. Die linke Seite war komplett von Fenstern gesäumt, sodass milchiges Mondlicht lange Schatten der Gitter vor den Fenstern warf. Ich ging weiter und erreichte eine offene Tür am Ende des Flurs. Der Raum dahinter war düster, bis auf einer kleinen elektrischen Lampe, die einige Konturen sichtbar machte. Das Bett war eine hölzerne Pritsche mit Stroh darauf, ein kleines, offenes Loch im Boden ersetzte ein Plumpsklo und das feuchte Gemäuer hatte im Laufe von Jahren schon viele Tiere angelockt. Ratten krochen aus dem Loch und Schaben tummelten sich im Stroh.
Ich betrat den Raum und schloss langsam und lautlos die Tür. Die Tür zu meiner eigenen Zelle. Eine Isolationszelle, weil ich paranoid und schizophren sei. Aber jetzt, da ich wusste meine Rache an ihm bekommen zu haben, gefiel mir mein Zuhause besser als zuvor.
 

Josef Knecht

Mitglied
Hallo Alexandra,
obwohl ich deinen Text mit wachsender Spannung gelesen habe bin ich am Schluss nicht ganz schlau geworden. Vielleicht habe ich auch etwas nicht mitbekommen, aber wie die Frau sich nun an ihrem Vater gerächt hat, weiß ich nicht.
Die Pointe, dass die Erzählerin selber Insasse der Heilanstalt ist, hat mir gut gefallen. Ich habe mich gefragt, ob sich vielleicht die Handlung nur in der Phantasie er Erzählerin abgespielt hat.
Liebe Grüße
Josef
 
Hallo Josef!

Zuerst einmal: Danke!
Mein ursprüngliches Ziel war es, eine düstere Atmosphäre zu schaffen. Ein Mord, Dunkelheit und ein Irrenhaus ist meiner Meinung nach zuträglich, also fehlte mir (nur) noch eine konkrete Story. Und da kam mir denn der Gedanke mit der Pointe!
Allerdings wäre es wohl sinnvoll bei der Stelle, als die Person den Tatort besucht noch etwas davon zu schreiben, dass die Vermutungen der Polizei auf einen (paranoiden) Insassen zurückgehen, sie aber noch nicht wissen, wer von denen es war.
Die Idee mit der Phantasie des Ichs ist gut! Darauf bin ich so noch nicht gekommen.
Übrigens: ErzählerIN? ;-)

Alex(andra) Andrews
 
M

Melusine

Gast
Hallo Alex,
die düstere Atmosphäre ist dir gut gelungen - erinnert mich an H.P. Lovecraft und Edgar Allan Poe. Der Story merkt man allerdings doch ein wenig an, dass die Beschreibung der Atmosphäre dir wichtiger war als eine Handlung. Daran könntest du bestimmt noch arbeiten.
Weiter so!
LG Mel
 



 
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