Sheenas Roti House -reloaded-

HO

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An diesen Morgen weckten uns Dorfbewohner nicht die aufdringlichen Schreie von Nachbar Shashwat Pfauen, sondern ein eigentümlicher, mit kehliger Stimme vorgetragenen Singsang.
Ich lag im Bett in meinem dunklen Zimmer und lauschte angestrengt, vermochte jedoch aus dem Gesang keinen mir bekannten Dialekt herauszuhören.
Unten im Erdgeschoss, in der Küche, rumorte es, Stühle rückten, Schranktüren klapperten.
„Ruhe da draußen“, rief meine Schwester Sheena lachend.
»Dass muss der Teufel sein«, ulkte Mutter.
Sheena bezweifelte das lachend, und Mutter stimmte mit ihrer schönen Stimme ein. Die beiden räumten auf, wie immer also.
Ich steckte Stopfen in meine Ohren und schlief weiter.
Als ich später aufwachte und die Stopfen aus den Ohren nahm hörte ich nichts. Niemals in meinem Leben hatte ich eine intensivere Stille erlebt als in jener Minute, und das in Kerala, die Heimat der Stille.
Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch feine Löcher im Vorhang drangen, waren nicht stark genug, um das Zimmer zu erhellen. Wie spät war es? Ich tastete nach dem Wecker, drückte seinen Lichttaster. Inzwischen war es kurz nach ein Uhr. Für mich keine ungewöhnliche Zeit aufzustehen; ich hatte mich der Wissenschaft verschrieben, und nichts genoss ich mehr als in der Stille der Nacht zu arbeiten.
Mehrere Atemzüge lang starrte ich an die Decke, deren Umrisse ich langsam erkennen konnte. Am liebsten hätte ich noch gedöst, aber mein Magen knurrte. Ich stieg aus dem Bett und öffnete die Tür zum Flur. Niemand war da. Wann hatte es das zuletzt gegeben? In unserem Haus verkehrten täglich so viele Nachbarn und Freundinnen und Freunde, dass ich es mir angewöhnt hatte, mit Ohrenstopfen zu schlafen.
In der Küche wäre ich fast über den Wassereimer gestolpert, der neben dem Tisch stand. Das Wasser darin war kalt. In der Spüle stand Geschirr, jemand hatte es wohl in großer Hast da hineingestellt, denn von einer Tasse war ein Henkel abgebrochen. Ich nahm ihn und die Tasse und trocknete sie mit einem Tuch.
Durch das Küchenfenster schaute ich auf die Straße – niemand zu sehen.
Und das gab es selten.
Sogar die Hunde unseres Nachbarn waren fort. Üblicherweise dösten die unter einer Palme im Vorgarten.
Wo steckte Mutter, wo meine Schwestern? Hatte ihr Verschwinden etwas mit dem Singsang vom Morgen zu tun?
Und wo versteckten sich die Dorfbewohner?
Auf der Straße spürte ich einen Hauch kühler Luft, obgleich kein Wölkchen den Himmel trübte.
Aus keinem Haus in der Nachbarschaft drangen Stimmen, strömte der Geruch von Essen, nirgendwo lärmten Kinder.
Das einzige Geräusch war das Knirschen von Kieseln und Sand unter meinen Schuhen. Rasch erreichte ich den südlichen Rand des Dorfes. Dort, wo sich der Weg in Richtung nächstes Dorf oder zu den Plantagen gabelt, tauchten zwei Frauen auf.

Sie hatten ihren Köpfe zusammen gesteckt, umklammerten einander und bewegten sich schwankend: Mutter und Sheena. Meine anderen drei Schwestern Anusha, Alisha und Nanda folgten ihnen wie Schatten.
Als wir uns erreichten blieben Mutter und Sheena stehen. Anusha, Alisha und Nanda huschten an mir vorbei, suchten hinter meinem Rücken Schutz.
Mutter starrte mit leerem Blick in die Ferne, etwas hatte sie so entsetzt, dass sie nicht einmal zu weinen vermochte. In Sheenas Augen pulsierten rote Äderchen, ihre Wangen glänzten vor Tränen. Sie bewegte die Lippen, als ob sie etwas sagen wollte, doch mehr als ein heiseres Röcheln brachte sie nicht hervor.
Jemanden musste etwas zugestoßen sein. Dem Entsetzen nach konnte es sich nur um ein Familienmitglied handeln
„Was ist geschehen? «, fragte ich ängstlich.. »Vater?«
Weder Mutter noch Sheena gingen auf die Frage ein. Sie gingen auf gar nichts ein. Vermutlich hatten sie mich einfach nicht bemerkt. Ich legte die Arme um Sheena. Sie fühlte sich an wie ein Stück Treibholz: feucht, kalt, hart.
Ihre Tränen klebten unsere Gesichter zusammen. »Was ist los, Sheena, was? «, flüsterte ich.
Meine Worte schienen sie dieses Mal zu erreichen. Das Stück Treibholz regte sich zaghaft. »Da . . . « stöhnte sie.
»Was? Wo? «
»Mandelbäume «, flüsterte sie. Dann löste sie sich, torkelte einen Meter zurück in die Richtung der Mandelbäume. Mutter stürzte ihr nach und umklammerte sie. Ihr gemeinsamer Gleichgewichtssinn hielt das Konstrukt aus zwei Leibern auf vier Beinen.

