Silvester

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Tapir

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Das Magazin des CD-Wechslers hatte er noch schnell, aber mit Bedacht gefüllt. Denn auf keinen Fall hatte er auf der Fahrt Radio hören wollen. Es ist zwar egal, welchen Radiosender man im Auto hört, aber nicht, welche CDs man dabei hat.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Johnny Cash“ antwortete er und registrierte, daß sie die Augenbrauen hob, aber nichts sagte. Sie hatte ohnehin bisher fast die ganze Zeit geschwiegen.
Etwa eine halbe Stunde waren sie jetzt unterwegs. Noch vor zwei Stunden hatte er nicht damit gerechnet, daß sie überhaupt fahren würden. Aber jetzt waren sie auf der A3 Richtung Köln, hatten das Dernbacher Dreieck hinter sich gelassen und langsam spürte er die Spannung aus seinem Körper weichen.
Er hatte sich schon darauf eingestellt, Silvester alleine zu verbringen. Zum ersten Mal. Der würdige Abschluß eines Jahres, das er als völlig verkorkst abgehakt hatte. Begonnen hatte es mit der Trennung von seiner Frau. Nach mehr als zwanzig Jahren, von denen ihm die letzten wie ein schlechter Film vorgekommen waren. In dem er falsch besetzt gewesen war. Und irgendwann hatte dies auch kein drittes oder viertes Motorrad, kein restaurierter Oldtimer, keine Reise und kein intensives Ausleben eigener Interessen mehr verdecken können.
Der ersten Erleichterung darüber, die Rolle abgelegt zu haben, war nach einigen Wochen das Gefühl der Einsamkeit gefolgt. Auch die gelegentlichen Besuche seiner Kinder hatten ihn davon nicht befreien können und das Absurde und Unbefriedigende seiner Situation nur noch deutlicher gemacht. Immer, wenn er zu Hause anrief und den geänderten Text des Anrufbeantworters hörte, auf dem sein Name nun nicht mehr vorkam, wurde ihm bewußt, daß er etwas Wichtiges verloren hatte und noch nicht klar war, ob und was jemals an dessen Stelle treten würde.
Jana saß jetzt neben ihm. Ihren Ellbogen hatte sie auf den Rahmen des Seitenfensters gestützt. Ihr Blick ging nach draußen, wo sich die schneebedeckte Landschaft des Westerwalds vor einem schmutzig-grauen Himmel abhob. Nur kurze Seitenblicke gestattete er sich, bei denen er nichts aus ihrem unergründlichen Gesicht herauslesen konnte. Das Schweigen war ihm lieber, als Themen anzusprechen, bei denen er ihre Reaktion nicht einschätzen konnte. Noch waren sie nicht weit genug gefahren, um nicht doch wieder umzukehren.
Er kannte Jana jetzt seit drei Jahren. Als sie damals, an einem Sonntagmorgen im März, vor der geschlossenen Ausfahrt der JET-Waschanlage stand, eine zierliche Gestalt mit schmalem Gesicht, dunklen Augen und schwarzem Pferdeschwanz in Lederhose und Textil-Motorradjacke und er sie frierend eine selbstgedrehte Zigarette rauchen sah, da hatte er gewußt, daß ihn mit dieser Frau etwas verbinden, das über Beiläufigkeit hinausgehen würde. Über das Internet hatten sie mit anderen die Waschanlage als Treffpunkt für eine Motorradtour ausgewählt. Weil sie in seiner Nähe wohnte, hatte er mit ihr schon einige Mails ausgetauscht. Das Übliche. Was machst Du, was fährst Du für ein Motorrad und so weiter. Unverbindliches. Aber er wußte noch, wie er ihr damals an der Waschanlage dann gegenüber gestanden und nicht mehr gewußt hatte, was er sagen sollte.
