Sie meinen es gut, meinen sie

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Nie Einheimische nach dem Weg fragen, sie kennen sich nicht wirklich aus. Damit fahre ich in der Fremde im Allgemeinen gut. Ich studiere Karten, Reiseführer und probiere alles selbst aus. Doch manche Ortsansässigen lassen sich nicht erst bitten, sie sind ungebeten zur Stelle, freundlich und aufdringlich. Einige Fallbeispiele.

In einem Tessiner Bergdorf mache ich Rast auf einer Bank. Ein Mann aus der Gegend setzt sich zu mir, gibt ungefragt endlose Erklärungen und Ratschläge, die ich nicht benötige. Nach einer Dreiviertelstunde spürt er meine aufkommende Reserve und deutet sie sich falsch: „O, ich habe Wein getrunken, Sie riechen es wohl …“

Ein anderes Mal gehe ich im Weinheimer Arboretum so vor mich hin, die Riesenmammutbäume betrachtend. Einer, selbst fußkrank, will mir freundlich vorschreiben, welchen Weg durch den Park ich mit dem größten Gewinn und Genuss unbedingt gehen müsse. Ich schlage seinen Rat in den Wind. Soll er mich doch meine eigenen Eindrücke sammeln lassen.

In Görlitz besichtige ich die x-te Kirche für diesen Tag, meine Augen schon etwas müde. Da erhebt sich aus dem Gestühl im Dämmerlicht ein Mütterchen und will mir auf jeden Fall jene Kapelle noch zeigen und erklären. Ich lehne ab, es sei eben schon zu viel für diesmal. Sie kann es nicht verstehen: „Ich zeige sie Ihnen dann, wenn Sie wieder hierher kommen und mehr Zeit haben.“ Ich werde mich hüten.

In New York erfährt ein neuer Bekannter von meiner Weiterreise nach Boston. Sogleich verpflichtet er mich, seinen Freund dort anzurufen, gleich nach meiner Ankunft. Der werde mir dann alles in Boston zeigen. Ich sage: Ja, ja … Ich rufe nicht an und finde außerdem andere Einheimische, die das Herumführen bestens besorgen. Wieder in New York muss ich mir Vorwürfe gefallen lassen: Du hast ihn nicht angerufen. Er hätte dir doch …

Und wieder einmal bin ich zu Fuß unterwegs. Zwei Reiterinnen nahen, nebeneinander schwankend auf hohem Ross, emsig schnatternd und mit der Reitgerte spielend. Ich drücke mich an den äußersten Wegrand, bleibe stehen. Da die Damen alle Zeit der Welt zu haben scheinen – unglaublich, wie langsam sich Pferde fortbewegen können -, vertreibe ich mir die Zeit damit, den weiteren Wegverlauf auf meiner Karte zu studieren. Jetzt werden die Pferde auch noch angehalten. Eine freundliche Stimme: „Können wir Ihnen helfen? Wo wollen Sie denn hin?“ – „Immer geradeaus, wenn der Weg wieder frei ist.“ Befremdet über mich Grobian reiten die Damen weiter.

Nein, ich will mir nicht den Weg zeigen und erklären lassen. Ich will meine eigene Reise. Einheimischer, nicht jeder Fremde ist ein hilfloser Trottel. Dränge dich ihm nicht auf, wenn er dich nicht um Rat oder Hilfe bittet.
 

Hagen

Mitglied
Hallo Arno,

sehr gut beobachtet!
Komisch, mir passiert sowas nie. Muss wöhl an meinem abschreckenden Äußeren liegen.
Jedenfalls frage nie mehr eine Frau nach dem Weg, es endete immer im Disaster.
Eine Polizeihostesse habe ich mal nach dem Weg vom Auto aus gefragt; - sie antwortete: "Vorletzte Straße links einbiegen."
Sie hat nicht beachtet, dass es eine Einbahnstraße war!
War wohl zuviel verlangt.
Als ich ein anderes Mal den Anweisungen einer Frau folgte, landete ich mitten im Wald. Als ich schließlich einem empörten Frörster begegnete und ihm den Fall schilderte, brüllte er mich an: "Mann, sie können doch keine Frau nach dem Weg fragen! Sind sie verrückt oder was?"

Naja, es gibt da nochmehr, währe auch eine Geschichte wehrt, aber so schön wie Du schaffe ich es nicht.