Mandelbäume, Mandelbäume. Ja, da hinten lag Ranjeev Chuckos Mangelbaumplantage, die aus siebenunddreißig Bäumen bestand. Sie war nach der großen Landreform in den Besitz der Familie Chucko übergegangen, weil Ashvin Chucko, Ranjeev Chuckos Vater, besondere Verdienste im Widerstand gegen die Briten erlangt hatte, die einst neben dem Dorf eine kleine Station betrieben. Die war zu dem Zweck errichtet worden, die Plünderung unserer Tee- und Pfefferfelder zu koordinieren.
Ich brachte Mutter und Sheena - sie ließen sich widerstandslos führen – ins Haus, ins Wohnzimmer. Auch auf der Couch sitzend umklammerten sie einander sofort. Anusha, Alisha und Nanda standen verloren im Raum und schauten einander unsicher an.
Inzwischen weinte Mutter. Sie tat das mit dem ihr eigenen Stolz. Die Tränen liefen in Bächen über die Wangen, aber sie beugte nicht das Haupt. Sheenas Widerstand hingegen löste sich auf wie eine Sandbank, die von einer Welle fort gespült wird. Sie schluchzte, weinte, klagte, schrie, vergrub die Hände in Mutters Händen, den Händen, die sie einst ins Leben gehoben hatten. Warum das alles?
Irgendwo draußen vor dem Dorf gab es die Antwort.
Also verließ ich das Haus und rannte zu Ranjeev Chuckos Mangelbaumplantage.
An die Strecke kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiß nur, dass ich stürzte und mir die Knie aufschlug. Blutkruste klebte auf ihnen, und sie schmerzten, als ich mich später auf dem Heimweg begab.
Die Dorfler saßen dort im Kreis um einen alten Mann. Alle, auch die Hunde, starrten gebannt auf den Alten. Niemand beachtete mich.
Der Mann, kaum größer als einen Meter und sechzig, drahtig, ausgezehrt, sehnig, nur einen Lendenschurz tragend und vollständig eingerieben mit einer Mischung aus Asche und Reismehl, vollführte mit einer Lanze Verteidigungsrituale, die offensichtlich dazu taugen sollten, sich eines angreifenden Tigers zu erwehren. Seine Brauen waren so tief abgesenkt, dass man von den Augen nicht mehr sehen konnte zwei Streifen tiefrotes Feuer. Er wirkte hochkonzentriert und entrückt zugleich.
Die Dorfbewohner beobachteten ihn mit großer Ehrfurcht, aber mich konnte die Darstellung nicht überzeugen. Mit der dünnen Bambusstange und ihrer stumpfen, kupfernen Spitze hatte er keine Chance gegen einen Tiger, der ihm mit einem Prankenhieb das knochige Rückgrat hätten brechen können. Ich setzte mich und beschloss, das Ende des Spektakels abzuwarten. Wohl auf ein geheimes Zeichen hin wurden die Bewegungen des Alten ekstatischer, sein Körper spannte sich, die zähen Muskeln tanzten unter der faltigen, trockenen Haut, die Pupillen klappten nach oben, ohne das Feuer zu löschen, und nun begann er, laut auf den Boden stampfend, mit dem ganzen Körper schüttelnd und vibrierend in meine Richtung sich zu bewegen. Als er den Speer in den Himmel stieß, erhob sich aus den Kronen der Mandelbäume um uns herum vielstimmiges Gesumme. Ich schaute nach oben und entdeckte ein Dutzend ebenfalls nur mit Lendenschürzen bekleideter und mit Asche und Reismehl eingeriebener Männer, die sich mit Hanfseilen zwischen den Ästen befestigt hatten. Einer hing an unzähligen Haken aufgespießt in der Luft. Ein anderer, dem ein langes Messer, das offensichtlich aus der Kolonialzeit stammte, durch beide Wangen gestochen war, tröpfelte etwas Öl auf den Rücken des aufgespießten. Vermutlich verfügte dieser Mann über wenig Geschick, denn trotz des geweißten Gesichtes konnte man anhand von wulstigen Narben sehen, dass ihm das Messer nach dem Reinigen und dem Wiedereinführen in die Wangen gelegentlich abgerutscht sein musste.
Nirgendwo entdeckte ich das Zeichen eines Asketenordens. Eine kupferne Speerspitze riss mich aus meinen Gedanken. Der Anführer, er hieß Akhilesh, wie ich später erfuhr, fuchtelte mir mit dem vermeintlichen Tigertöter vor der Nase herum.
Die Dorfbewohner sprangen auf, starrten mich mit aufgerissenen Augen an, wie ich links und rechts sehen konnte.
In ihren Gesichtern las ich Mitleid, Scham und Genugtuung.
»Du bist Rahul«, flüsterte Akhilesh. Ich nickte und lächelte ihm unerschrocken zu. Er schien das nicht zu mögen, denn nun drückte sein Speer hart gegen meine Stirn. »Ich habe dir etwas zu sagen, Rahul! «
»Ich bin hier, um zu erfahren, was du mit meiner Mutter angestellt hast«, antwortete ich wütend. Meine Muskeln zuckten, ich war bereit, mich auf den Kerl zu stürzen, auch wenn ich damit den Zorn der Dorfbewohner auf mich gezogen hätte. Akhilesh hob die Augenbrauen. »Sie werden es dir erzählen. Höre nun, was ich zu sagen habe, es ist wichtig für deine Zukunft. «
»Ich bin Christ, ich vertraue der Bibel, nicht . . . « Das war ehrlich gesagt etwas übertrieben, ich glaubte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.
Um mich herum entstand Tumult. Die Dorfbewohner, eine Mischung aus Hindus, Moslems und wenigen Christen, starrten mich an, als ob ich sie beleidigt hätte. »Nun gut, was hast du zu sagen? «, fragte ich besänftigend.