Es war eine schwierige Zeit gewesen damals. Wie überhaupt danach nur noch schwierige Zeiten gekommen waren. Seine Frau hatte ihm die kurze Affäre mit der Kollegin nie wirklich verzeihen können. Ihrem Mißtrauen hätte er nur mit eindeutigen Liebesbeweisen begegnen können. Doch je heftiger sie diese von ihm eingefordert hatte, desto weniger war er bereit dazu gewesen. Bis er schließlich das Gefühl hatte, in seinem Leben etwas ganz Neues formen zu müssen, weil das Alte spröde und brüchig geworden war – wie Knetgummi, an dem man zu lange herumgedrückt hatte.
In dieser Zeit hatte er Jana nur alle paar Wochen und nie alleine gesehen. Zu selten, um sich in sie zu verlieben. Dafür hatte es andere gegeben. Projektionsflächen seines Traums von einem anderen Leben. Geeignete und ungeeignete.
Nach der Trennung von seiner Frau waren die Kontakte mit Jana dann häufiger geworden. Obwohl sie inzwischen ihrer Ausbildung wegen in den Westerwald gezogen war. Sie war oft alleine dort. Und so war er immer öfter die hundert Kilometer in den kleinen Ort unweit der A3 gefahren. Stundenlange Gespräche bis tief in die Nacht, in denen sie immer mehr Gemeinsamkeiten entdeckt hatten. Sie die Malerin, er der Schriftsteller. Er hatte sich wohlgefühlt in ihrer Wohnung, hatte viele Bücher in ihren Regalen gesehen, die er selbst gern gelesen und die CDs, die er gern gehört hatte. Aber dabei war es geblieben. Vielleicht, weil er noch zu beschäftigt gewesen war mit den anderen Frauen, in die er glaubte, verliebt zu sein; vielleicht, weil er Angst gehabt hatte, mit dem Wunsch nach Mehr etwas zu zerstören, das immer wichtiger für ihn geworden war.
Es muß Ende März gewesen sein, als sie dann abends in einem Restaurant und anschließend im Kino in der Spätvorstellung gewesen waren. Nach dem Film war sie noch mit zu seinem Auto gekommen, weil er ihr unbedingt die CD von Dave Brubeck vorspielen wollte. Um zehn nach eins! Und plötzlich hatte er nur noch einen Gedanken gehabt: Er wollte in diese Nacht nicht alleine bleiben. Ihr das zu sagen, hatte er aber nicht gewagt. Stattdessen die Standheizung eingeschaltet, ein Stück nach dem anderen angespielt, bis sie sich schließlich mit ihrer Müdigkeit entschuldigt und verabschiedet hatte. Kein Auge hatte er zu tun können. Und erstmals mit aller Deutlichkeit gespürt, daß da mehr war als er sich vorher hatte eingestehen können.
Jana saß jetzt neben ihm. In den letzten Tagen hatten sie viele E-Mails hin und hergeschickt. Das eigene Verhalten seziert, analysiert und dabei keine Lösungen gefunden, sondern alten Mißverständnissen neue hinzugefügt. Jetzt hatten sie den Kölner Ring Richtung Aachen verlassen und insgesamt noch keine zehn Sätze gesprochen. Vermeidung von Kommunikation ist manchmal auch die Vermeidung von Mißverständnissen, dachte er und daß es ihm dabei immer noch besser ging als bei so vielen gescheiterten Versuchen, Erklärungen abzugeben. Aus den Lautsprechern klang immer noch Johnny Cash, die Stimme von Krankheit und Alter gezeichnet, aber dabei so unendlich wahr, ehrlich und weise, daß ihm Schauer über den Rücken liefen. „We´re one but we´re not the same...“
„Das ist schön“, sagte sie. Er nickte. Sagte nichts. Das Glück ist ein scheues Reh.
Die Einreichung der Scheidung, die Manifestierung der Trennung und die Auflösung der Familie hatten ihn im Mai völlig unvorbereitet getroffen. Hätte seine Isolation bis dahin noch Moratorium mit offenem Ausgang gewesen sein können, so schienen sich die Dinge plötzlich mit einer Geschwindigkeit zu entwickeln, mit der er nicht Schritt halten konnte. Als er an einem Sonntagnachmittag im Mai die Kinder nach Hause gebracht hatte, reichten die fünf Kilometer bis zu seiner Wohnung, um alles über ihm einstürzen zu lassen. Alleine hätte er sich an diesem Abend nicht ertragen können. Jana war zwar erst die dritte auf der Liste; die er anrief, aber die einzige, die Zeit hatte – wenn auch erst später am Abend.