Beste Grüße
yours Hagen

________
nichts endet wie geplant!
 
U

USch

Gast
Hallo Arno,
sehr gut beschrieben diese hilfsgewaltigen Einheimer. Gibt aber auch noch Leute, die überhaupt nicht Bescheid wissen und doch die Blaue-vom-Himmel-Wegbeschreibung so überzeugend liefern, dass man es glaubt und in der Irre landet.
LG USch
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Textlich gelungen, aber insgesamt ist mir der Ton zu negativ, es gibt auch positive Beispiele, und jederzeit kann man in der Fremde in echte Not geraten und kann dankbar für den Einheimischen sein, der den nächsten Arzt weiß.
LG Doc
 

JANKO

Mitglied
Bitte sei mir nicht bös, aber die
Vorkommentatoren haben die Sache
effektiver auf den Punkt gebracht,
als du in deinem Werk.
Stell dir vor, du wärest noch viel
weiter gereist und du hättest noch
mehr Derartiges erlebt!

Nimm meine Äußerung mit Humor,-auf
keinen Fall Ernst, denn ich bin
nur Leser.
 
Mein Dankeschön an alle vier ...

... bisherigen Kommentatoren, mit der Bitte um Entschuldigung für die gemeinsame "Abfertigung".

Ob Hagen Recht hat mit seiner ganz speziellen Gendertheorie, weiß ich nicht. Es gibt wohl eine Untersuchung, nach der bei Frauen die räumliche Orientierung im Durchschnitt etwas schlechter sein soll, aber vielleicht ist sie auch schon widerlegt? Jedenfalls habe ich mich in meinem Text um Ausgewogenheit bemüht (3 Frauen, 3 Männer). Und es ging hier ja auch nicht primär um die Zuverlässigkeit der unerbetenen Auskünfte ...

DocSchneider liegt natürlich richtig, wenn er den Text nicht ausgewogen genug findet. Das sollte er auch nicht sein.

Lob von USch und Tadel von JANKO habe ich mehr oder weniger erfreut zur Kenntnis genommen.

Schönen Nachmittag
Arno Abendschön
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Arno,
sehr interessiert habe ich deine prägnante und kurzweilige Kurzprosa gelesen!
Mir erscheint es ein wenig müßig zu sein sich damit zu beschäftigen, ob es besser / schlechter / korrekt oder verwerflich ist, Einheimische nach dem Weg zu fragen. Wir treffen hier in der Kurzprosa auf einen Erzähler, der nicht gern fragt, der lieber alles selbst vorbereitet. Dann ist das eben so.
Jetzt gilt es, sich als Leser auf diese eher untypische Strategie einzulassen. Und wenn wir ein wenig genauer lesen, dann stellen wir fest, dass der Erzähler seine Strategie dann doch nicht im Brustton der Überzeugung raushaut, dass er ganz bestimmt nicht den Missionar abgeben will.
Was vordergründig straight und manchmal grob daherkommt, zeigt sich gleichzeitig hintersinnig, autistisch, verletzlich und womöglich auch vereinsamt. Aber Tränendrüse und Mitleid sind hier nicht erwünscht.
Wir erhalten das Kurz-Porträt eines Reisenden, dieser Reisende präsentiert sich uns mit Ecken und Kanten. Mir gefällt der Kerl gut. Und der Text auch.

lg wüstenrose
 
Wüstenrose, auf einen Kommentar wie deinen jetzt kann der Kommentierte nur eines tun: Sich beschämt in eine Ecke setzen und sich die eigenen Macken bzw. die seiner Texte vor Augen halten ...

Also einfach nur danke für die Zeilen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

sonah

Mitglied
Stilistisch sehr gut geschrieben finde ich es, keine Frage. Nur mir erschließt sich nicht ganz, wo Du mit dem Text hinwillst. Auf eine Eigenart der Mitmenschen hinzuweisen, die gerne einem auch mit Gewalt über die Straße helfen wollen, auch wenn man partout lieber andächtig die vorbeifahrenden Autos beobachten möchte? Dann wären noch ein paar Dialoge oder Gesprächsfetzen schön gewesen, um das deutlich zu machen. Oder wieso grüßt der Erzähler nicht einfach freundlich und zieht weiter? Vielleicht auch das Ganze noch etwas mehr überzeichnen und ins Absurde führen.
 
Danke, sonah, für die Meinungsäußerung. Eine moralische oder therapeutische Intention hat der Text nicht, er will nur zwei konträre Typen vorführen und die unerquickliche Situation ihrer zufälligen Begegnung.

Was das vermisste Verdeutlichen, Überzeichnen usw. angeht - das entspricht gerade nicht der von mir beabsichtigten Wirkung. (Sie kann natürlich je nach Leser recht verschieden ausfallen.)

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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