Der Alte beugte sich hinab zu mir. »Das, was ich zu sagen habe kostet dich den Preis von acht Ziegen!«
»Acht Ziegen? Was für eine hohe Summe. Geht es um mein Leben? «, flüsterte ich dem Alten ins Ohr. Akhilesh schleuderte den Oberkörper zurück, stampfte wütend auf den Boden. Nach einem tiefen Atemzug drückte er die Speerspitze fester gegen meine Stirn.
»Ich belege dich mit einem Fluch, Rahul, der dir deine Arroganz austreibt! «
»Zwei Ziegen, mein letztes Wort«, schlug ich vor. Einen Fluch wollte ich nicht leichtfertig riskieren, Aberglaube hin oder her. Die Augen des Alten funkelten zornig, den Mund verzog er angewidert. Endlich griff er mit der rechten Hand an meine Schulter, zog mein Gesicht etwas nach vorne und antwortete so leise, dass nur ich es hören konnte: »Vier Ziegen, heute noch zu zahlen! «
Ich schlug ein. »Und jetzt möchte ich hören, was so wichtig ist«, sagte ich herausfordernd.
Der Alte richtete sich auf, atmete tief in seinen schmächtigen Brustkorb hinein, die ledrige Haut spannte sich straff auf den Rippen, in denen man jede Kerbe sehen konnte.
»Du wirst in ein Land gehen, in dem noch keiner aus eurem Dorf jemals gewesen ist. «
Ich war weder überrascht noch enttäuscht. Gut, jeder wusste, dass ich in Cambridge Philosophie studiert hatte und nun nach einem ausgezeichneten Abschluss über das Thema Religion im gesellschaftlichen Spiegel des Patriarchat hier zwischen den Plantagen lebte.
Lange konnte es nicht dauern – das war die Meinung des Dorfes - bis mich das Fernweh packte und ich irgendwo in der Ferne mein Glück versuchte.
Akhilesh musste das erfahren haben, vielleicht sogar von Mutter oder Sheena, obwohl sie es bis heute abstreiten.
»Und was soll ich da? In die Bäume klettern?« Warum sollte ich dem Alten nicht zu verstehen geben, dass ich nichts von seinen Künsten hielt?
Akhilesh ließ den Speer fallen. War er wütend? Bluffte er nur? Er kniete nieder, griff nach meinen Händen und flüsterte beschwörend: »Es wird dir dort gut gehen, und du wirst dort leiden. Wenn du stark bleibst, gewinnt deine Familie.«
Warum mochte ich den Kerl nicht?
»Das kann man . . . « Ich sah ein, dass es nichts brachte, mit dem Alten zu diskutieren. Ich hatte den Gegenwert von vier Ziegen in Bar verloren und beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Da ich nicht davon überzeugt war, dass mir der Alte erzählen würde, was Mutter und Sheena schockiert hatte, faltete ich brav die Hände, grüßte zum Abschied und ging. Die Idee, dass die beiden vielleicht wegen meiner Reise in das Land, das noch niemand von uns betreten hatte, so verzweifelt waren, verwarf ich sofort. Nein, etwas Anderes, Schlimmeres, musste geschehen sein.

Sheena schluchzte unverändert, und Mutter stand in der Küche und knetete gedankenverloren Teig. Tränen liefen über ihre Wangen; sie strich sie mit dem Handrücken fort. Die eine oder andere Träne fand wohl ihren Weg in das Essen, denn niemals hatte es in unserem Haus so nach Verbitterung geschmeckt wie in den folgenden Tagen.
»Was ist es? « fragte ich sie. »Sag mir nicht, dieser Alte hat euch mit einer düsteren Prophezeiung . . . «
»Rede nicht in diesem Ton über ihn! «, fuhr mich Mutter an.
»Das sind mir schöne Wanderasketen, wenn ich könnte, würde ich ..."
Mutter sah mich streng an.
„Entschuldigung. Darf ich wissen, was los ist, Mom?«
»Ich habe schon deinen Vater angerufen. Er kehrt heute Abend zurück. «
Das war neu. Vater verbrachte üblicherweise die Woche in Cochin. Dort betrieb er mit zwei Geschäftspartnern eine Fabrik, die Druckmaschinen herstellte. Er arbeitete täglich sechszehn Stunden, auch am Wochenende, nur dann bei uns im Haus, entweder im Schlafzimmer, oder mit dem Laptop auf dem Schoss im Wohnzimmer sitzend. Wenn er an einem Donnerstag heimkehren wollte, musste etwas Furchtbares geschehen sein. «
»Was ist los? Geht die Welt unter?«
Mutter stellte die Schüssel mit den klein gestoßenen Kichererbsen beiseite und wandte mir ihr Gesicht zu. »Es ist viel schlimmer. Geh zu Sheena, sie erzählt es dir. «
Ich widerstand dem Impuls, Mutter zu trösten. Die Neugier war größer. Also lief ich sofort zu Sheena, die auf der Couch saß, weinte und nasse Taschentücher auf den Boden gleiten ließ.
»Was ist los, meine Süße? «
Sanft streichelte ich ihre Wange.
Sie starrte mich an, öffnete den Mund, doch bevor sie ein Wort hervorbrachte begann sie lauter und verzweifelter zu schluchzen. Ich drückte sie an mich und streichelte ihr Gesicht.
