Sie weint

Sie Weint

Der Wecker klingelt. Laut. Schrill. Der Mann schlägt mit der Hand in Richtung des Lärms. Ein dumpfer Aufprall, dann Stille. Der Wecker liegt am Boden. Der Mann richtet sich langsam auf. Müde noch. Verschlafen. Eine schlimme Nacht. Es war der Brief. Flach und weiß lag er gestern auf seinem Schreibtisch. Ganz unschuldig.
Der Mann steckt die Hand unters Kopfkissen. Er ist weg! Der Mann blickt sich um. Wo ist er? Auf dem Nachttisch. Er sieht ihn. Er nimmt ihn und entfaltet ihn wieder.
Kündigung! Fünfzehn Jahre Schufterei. Und jetzt? Die Frau weiß noch nichts. Er traut sich nicht es ihr zu sagen. Mann, komm essen! Es wird Zeit! Der Mann zieht sich an. Das Hemd, die Hose, das Jacket. Der Brief! Die Frau darf ihn nicht finden. Er steckt ihn in die Jackentasche. Der Mann kommt in die Küche. Sie steht an der Anrichte und dreht ihm den Rücken zu. Er setzt sich und isst. Du bist spät! Sie schneidet Gemüse. Er isst.War gestern etwas besonderes? - Nein, nichts. Sie hört auf zu schneiden. Nichts, wiederholt sie nur. Er sieht auf ihren Rücken. Sie kann es nicht wissen. Er isst weiter. Der Brief in seiner Tasche, schwer. Er lag nicht unter seinem Kopfkissen. Er lag auf dem Nachttisch. Sie schneidet weiter. Er steht auf. Draußen nimmt er seine Jacke vom Haken. Er wartet.Sie weiß es nicht. Sie schneidet immer noch.
 

Zefira

Mitglied
Sie weint?

Der Text gefällt mir an sich gut. Er ist trocken, schlicht und hat trotzdem Atmosphäre. Hat mich stilistisch an manche Sachen von Wolfgang Borchert erinnert.

Zwei Kritikpunkte: Erstens komme ich mit dem Titel nicht zurecht. Ich kann ihn einfach nicht zu dem Text in Beziehung setzen. Ich gehe mal davon aus, daß die Frau den Brief gelesen hat und er deshalb morgens auf dem Nachttisch lag. Trotzdem steht in dem Text mehrmals "Sie weiß es nicht". Das ist die Perspektive des Mannes. Der Mann kann aber nicht wissen, daß sie weint. Warum hat der Titel eine andere Perspektive als der Text? Das verstehe ich nicht.

Und zweitens: für mein Gefühl ist es ziemlich unwahrscheinlich, daß jemand seinen Kündigungsbrief unter sein Kopfkissen steckt. Das tut man doch wohl eher mit guten Nachrichten. Macht mich ein bißchen ratlos.

Liebe Grüße,
Zefira
 
Hallo Zefira!

Erstmal danke für deine Antwort!
Deine Kritikpunkte sind allerdings ganz einfach zu erklären. Der Brief steckt unterm Kopfkissen, weil ich das als einen sicheren Platz ansehen würde. Schließlich hat der Mann nachts auf dem Kissen gelegen und konnte sich fast sicher sein, dass daher niemand an den Brief herankommen würde, der ihn nicht lesen soll.
Die Überschrift steht absichtlich in einer anderen Perspektive um dem Leser klar zu machen, was mit der Frau ist. Der Mann denkt schließlich die ganze Zeit, dass sie nichts von dem Brief ahnt und jetzt sag' mal ehrlich, ob du vermuten würdest, dass sie doch etwas weiß, wenn die Überschrieft "Sie weiß es nicht" lauten würde. Vielleicht, aber nicht mit solcher Sicherheit wie bei "Sie weint".
Durch die beiden Wörter ist ganz klar festgelegt, dass sie Bescheid weiß. Man vermutet, was die Frau denkt, fühlt... Das könnte man nicht sagen, wenn man die ganze Geschichte nur auf den Mann bezogen schreiben würde. Also gehört die Überschrift zur Frau.

Danke für deine Antwort,
Melani Raasch!
 

bassimax

Mitglied
hallo,

wecker klingeln immer laut, wenn sie den klingeln.
briefe liegen immer flach, wenn wie sie denn liegen.
ausserdem: die geschichte ist zu kurz. diese kurzgeschichte
ist gar keine. sie ist nur der beginn. ich hätte gerne
weitergelesen, denn das thema ist interessant, man hätte
etwas draus machen können. und der schreibstil ist, ab-
gesehen von kleinen holpereien, recht angenehm. weiter so
möchte man sagen, aber bitte zuendeschreiben.
gruss
sebastian
 
Klar ist das fertig

Ich find die Geschichte ziemlich gelungen, und sie ist auch zu Ende geschrieben. Schließlich definieren sich Kurzgeschichten ja über ihren ausschnitthaften Charakter und vor allem ein offenes Ende, eine Kurzgeschichte ist schließlich keine Erzählung, die möglichst viel vom Leben einer Hauptperson erzählt. Das Thema ist aktuell und die Kurzgeschichte soll ja auch zum Nachdenken anregen, deshalb find ich es auch so gut, dass man in dieser Geschichte erst eine Weile darüber nachdenken muss, ob die Frau nun bescheid weiß oder nicht. Schließlich kommt man zu dem Schluss, dass sie genau weiß, was in dem Brief steht. Der Mann kann der Frau nicht sagen, dass ihm gekündigt wurde und sie kann ihm auch nicht sagen wie betroffen sie ist, nicht nur, weil ihm gekündigt wurde, sondern auch, weil er es ihr nicht sagen konnte. Kommunikationsunfähigkeit!!! Auch ein aktuelles Thema. So genau wollte ich darüber eigentlich gar nicht nachdenken, aber eines noch: Geschichte gelungen, Respekt!