Eine Pizza hatte er ihr mitgebracht und wie sie da so gesessen hatten und aßen – sie hatte eine Kerze auf dem Tisch angezündet und eine Flasche Rotwein geöffnet – hatte er plötzlich zum ersten Mal seit langem das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.
„Du kannst die Nacht hier bleiben“, hatte sie gesagt, als er sich das zweite Mal Rotwein nachschenkte.
Es hatte noch ein paar Stunden gedauert, bis sie sich das erste Mal berührt hatten. Vielleicht hatten die Müdigkeit und der Einfluß des Rotweins erst groß genug sein müssen. Für sie war es völlig überraschend. Nie hatte sie ein Interesse seinerseits gespürt. Und er hatte irgendwann gedacht, wenn er sie jetzt nicht in den Arm nähme, hätte er sich das niemals verzeihen können. Es hatte dann auch nur dieser einen Berührung bedurft. Wie Ausgehungerte über ein reichgedecktes Büffet waren sie übereinander hergefallen, hatten all ihre Sehnsüchte gestillt und sich auch im Schlaf bis zum frühen Morgen nicht einen Moment voneinander lösen können. „Es ist, als hätten wir seit hundert Jahren nichts anderes gemacht“, hatte er ihr irgendwann zugeflüstert und sie hatte genickt.
Das war jetzt mehr als ein halbes Jahr her und es erschien ihm fast wie eine Geschichte aus einer anderen Zeit.
Dabei saß Jana jetzt neben ihm und studierte gerade das Cover der Johnny Cash-CD. „Mußt du mir mal brennen“, sagte sie. Er nickte. Aachen hatten sie gerade hinter sich gelassen.
Er konnte sich noch gut an den verwirrten Zustand erinnern, in dem er damals an jenem Montagmorgen ins Büro gefahren war. Für Gespräche war nach dem Aufstehen kaum Zeit gewesen. Eine flüchtige Verabschiedung, das war alles. Und ein bißchen Fremdheit.
Die Dinge auf sich zukommen lassen, nichts überstürzen, nichts übereilen. Das war, was sie dann abends am Telefon besprochen hatten. Aber es hatte keine zwei Tage gedauert, bis er gemerkt hatte, daß das für ihn nicht so einfach war. Daß die Sehnsucht nach ihr plötzlich größer geworden war, als er vorher geahnt hätte. Und daß er zum ersten Mal seit langem das Gefühl hatte, sich wirklich für etwas entschieden zu haben.
Über das darauffolgende Feiertagswochenende war sie mit Freunden nach Dresden gefahren. Hatte sich Mittwoch spontan dazu entschlossen. Vielleicht, um sich vor dem Verlieben zu schützen. Das ganze Wochenende hatte er nur auf Anrufe von ihr gewartet. Ihr idiotische Textnachrichten per Handy geschickt. Und dabei den Prolog für ein monatelanges Drama geschaffen.
Die Nacht, in der er sich um halb eins ins Auto gesetzt hatte und zu ihr gefahren war, weil er geglaubt hatte, sie wolle nicht mehr mit ihm reden – dabei waren nur der Blitz ins Telefonnetz geschlagen und ihre Handykarte abtelefoniert. Dann die Planung des Kurztripps in die Alpen – von ihr wegen der Prüfungen ein paar Tage zuvor per SMS abgesagt. Seine wütenden Anrufe daraufhin. Die Leichtigkeit, mit der alles begonnen hatte, war innerhalb weniger Tage in einem Sumpf aus enttäuschten Hoffnungen, Erwartungen und Mißverständnissen versunken.
Er hatte nach Erklärungen gesucht. Vielleicht hatte es ja immer so für sie begonnen, hatte er gedacht. Mit Leichtigkeit und Leidenschaft. Und vielleicht hatte sie dem nicht mehr trauen können, weil es dann immer ganz anders geendet hatte. Und eine Mauer um sich herum gebaut, die er eben nur ein einziges Mal hatte durchbrechen können. Um danach wochenlang dagegen anzurennen.