Ohne mir das Gesicht zuzuwenden sagte sie: »Es geht um meine Heirat. Der Brahmane hat keine Hochzeit gesehen.«
Ich konnte es nicht fassen. Der Tigertöter begann mir immer unsympathischer zu werden. »Hat er das in diesem Wortlaut gesagt? «
»Ja. Ich habe gefragt, ob wir eine schöne Hochzeit haben, und wie viele Kinder wir bekommen, und er hat nur geantwortet, dass er keine Hochzeit sehe. «
»Das heißt doch nichts! Außerdem, wer ist schon dieser Kerl? «
»Rahul, verbrenn` dir nicht den Mund. Es ist schon genug Unglück über uns hereingebrochen. «
»Und warum muss Vater aus Cochin zurückkommen? «
»Mama hat ihn angerufen. Erst sagte er, alles wäre in Ordnung. Doch später rief er zurück. Anscheinend gibt es wirklich ein Problem. «
Ich streichelte Sheenas Hände. Sie war ein wunderschönes Mädchen, noch keine achtzehn Jahre alt. Meine Freunde sagten mir oft, wie hübsch sie sei, naja, als Bruder sieht man das nicht. Sie war immer die Kleine, und sie ist es noch heute.
An geeigneten Verehrern mangelte es nicht. Leider war mein Vater besessen von der Idee, sie mit dem begehrtesten Mann aus Cochin zu vermählen: Mukunda Abraham, den Sohn von Baybu Abraham, dem Herausgeber von zwei Zeitungen und einem politischen Magazin von überregionaler Bedeutung.
Außerdem hatte er sein Geld so geschickt in Industriebeteiligungen und Softwarefirmen investiert, dass er zu den reichsten Männern Südindiens aufstieg. Mein Vater hatte beruflich mit ihm zu tun, er belieferte ihn mit Druckmaschinen. Vater hatte gründlich kalkuliert: Nicht nur Sheena wäre glücklich, auch für ihn würde die Verbindung Vorteile bringen. Sein Geschäft mit Baybu Abraham stünde auf solideren Füßen, und mit etwas Geduld könnte er die Kontakte Abrahams nutzen, um mehr Maschinen außerhalb von Kerala, Karnataka, Tamil Nadu und Andrah Pradesh zu verkaufen.
Nach Vaters Model hätte er im schlechtesten Fall nach ungefähr zehn Jahren die Summe zurückerwirtschaftet, welche die Differenz bildete zwischen einem guten Ehemann und einem hervorragenden wie Mukunda. Im Übrigen sparte Vater schon seit Sheenas Geburt auf gute Schwiegersöhne.
Ferner bestand er darauf, die Höhe der Mitgift geheim zu halten, um den Preis für die zukünftigen Ehemänner meiner anderen drei Schwestern nicht zu verderben.
Vom sozialen Standpunkt aus betrachtet war Sheena einige Nummern zu unbedeutend für eine Familie wie die der Abrahams. Wir alle waren zu unbedeutend. Doch Vater hatte sich von Standesdünkel noch nie von seinen Plänen abbringen lassen.
Bei einem Kricketspiel - Mukunda Abraham war ein sportlicher Draufgänger, der sogar in die Juniorenauswahl unseres Landes berufen worden war – hatte er eine Begegnung zwischen dem Jungen und Sheena arrangiert. Vaters Plan funktionierte, Mukunda Abraham und Sheena verliebten sich auf kindliche, aber intensive Weise ineinander. Der alte Abraham hatte sich dem Flehen seiner Familie gebeugt. Er akzeptierte die Verbindung, jedoch nur unter allen Geboten der guten Sitte und ohne Garantie auf eine gemeinsame Zukunft.
Mukunda und Sheena hatten sich seit jener Stunde selten und nur in Anwesenheit von einer der Mütter gesehen, doch ihre Gefühle ließen sie über jeden Stein fliegen, den andere ihnen vor die Füße legte.
Die beiden schrieben sich täglich Briefe oder telefonierten miteinander, um ihre Sehnsucht zu lindern.
Nach Vaters Wunsch sollte im Dezember des Jahres 2000, wenn beide volljährig wären, die Hochzeit in Cochin stattfinden. Also zu jenem Zeitpunkt in knapp einem halben Jahr.
Der alte Abraham war auf den Heiratswunsch eingegangen, forderte aber die gigantische Summe von zwölf Millionen Indische Rupien als Mitgift, also etwas weniger als dreihunderttausend Euro. Mutter begann zu weinen, als sie davon erfuhr. Für meine Schwestern und mich stand fest, dass der alte Abraham uns auf diese Weise zu verstehen geben wollte, wie wenig er eine Verbindung zwischen unseren Familien wünschte. Vater hingegen nahm ihm beim Wort.

Am Abend kehrte ich zu den Mandelbäumen zurück. Akhilesh lag mit geschlossenen Augen in seiner Hängematte. Mit dem linken Fuß auf den Boden schaukelte er sich sanft. Es stank nach den Ausscheidungen der Wanderasketen, die ihre Notdurft von den Bäumen herab verrichteten. Akhilesh schien weder der Gestank noch das aufgeregte Summen der Fliegen zu stören. Ohne die Augen geöffnet zu haben sagte er: „Komm her, Sohn, und setzt dich zu mir."
Der Kerl war mir unsympathisch. Seine zur Schau gestellte Selbstsicherheit widerte mich an.
„Ich bin gekommen, um die Ziegen zu bezahlen."
„Das weiß ich doch. Jetzt komm schon her. "
Das Geld lag in meiner Hand, fast neue Banknoten. Ich legte sie ihm auf den Bauch, und er griff zielsicher nach dem Bündel, tastete es ab und steckte es sich dann unter den Rücken.