Nachher töte ich noch meine Tastatur!!!
 

bassimax

Mitglied
hallo ann-kathrin,

es stimmt einfach nicht das kurzgeschichten sich über ein
offenes ende definieren. und auch das ausschnitthafte
element ist nicht unbedingt ein kriterium. du darfst nicht
vergessen, das es in büchern kurzgeschichten gibt die über
60 seiten und mehr gehen.
viele grüsse
sebastian
 

Lillia

Mitglied
mir gefaellt's

Hallo!

Mir ist der abgehackte Schreibstil etwas wenig originell, aber da es einigermassen zum Thema und dem Ton zwischen den beiden passt, stoert's eigentlich nicht.
Die Idee mit der Ueberschrift und der Geschichte finde ich richtig gut...Man liest erst die Ueberschrift, vergisst sie und denkt dann wieder daran...Ich hatte das Gefuehl, ich wuerde ein Bild angucken und es dann umdrehen koennen, um es von der anderen Seite zu sehen und das finde ich gut.

-lilli-
 
mag ja sein

Kann schon sein, dabei handelt es sich dann aber nicht um moderne Kurzgeschichten, sondern eben eher doch um Erzählungen. Die Kurzgeschichte ist nämlich ein Abbild der englischen Short Story, die eine gestochen scharfe Momentaufnahme ist und damit über einen ausschnitthaften Charakter und meistens ein offenes Ende verfügt. Es mag aber sein, dass ich momentan ein wenig zuviel an Kafka denke, vor allem, was seine Enden betrifft. Dabei gehört Kafka wohl eher in Richtung Parabel. Vielleicht spukt mir da ja jetzt auch der falsche Gedanke im Hirn rum ...

Gruß Anka
 
A

annabelle g.

Gast
zuvorgesagtes

die sprache ist gut, das manchmal etwas abgehackte kann schnell durch ein leichtes verbinden mancher sätze behoben werden.
ich habe auch ein problem mit der überschrift - nicht zu prägnant - warum nicht "der brief".
mit ingrid von einem anderen thread sagend: warum keine namen. der mann und die frau ist mir zu maniriert und zu konventionell, als ob männer immer gekündigt würden und frauen immer gemüse schnitten.
schließlich fehlt mir auch ein schluss und ich finde auch, das sollte von der miniatur weg mindestens um ein drittel länger werden. die schöne sprache und das thema geben es her. annabelle
 
Hallo Sebastian!
Schon möglich, dass es 60-seitige Kurzgeschichten gibt, aber ebenso gibt es welche, die nur 60 Zeilen oder noch weniger umfassen. Wenn du mit dem gleichen Thema einen Roman schreiben möchtest, steht dir das natürlich frei, aber Kurzgeschichten stellen, wie Ann-Kathrin ganz richtig gesagt hat, nur den Ausschnitt einer Lebenssituation dar und versuchen vor allem Kriesensituationen näher zu bringen, mit denen Menschen sich mehr auseinander setzen sollen. Der Wecker klingelt laut und der Brief liegt flach, weil das die Nüchternheit eines Textes unterstreicht, die in einer Kurzgeschichte dazu dient das Wesentliche, nämlich den Inhalt zu verdeutlichen. Les mal was von Borchert! Der schreibt übrigens auch kurze Kurzgeschichten. Zwar nicht so kurz wie meine, aber ich habe noch nie gehört, dass man eine Kurzgeschichte in der Länge überhaupt definieren könnte!
Viele Grüße,
Melani Raasch!
 

ingridmaus

Mitglied
kurz oder lang

Da menge ich mich jetzt auch mal hinein: Ich wuerde auch nicht alle Kurzgeschichten pauschal ueber ihre Laenge definieren, der Momentausschnitt scheint mir eher das bezeichnende Element zu sein.
Aber hier gebe ich Bassimax recht: Der Ausschnitt ist zu kurz. Das was de facto in der Geschichte passiert, ist ausreichend fuer eine Kurzgeschichte, aber man koennte es laenger ausschreiben. So finde ich es zum Beispiel schade, dass die Geschichte aus der Perspektive des Mannes geschrieben ist - warum kein neutraler Erzaehler (wie meist bei Borchart? ;)). so wuerde der Leser nur sehen, dass der Mann (er sollte wirklich einen Namen kriegen) nervoes unter seinem Kopfkissen rumkruscht und die Frau ziemlich martialisch auf ihrem Gemuese rumhackt. Durch die Gefuehlsbeschreibung des Mannes geht die neutrale Momentaufnahme, die Du ja anscheinend erzielen willst, verloren.
 

Tagmond

Mitglied
Hallo, der Titel macht die Geschichte zu einem wirklich guten Werk. Ohne ihn wäre sie mir persönlich etwas ZU offen. So weiss man, dass die Frau informiert ist...Verdängung, Sensibilität, Rücksichnahme, Angst...wirklich gut!
(oder schneidet sie Zwiebeln? haha-Witz)
 



 
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