Aber jetzt saß Jana neben ihm und sie fuhren an Genk vorbei. Viel zu spät zum Umdrehen.
„Wie weit ist es noch?“ fragte sie. Er drückte die Info-Taste an seinem Navigationsgerät.
„Knapp hundertfünfzig Kilometer,“ antwortete er. „Warst Du schon mal in Holland?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Morgen können wir Schwimmen gehen,“ sagte er. „Da gibt´s ein Erlebnisbad mit Wellness-Bereich.“
„Hmm...“, machte sie.
Schwimmen waren sie zuletzt Mitte Juli gewesen. Die Theaterkarten für den Abend zuvor hatte er im Internet bestellt. Zehn Tage im Voraus, zehn Tage Vorfreude, zehn Tage Erwartungen – ein geplanter Versuch der Versöhnung. „Ist das heute?“ hatte sie ihn dann am Samstagmorgen in einer dieser Textnachrichten gefragt, die mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten. Das Ende des idiotischen Antwort- und Rückantwort-Spiels war, daß er die Karten an der Abendkasse verkauft und sie das Telefon nicht mehr abgehoben hatte. Also war er wieder hingefahren, wieder mitten in der Nacht.
Einen mühevollen Versuch der Einigung hatte es gegeben. Draußen auf den Stufen vor ihrer Wohnung. Bis halb drei nachts. Hineingelassen hatte sie ihn nicht. Aber sich für den nächsten Tag mit ihm zum Schwimmen verabredet und so war er mit einem hoffnungsvollen Gefühl nach Hause gefahren; hatte sie vorher sogar noch in den Arm genommen und geküsst.
Am Sonntag hatte er sie dann abgeholt. Sie waren an die Lahn gefahren, hatten sich einen sonnigen, einsam gelegenen Liegeplatz ausgesucht und er hatte ihr zwei Kapitel aus dem Buch vorgelesen, das er ihr geschenkt hatte. Allem Anschein nach ein perfekter Tag, das erste Mal nach langer Zeit. Und doch er erinnerte sich vor allem an dieses Gefühl, das über den Nachmittag immer stärker geworden war. Zwar hatten sie wieder festgestellt, daß sie die Welt mit gleichen Augen sahen, wie früher über die gleichen Dinge lachen und sich über die selben Zustände ärgern konnten – doch sie hatte ihn nichts spüren lassen. Es war so, als ob nichts ihm gegolten hatte, sondern nur dem, wie und was er sagte oder tat. Und so hatte er vorgelesen, geredet und geredet, während die Sonne gnadenlos auf ihn herabgebrannt, sein Mund immer trockener und das mitgebrachte Mineralwasser immer wärmer geworden war.
Auf der Rückfahrt hatte er dann nichts mehr gesagt, sein Akku war vollständig leergesaugt. Er hatte noch eine CD aus ihrer Wohnung geholt, während sie draußen auf dem Treppenvorspung wartete. Als er aus der Wohnungstür trat, hatte sie am Treppengeländer gestanden und hinunter in den Hof geschaut. Es hatte ein paar Sekunden gegeben, in denen niemand sprach, bis er dann „Tschüß“ gesagt hatte, aber nicht zu ihr gegangen war, sie nicht in den Arm genommen hatte, woraufhin sie ebenfalls „Tschüß“ gesagt, ihr unergründliches Lächeln gelächelt, wieder in den Hof hinuntergeblickt und ihn ohne ein Zeichen der Annäherung die Treppe hinuntergehen und ins Auto hatte einsteigen lassen. Als er im Wagen gesessen und durch die Windschutzscheibe nach oben gesehen hatte, da hatte sie immer noch dagestanden und heruntergeblickt – irgendwohin. Völlig fremd war sie ihm in diesem Moment erschienen und er wäre nicht im Stande gewesen zu sagen, was gerade in ihr vorgegangen war. Er war losgefahren, hatte gewendet und dann wieder in den Hof gesehen, aus dem sie inzwischen verschwunden war. Kaum auf der Autobahn hatte er sich nicht mehr zurückhalten können. Die ganze Anspannung eines anstrengenden Tages hatte sich entladen. Er hatte angefangen zu heulen und mußte auf einem Parkplatz anhalten, bis das Schlimmste vorüber gewesen war.