„Von woher kommen Sie? Aus Cochin? "
„Wir kommen von überall her. Warum willst du das wissen, Sohn? "
Über mir in den Bäumen raschelte es. Ich guckte nach oben. Vielleicht mochten die Asketen es nicht, wenn man ihren Anführer direkte ansprach. Der Hintergrund meiner Frage war die Vermutung, dass es sich nicht um Wanderasketen, sondern um Wanderbanditen handelte, die in Cochin von der Hochzeit der Abraham-Familie gehört hatten, und die nun gekommen waren, um sich ihr Wissen mit üblen Taschenspielertricks zu vergolden.
„Du misstraust mir, Sohn, aber ich bin dein Freund."
Ich fühlte mich ertappt und wurde wütender.
„Ich muss jetzt gehen, gleich kommt mein Vater nach Hause."
Der Alte lächelte mit geschlossenen Lippen. „Bestell ihm schöne Grüße von mir, Sohn, er lernt uns bald kennen.“
Unter der Hängematte stand ein Rucksack. Er war nicht richtig verschlossen. Wenn er umgefallen wäre, hätte er seinen Inhalt über den Boden zerstreut.
„Ich wünsche Ihnen Gesundheit", sagte ich und trat gleichzeitig gegen den Rucksack. Er neigte sich langsam nach hinten, sank dann zusammen wie ein angeschlagener Boxer, fiel aber nicht um. Das einzige, was er preisgab war der Zipfel einer platinfarbenen Kreditkarte.
Der Alte grinste mit geschlossenen Augen. Ich ging.
„Sei nicht zu stolz, um vom Leben zu lernen, Sohn. Wenn du fortgehst, wie es dir prophezeit ist, dann denke immer daran, denen zu dienen, die du liebst. "
Ich wandte mich um. Wieder so ein Spruch, wie er beliebiger nicht hätte sein können. Er hätte überall gepasst. Die Antwort verkniff ich mir und ging.

Mittlerweile war das ganze Dorf auf den Beinen, und unser Haus drohte vor Menschen zu platzen. Sheena hing am Telefon und beriet sich mit unserem kaschmirischen Großvater. Die Familie meiner Mutter lebt dort.
Mutter stand in der Küche und rührte in ihren größten Töpfen und Schüsseln. Anusha, Alisha und Nanda, meine Schwestern, in dieser Reihenfolge jünger als Sheena, schleppten von unseren unmittelbaren Nachbarn, den Sreedharans, Stühle und Sitzkissen herbei, leider auch die Familie, welche die Bitte meiner Schwestern als allgemeinen Hilferuf verstehen wollte. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, festentschlossen, mich dem albernen Trubel fern zu halten. Das Handy piepte. Nisha, meine Freundin, hatte mir eine SMS geschickt. Ihr Bruder war mit seiner Familie vor einigen Monaten nach Kalkutta gezogen, um dort eine Stelle bei der Regierung anzutreten. Sein Haus stand leer, weil noch nicht sicher war, ob Nishas Vater es verkaufen oder selber hinein ziehen wollte. Nisha hatte den Schlüssel des Hauses ergattert, und das bedeutete für uns, einen ungestörten Abend zu verleben. Das Beste, was mir passieren konnte war dem Jammer der Familie für ein paar Stunden zu entkommen.
Im Badezimmer spielten zwei Jungen aus dem Dorf, der kleine, dicke Arun und der hagere, knochige Sunil, mit einem Stück Holz in der von Vater nach langem Suchen gefundenen französischen Edeldusche. Im Abfluss steckte ein Tuch, Wasser rann über den Wannenrand.
In der Hoffnung, Antrieb zu erzeugen, hatten die Jungs Vaters Nass-Trockenrasierer mit einem Schnürsenkel unter das kleine Holzbrett gebunden und ihn eingeschaltet.
Arun, kaum siebenjährig, sah mich mit seinen großen, runden Augen an. Die Hände faltete er brav vor dem Bauch. Er wirkte ebenso unschuldig wie drollig. Sunil, etwas jünger, tat es ihm gleich.
„Raus hier!" befahl ich. Die Jungen stürmten aus dem Badezimmer. Als ich später, geduscht und parfümiert, mein schweres Haar mit Gel gebändigt, in den Flur trat, kam Vater gerade zur Tür herein.
Vater ist einen Meter und siebzig groß, also zehn Zentimeter kleiner als ich. Als an ihm ist breit und kantig, das Gesicht, der Oberkörper, die Hüften, die Beine, sogar die Hände und die Füße. Seit seiner Kindheit trägt er einen Scheitel, der immer so korrekt aussieht, als zöge er ihn jeden Morgen mit dem Lineal. Wer mit Vater schwimmen geht sieht, dass sein Haar sogar unter Wasser gescheitelt auf dem Kopf liegt. Seine Geschäftsfreunde nennen ihn den Terrier, weil er sich so lange in ein Problem verbeißt, bis er es löst.
Zu seinem vierzigsten Geburtstag, das war vor sieben Jahren, hatten sie ihm aus diesem Grund einen Bulldog geschenkt. Einen tyrannischen Kläffer mit einem quadratischen Brustkorb und einem ebensolchen Kopf, der, wenn Vater ihn am Wochenende mitbrachte, sofort begann, den Garten umzugraben und mit seinem Gebiss Steine zu zermahlen. Im Erwachsenenalter entwickelte der Hund die unangenehme Eigenart, auf Ziegen aufzureiten. Vater hat den Hund deswegen über Nacht abgeschafft, und seitdem wurde im Haus nie wieder über den Terrier noch über Vaters Spitznamen gesprochen.
Sofort umringte die Meute Vater. Sheena warf sich ihm weinend um den Hals. Vater war hocherregt. Sein kleiner Schnurrbart zitterte, und seine Augen, scharf und stechend, traten etwas hervor. „Alles wird gut, mein Täubchen", suchte er Sheena zu beruhigen. Dann machte er etwas, das ich bei ihm selten erlebt hatte. Er sah sich mit einem unsicheren Blick um, als ob ihn die vielen Menschen verängstigten. Plötzlich wirkte er müde.
Wenn er mich gesehen hätte wäre ich zu ihm gelaufen um ihn zu begrüßen. Aber dann wäre es mir schwer gefallen, mich von der Familie zu lösen. Vater hätte meine Flucht nicht geduldet, er hätte darauf bestanden, mit mir Sheena und Mutter zu trösten, oder unseren Gastgeberpflichten nachzukommen. Rasch verschwand ich in meinem Zimmer und verriegelte es. Das Zimmer lag von der Straße aus gesehen zur linken Seite des Hauses. Draußen, auf der Wiese vor dem Fenster, übten Mädchen eine neue Choreografie ein, ich meinte einige Schritte zu erkennen aus dem letzten, großen Kino-Kassenschlager aus Mumbai: Wenn aus Freundschaft Liebe wird.
„Weg mit euch!", rief ich hinab. Die Mädchen verharrten, schauten eine Sekunde hoch zu mir und liefen fort. Mittlerweile war ich darin geübt, das Haus durch das Fenster zu verlassen, in dem ich mich auf den mittleren der drei Wassertanks fallen ließ, die unmittelbar vor der Hauswand standen. Unbehelligt gelangte ich in meinen Jeep. Als unser Haus im Rückspiegel kleiner zu werden begann atmete ich erleichtert auf. Der Abend war gerettet.
Wieder auf die Straße schauend entdeckte ich Onkel Dinesh am Wegesrand. Ich bremste und stecke den Kopf aus dem Seitenfenster. „Onkelchen, du hier? Was gibt es? "
Onkel Dinesh lächelte, die kleinen, weißen Zähne blitzten. Statt zu antworten hob er nur seinen Wanderstab. Wir schauten uns in die Augen. Seine waren matt und trübe. Onkel Dinesh hatte den Lebensmut verloren, als seine Frau Madhu vor sieben Jahren starb. „Wir sehen uns", murmelte ich schließlich.
Er lachte stumm.
Onkel Dinesh wandte sich ab und hinkte davon. Nach dem Tod seiner Frau war er in eine Einsiedlerhütte in die Westghats gezogen, um dort ungestört beten und meditieren zu können. Niemand hatte ihm am Fortgehen gehindert. Der Grund dafür war ein längst verstorbener Großonkel meines Vaters, Ajatashatru, ein Betrüger und mutmaßlicher Mörder. Eines Nachts hatten ihm Freundes seines letzten Opfer aufgelauert und erschlagen. Onkel Dineshs schwere Schuld bestand nun darin, dass er mit seiner Frau Madhu zwei Söhne, Zwillinge, gezeugt hatte, die aussahen wie Miniaturkopien von Großonkel Ajatashatru.
„Der Mörder ist gleich doppelt zurückgekehrt", sagten die Menschen im Dorf.
Die Jungen, Ambar und Chittaranjan, waren den täglichen Anfeindungen nicht gewachsen. Sie entwickelten sich deutlich unter ihren Möglichkeiten, Ambar, der um einige Minuten jüngere, machte sich noch im Alter von fünf Jahren in die Hosen, und Chittaranjan hatte sich in eine Scheinwelt geflüchtet, in der nur seine Familie und Tiere existierten.
Als die Jungen das schulfähige Alter erreichten bestand Mutter darauf, dass Vater - Onkel Dinesh fehlte das Geld - sie in ein Internat in Delhi schickte. Die beiden Jungen sind mittlerweile erwachsen.
Anders als mein kräftiger, energischer Vater ist Onkel Dinesh schmächtig und gleich um einen Kopf kleiner als er. Onkel Dinesh hatte sich in seiner besten Zeit einen Namen als Teeexperte gemacht. Angeblich trinkt man noch heute zwei seiner Kreationen in Warschau. Auf jeden Fall hat er schon immer wesentlich älter ausgesehen als er war. An jenem Tag, mit fünfzig, glich er einem Mann jenseits der sechzig. Er trug einen weißen Schnurrbart, und gegen die Sonne schützte ihn schwarze Melone, wie sie Englische Lords aufzusetzen pflegen.
Seine ursprünglich weißen Hosen und Hemden, die er aus Trauer trug, hatten sich im Laufe der Zeit tabakfarben gefärbt.
Vor einigen Jahren war er bei seinen einsamen Wanderungen durch die Westghats dem Nest einer Königskobra zu Nahe getreten. Die Kobramutter hatte Onkel Dinesh durch den Urwald verfolgt und ihn schließlich in die Wade gebissen. Zu jener Zeit befand sich eine Wissenschaftlergruppe aus Bangalore mit der Absicht in der Gegend, unsere endemischen Schlangen- und Amphibienarten zu untersuchen und neu zu kategorisieren. Als Onkel Dinesh, wie von höherer Gewalt geführt, ohnmächtig vor ihren Füßen zusammen brach handelten sie sofort und verabreichten ihm ein Gegengift. Was wiederum nicht jedem im Dorf recht war, Onkel Dinesh wohl auch nicht. Als inoffizielle Lesart gilt, dass ihm das Schicksaal einen schönen und ehrenhaften Tod angeboten hatte, den er aus Boshaftigkeit und Arroganz verweigerte.