Aber jetzt saß Jana neben ihm, sie waren schon an Antwerpen vorbei und passierten die Hafenanlagen. Die Kräne auf der linken Seite der Autobahn bildeten einen bizarren Kontrast zu der Weidelandschaft mit den schwarz-weißen Kühen auf der rechten Seite. Aus den Lautsprechern war Robbie Williams zu hören. „Let me entertain you“ vom Konzert Anfang August 2003 in Knebworth. Wie ein Entertainer war er sich damals auch vorgekommen.
Anfang August hatten sie sich das letzte Mal gesehen. Wieder war ein Streit vorausgegangen, wieder war es um einen Urlaub gegangen, der nicht zustande gekommen war, wieder ausgetragen über E-Mail und SMS. Und wieder war er, diesmal an einem Montagnachmittag, einfach hingefahren. Wieder ließ sie ihn nicht in die Wohnung, kam nicht mal die Treppe herunter, sondern hatte die ganze Zeit nur am Fenster gestanden. Keine Annäherung, den Blick auf den Boden. Die Art, wie sie die Unterlippe vorschob, hatte ihn an seine Tochter erinnert. Irgendwann hatte sie angefangen zu weinen und er wußte nicht, warum. Nach zwanzig Minuten hatte er aufgegeben.
Ein paar Wochen hatten sie dann nichts mehr voneinander gehört. Sich zwar nochmal verabredet, doch immer hatte sie abgesagt. Die Absagen hatten ihn verletzt, es war wieder zu Vorwürfen gekommen, dann Funkstillen und schließlich zu neuen Anläufen, die stets so verliefen wie die vorherigen. Er hatte auch andere Frauen kennengelernt in dieser Zeit. Aber keine wie Jana.
Jana, die jetzt neben ihm saß. Middelburg war schon ausgeschildert. Keine halbe Stunde mehr. Und gerade mal früher Nachmittag. Der letzte im alten Jahr.
„Wieso warst du dir eigentlich sicher, daß ich mit dir nach Holland fahre?“ fragte sie plötzlich.
„Ich war mir nicht sicher, ob Du es tun würdest,“ antwortete er. „Aber es war die einzige Möglichkeit.“
„Die einzige Möglichkeit wofür?“
„Das Jahr zu retten.“
Sie lächelte. Immerhin.
„Was hältst du eigentlich von Robbie Williams?“ fragte er.
„Geht so.“
Er hätte ihr gerne gesagt, daß er jedesmal, wenn er „Feel“ gehört hatte, an sie hatte denken müssen. Weil er glaubte, daß sie zwar zu den Menschen gehörte, deren größte Sehnsucht es sei, sich zu verlieben, die aber immer dann wegliefen, wenn es tatsächlich drohte zu passieren – schlimmer noch: erwidert zu werden. Es gibt Momente, in denen man so etwas sagen kann. Aber dieser gehörte nicht dazu.
„Hast Du schon ein Zimmer vorbestellt?“, fragte sie plötzlich. Er schüttelte den Kopf.
„Mach dir keine Gedanken. Wir finden schon was.“
Silvester war ihm wie eine Horror-Vison erschienen. Das Weihnachtsfest mühsam überstanden, der Kinder zuliebe wenigstens an Heiligabend im Familienkreis, hatte er bis gestern nicht gewußt, wie er den Jahreswechsel gestalten sollte. Drei Einladungen hatte er ausgeschlagen. Hatte lieber dem Jahr geben wollen, was es verdient hatte.
Aber dann war ihm Silvestermorgens die Idee mit Holland gekommen. Natürlich hatte er an Jana gedacht an den Tagen vorher. Hatte ihr eigentlich einen Brief schreiben wollen. Am Jahresende. Als Resümee. Ihr nochmal versuchen wollen, zu erklären, warum die Dinge aus seiner Sicht so gelaufen waren, wie sie gelaufen waren. Interpretationen, Richtigstellungen, gespickt mit Zitaten aus Briefen, die er von ihr bekommen hatte. Er hatte den Brief schon fast abgeschickt gehabt, als ihm der Gedanke gekommen war, ihn vorher mal mit anderen Briefen zu vergleichen, die er ihr früher geschickt hatte. Um dann festzustellen, daß alles schon mal gesagt war, daß es nichts Neues gab. Absolut nichts. Sie hatten sich im Kreis gedreht. Seit Monaten.