Vom Schlangenbiss blieb nichts zurück außer einem hinkenden Bein und einem wissenschaftlichen Artikel über die Wirkung von Gegengiften in einer Fachzeitschrift in Bangalore, illustriert mit einem Foto, welches den unsicher lächelnden Onkel Dinesh im Kreise seiner Retter zeigt.
Zu besonderen Anlässen kehrte Onkel Dinesh zurück ins Dorf.
Ich kann mich an keine Hochzeit, hinduistische, moslemische oder christliche erinnern, auf der er nicht - der Prozession hinterherhinkend - getrommelt hatte.
Er war immer da, wenn man ihn braucht, und er verstand es meisterhaft, wie unsichtbar im Hintergrund die Fäden zu ziehen.

Die zwanzig Kilometer zu Nisha legte ich in Windeseile zurück. Wie immer parkte ich den Jeep etwas abseits vom Haus und wartete, bis es dunkel war. Nisha empfing mich mit ihrem entzückendsten Lächeln. Wir schlossen rasch die Haustür hinter uns und küssten einander. Nisha war ein wunderschönes Mädchen. Vor einigen Monaten, kurz nachdem ich aus England zurückgekehrt war, saß sie mit Sheena in unserem Garten. Die beiden kennen sich schon lange, aber mir war sie bis dahin nicht aufgefallen. Wir haben uns sofort ineinander verliebt. Ich genoss alles an ihr. Sie ist so anders ist als die Mädchen in London, die gleich mit der Tür ins Haus fallen. Wir beschlossen zunächst, unsere Beziehung zu verheimlichen. Das war ehrlich gesagt mein Vorschlag, denn es gab noch einige Schwierigkeiten, die mich an einer Öffentlichmachung unserer Gefühle hinderten.

Nisha hatte gekocht.
Mit fiebriger Unruhe näherten wir uns dem Abschluss des Essens, und als es dann endlich so weit war trug ich sie ins Schlafzimmer, und dort liebten wir uns.
Irgendwann lagen wir glücklich umschlungen im Bett. Zwei Ventilatoren, einer stand neben dem Nachttisch, der andere war unter der Zimmerdecke montiert, sorgten für Kühlung.
Nisha konnte nicht schlafen, sie wälzte sich im Bett.
„Du Rahul", begann sie das Gespräch, „bald heiratet doch deine Schwester. "
„Schon wieder dieses Thema", flüsterte ich ihr ins Ohr.
Sie lachte. „Ja, schon wieder dieses Thema. Ich kann mir vorstellen, dass bei euch Zuhause über nichts anderes gesprochen wird. "
Sie streichelte über meinen Rücken.
„Ich kann das nicht mehr hören. Sheena und Mutter treiben alle in den Wahnsinn. Ich bin froh, wenn es vorbei ist. "
Sie knuffte mich in die Seite. „Sei nicht so unromantisch. Kannst du dir nicht vorstellen . . . "
„Natürlich kann ich mir vorstellen, wie viele Kleinigkeiten und Details noch erledigt werden müssen. Allein die Bewirtung... Außerdem müssen wir für den Transport unserer Gäste aus dem Dorf und die Unterkunft in Cochin sorgen. Die Heiraterei wird Vater noch ruinieren. "
„Das meine ich nicht. Für diese Dinge ist gesorgt, schließlich ist dein Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann. Eigentlich . . . "
Ich drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Sie befreite sich sanft von mir, schaltete die Nachttischlampe an. Sie wirkte hellwach.
„Schau mich an, Rahul."
Ihre Fingerspitzen streichelten meine Wange.
Ich verdrehte die Augen.
„Sie nicht so albern. Schau mich an. "
„Gut, und jetzt? ", fragte ich neugierig und vorsichtig zugleich.
„Rahul, wie sieht deine Zukunft aus? Ich meine, du hast in London studiert, bist zurückgekehrt. Warum? Was findest du hier, das es in England nicht gibt? Möglicherweise eine Frau? "
Der Unterton war nicht zu überhören. Trotzdem ging ich nicht drauf ein.
Hätte ich ihr die Wahrheit sagen sollen? Ich hatte nach Kerala zurückkehren müssen, weil Vater befürchtete, dass ich meine indische Kultur verlieren würde? Sein überzeugendstes
Argument war sein Scheckbuch.
„Darum habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, Nisha. "
Ihre Augen weiteten sich. Sie konnte zugleich die Stirn krausen und lächeln und dabei gut aussehen. „Rahul, du bist vierundzwanzig. In diesem Alter ernähren andere Männer eine Familie. Und du könntest das auch. Verstehst du, was ich meine? "
Ich rutschte etwas zurück. Diese Art der Diskussion fürchtete ich, denn ähnliche Gespräche hatte Mutter oft mit mir führen wollen, was ihr aber nicht gelang, weil ich mich dann immer zurückzog.
Tatsächlich hatte ich zu jenem Zeitpunkt keine konkreten Zukunftspläne. Ich war vierundzwanzig Jahre alt und wollte nach den Jahren des Studierens in England mein Leben genießen. Das war meine Philosophie. Irgendwann wollte ich nach London zurückkehren oder vielleicht nach Delhi gehen, um Doktor zu werden und, wenn das eines Tages notwendig werden sollte, mir meinen Lebensunterhalt vielleicht als Dozent oder so verdienen. Praktische Arbeit betrachtete ich kritisch, an meinem beklagenswerten Vater sah man ja, wozu die führte. Dieser schaffenswütige, kurz schlafende, immer grübelnde Mann war paradoxer Weise mein größter Verbündeter. Er vertrat die Meinung, dass seine Kinder es nicht so schwer haben sollten wie er, der mit Schulden in Cochin angefangen und es nun zum Teilhaber einer Fabrik mit fast dreihundert Mitarbeitern geschafft hatte.