Dann hatte er angerufen. Er habe nur eine Frage, hatte er gesagt. Ob sie Silvester mit ihm nach Holland fahre. Wußte nicht mal, ob sie andere Pläne hatte. Sie hatte einen Moment geschwiegen, überlegt, und dann zugesagt. Warum nicht, hatte sie geantwortet. Dann hatte er nur noch gesagt, daß er sie in zwei Stunden abhole und dann aufgelegt.
Jetzt hatten sie Domburg erreicht. Kurz hinter dem Ortseingang, an dem kleinen Platz, wo im Sommer die Touristen vor dem Fischgeschäft „Bassem“ Schlange stehen, bog er rechts ab. Er parkte das Auto am Ende der Badstraat auf dem Parkplatz des Hotel „Duinhuivel“ mit den beiden grün-blauen Telefonzellen, direkt hinter dem Deich. Im Sommer war hier alles belegt, aber jetzt war kaum eine Menschenseele zu sehen. Vom Rücksitz holte er seine Jacke und reichte ihr den Mantel.
„Lass uns erstmal an den Strand.“
Sie gingen den gepflasterten Weg in Richtung des Deiches. Schon als Kind hatte er immer auf diesen Moment gewartet, in dem der Blick über die Deichkrone ging und er zum ersten Mal das Meer sehen konnte. Alleine für diesen Blick hatte sich die Fahrt jedesmal gelohnt. Jetzt war es drei Uhr nachmittags und die Flut auf ihrem höchsten Stand. Ein heftiger Wind zerrte an ihnen, kaum daß sie die Krone erreicht hatten. Graublau und unendlich weit lag das Meer vor ihnen, schaumig spritzte die Gischt und von den ins Wasser ragenden Buhnenreihen war kaum noch etwas zu sehen. Nach rechts konnte man kilometerweit bis über Oostkapelle hinausschauen, sogar in der Ferne die Deltawerke erkennen. Am Horizont waren drei Frachtschiffe zu sehen, die den Hafen von Vlissingen anliefen.
Sie standen eine Weile da und schauten nur. Wieso kann man stundenlang auf die Wellen schauen, ohne daß einem langweilig wird, fragte er sich. Seine Ungeduld hatte ihn oft selber gestört. Aber hier hatte er in dem Moment, in dem er die Deichkrone betrat, jedesmal das Gefühl, alles sei wie weggeblasen.
„Lass uns runtergehen“, schlug sie vor. Sie gingen über die steile Eisentreppe, vorbei an der Aussichtsterrasse des Cafes hinunter zum Strand. Auf der Treppe nahm sie seine Hand, und hielt sie auch noch fest, als sie den Sand erreicht hatten.
„Los komm“, rief sie, beschleunigte ihre Schritte und zog ihn im Laufschritt Richtung Meer. Kurz vor der Wasserlinie blieben sie nebeneinander stehen, immer noch mit den Händen aneinander gefasst und beobachteten, wie das schaumige Wasser immer wieder in Richtung ihrer Füße züngelte.
„Hier gefällt´s mir“, sagte sie. „War eine gute Idee, daß wir hergefahren sind.“
Dann zog sie ihn zu sich heran, so daß sie sich beide gegenüber standen, das Meer zur einen, den Strand zur anderen Seite. Und zum ersten Mal an diesem Tag blickte sie ihm in die Augen.
„Du willst doch bestimmt über irgendwas reden,“ sagte sie.
„Das hat Zeit,“ antwortete er.
Zum ersten Mal.
 

katia

Mitglied
tiefgründig

sehr tiefgründig in ihrer einfachheit ist diese geschichte, gut geschrieben. so "beziehungsdinger" mag ich eigentlich nicht - deshalb hat es mich um so mehr verwundert, dass ich daran hängen geblieben bin. habe entsprechend bewertet. kompliment!

lg
katia
 

Tapir

Mitglied
Hallo Katia,

freut mich, daß Dir die Geschichte gefallen hat. Normalerweise bin ich ja eher unter Humor/Satire zu finden und dieses Genre ist ein bißchen Neuland für mich. Da freut einen ein solches Lob natürlich umso mehr. Vielen Dank dafür!

Tapir
 



 
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