„Was soll ich machen?", fragte er Mutter immer, wenn die ihm vorwarf, meine Flausen zu unterstützen, „Wenn man bedenkt, was ich für die Töchter ausgeben muss, ist mein Sohn nahezu billig."
Genau das war auch mein Standpunkt, denn wenn ich eines als Philosoph verstanden hatte dann die Tatsache, dass das Leben und erst recht die Jugend, zu schön und kurz waren, um sie mit Arbeit zu ruinieren.
„So eine Hochzeit, vor allem mit einem geliebten Mann, ist nun einmal der Höhepunkt im Leben einer Frau", riss mich Nisha aus den Gedanken.
„In erster Linie handelt es sich doch um einen Formalismus", antwortete ich ihr.
Sie schaute mich stumm an. In ihren großen, braunen, etwas grünstichigen Augen zogen Wolken auf. Mir war nur zu bewusst, worauf sie hinaus wollte, aber ich fühlte mich wohl mit meinem Junggesellenstatus. Außerdem gab es einige Dinge, die ich dringend klären musste. Zunächst wollte ich beobachten, wie unsere Beziehung sich entwickelte. Und dann waren da noch drei andere Frauen, die ich ebenfalls in Herz geschlossen hatte. Susan und Meg warteten in London auf meine Rückkehr, und in Cochin pflegte ich vertraulichen Umgang mit Seema, der Tochter eines Mitarbeiters meines Vaters. Als Seema erfuhr, dass ich aus London zurückgekehrt war, hatte sie mich eingeladen, um über England zu sprechen. Wir kennen uns, seit wir drei sind, doch wir hatten uns niemals füreinander aus Liebe interessiert. Manchmal werden Menschen erwachsen, aber man sieht sie trotzdem als Kind an. So war das auch mit Seema, das heißt, bis zu diesem Treffen. Donnerwetter, war mein erster Gedanken, als ich ihre Verwandlung in eine hübsche, attraktive Frau begriff.
Wir kamen uns nahe, sehr.
In ihr glühte die unterdrückte Sehnsucht nach Abenteuern aller Art – und da kam ihr ein Mann recht, der sich die Provinzialität Keralas in London aus den Kleidern hatte lüften lassen.
So gesehen saß ich zwischen allen Stühlen. Eigentlich liebte ich Nisha, Seema, Susan und Meg zugleich. Warum sollte auch die Liebe zu einer Frau die zu den anderen ausschließen? Nisha liebte ich wegen ihres scheuen Wesens, ihrer Sanftheit, wegen ihrer Zärtlichkeit. Sie ist die hübscheste von allen. Ein spontanes, kumpelhaftes Wesen mit lachenden Augen. Meg ist damenhaft und heißblütig zugleich, mit ihr besuchte ich Theater und Museen, sie lehrte mich britische Kultur.
Susan ist verrückt und chaotisch, und sie ist auf eine wunderbare, grundanständige Weise verdorben und frivol. Mit ihr arbeitete ich an einem wissenschaftlichen Projekt. Sie hatte vorgeschlagen, das Buch des Kamasutra durch eine moderne Fassung zu ergänzen, die auf viele unpraktizierbare Verrenkungen verzichtete und gleichzeitig der Liebe die Romantik zurückgab, die ihr neuzeitliche Geschäftemacher gestohlen hatten.
So gesehen standen auch unsere gemeinsamen Nächte ganz im Zeichen der Revolution und der Wissenschaft.
Mit einer Videokamera zeichneten wir vieles auf. Die Filme halfen uns, die Erinnerungen an unsere schönen Stunden in Farbe zu verewigen.
Zu jener Zeit schrieben wir uns E-Mails, arbeiteten an unserem interkontinentalen Kamasutra, der damals zu einem Viertel fertig war. Meine Aufgabe war die Illustrationen und der philosophische Unterbau, Susans Stärke waren anregende, aber niveauvolle Texte. Susan meinte, dass wir das Werk eines Tages ins Internet brächten und damit eine neue, romantisch-sexuelle Revolution auslösen könnten.
„Unsere Namen, unsere Liebe, unsere Körper, unsere Genitalien werden unsterblich im Netz. Das, was wir machen ist so etwas Ähnliches wie Höllenmalerei in 3D.“
Naja, so weit wollte ich nicht gehen, aber ich muss zugegeben, dass mir die Arbeit großen Spaß bereitete.
Leider endeten die Nächte mit Nisha immer zu früh. Ich hasste es, im Morgengrauen das Haus wie ein Dieb zu verlassen. An diesem Tag war es anderes. Ich war bereits um drei Uhr wach geworden. Warum war Vater gekommen? Die Frage ging mir nicht aus dem Kopf.
Der Wanderasketenführer Akhilesh lag vielleicht doch nicht so falsch mit seiner Prophezeiung. Um fünf Uhr weckte ich Nisha und verabschiedete mich. Sie sah so unwiderstehlich aus mit ihrem aufgelöstem Haar.
„Mitten in der Nacht?“, murmelte sie.
„Vater ist zurückgekehrt, er steht immer früh auf, sicher wartet er bereits auf mich.“
„Bestell ihm Grüße von mir.“
Sie wusste, dass ich das nicht wollte. Ich lächelte und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
 



 
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