Sinnestäuschung

Breimann

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Sinnestäuschung
Es krachte und rummste, dann splitterte und klirrte es heftig; Scherben schlitterten über Steinböden. Der Lärm hörte abrupt auf; Totenstille erfüllte die breite Straße. Karl nahm den Kopf von den Knien – gerade so hoch, dass er quer über die Straße blicken konnte. Er blinzelte mit den verklebten Augen, aber es half nicht viel; also nahm er den rechten Ellbogen zur Hilfe und wischte über Stirn und Augen.
Er saß im Halbdunkeln; die nächste Straßenlampe war etliche Meter weit weg, warf gelbliches Licht auf Bürgersteig und Fahrbahn. Die krustige Mauer in seinem Rücken gehörte zum U-Bahnschacht, endete am Kaufhofeck und bot ihm in den Sommernächten Schutz vor den Blicken der schwarzen Sheriffs. Er fürchtete ihre Launen und ihre harten Stiefel mehr als die scharfen Rüffel der Polizisten.
Die Straße lag gähnend leer; kein Autofahrer war auf der Jagd nach weiblicher Beute; kein Fußgänger bummelte ziellos, auf der Suche nach Bars, die längst geschlossen hatten. Im Osten war der Himmel schon bleigrau.
Eine leere Coladose drehte sich leise, vom sanften Nachtwind getrieben, torkelte ziellos über den Asphalt. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, parkte ein schwarzer, total verdreckter Jeep. Die hell erleuchteten Fenster des Juwelierladens wurden teilweise von dem hochrädrigen Wagen verdeckt.
Karl versuchte mühsam die Quelle des Krachs zu entdecken. Er schaute angestrengt von links nach rechts. Sein Kopf dröhnte und in seinen Ohren spielte eine Violine hässliche Töne. Aber da war nichts, keine Bewegung war zu entdecken.
Er seufzte ergeben. Vielleicht war es wieder nur ein Traum gewesen. In der letzten Zeit waren ihm immer wieder Dinge passiert, die er nicht erklären konnte. Erst vor zwei Nächten hatte er ein brüllendes Flammenmeer über den Hausdächern gesehen, war schreiend in die U-Bahn gestürzt. Später, viel später erst, hatte er begriffen, dass es die frühe Morgensonne war, die ihr rötliches Licht durch den Dunstschleier der Stadt drückte. Und seit diesem Morgen hatte er Angst; eine würgende Panik überfiel ihn, wenn eine Sirene aufheulte, wenn ein von einem Autofenster erzeugter Lichtblitz ihn traf.
Irgendwie wusste er, dass es am Alkohol liegen musste, den er im Sommer reichlicher bekam als in den harten Wintermonaten. Die Touristen warfen ihm Münzen und Scheine in den speckig glänzenden Hut, fotografierten ihn, wenn er das Geld gierig aus dem Hut klaubte und in seine Rocktasche steckte. Heute erst hatte eine dicke Amerikanerin ihr kleines Töchterchen dicht neben ihn gestellt, hatte deren weiße, kleine Hand - die sich heftig verkrampfte - auf seine Schulter gelegt und dann mehrere Fotos von ihnen gemacht. Ihm war´s egal gewesen; den Schein hatte er am Abend im Aldi gegen Rotwein getauscht.
Jetzt bewegte sich etwas; hinter dem Jeep ruckten Köpfe und Schultern. Zwei männliche Schatten bewegten sich vorsichtig, sichernd, offensichtlich fluchtbereit.
„Haben was vor, die Jungs“, dachte er und prüfte, ob der Schatten der Mauer ihn genügend verdeckte.
Durch das Jeepfenster konnte er das Glas des Schaufensters mit dem zackig geformten Loch sehen. Dann wuchteten sich zwei breite Schatten vor dem erleuchteten Fenster hoch, bewegten sich hektisch, hasteten, duckten sich, warfen Gegenstände in den Jeep, tauchten wieder hoch und verharrten dann stocksteif.
Die Coladose hatte vom Wind einen kräftigen Schubs bekommen, schepperte langanhaltend, rollte vor Karls Füße; an der Bordsteinkante machte sie zwangsweise Halt. Karl hielt den Atem an, drückte sich tiefer in den Schatten.
Über der Ladefläche des Jeeps blitzte eine starke Taschenlampe auf, warf weißes Licht herüber. Der suchende Strahl traf zuerst die Coladose, dann Karls Füße, wanderte hoch, glitt sehr schnell über seinen Körper und heftete sich an seinem Gesicht fest. Er sah nichts mehr, nur weiße und rötliche Kringel waberten. Das grelle Licht hielt ihn fest, machte ihn unbeweglich.
Der unsichtbare Beobachter sah in ein rotweiß-fleckiges, schorfiges Gesicht mit einem offenstehenden, fast zahnlosen Mund. Wirre, weißgraue Haare quollen unter der Hutkrempe hervor, bedeckten die flache Stirn. Das Weiß der starr glotzenden Augen leuchtete im Lampenlicht, machte das Gespenstergesicht vollständig. Karl saß unbeweglich, wie eingefroren.
Dann hörte er aus der Richtung Marienplatz das Signalhorn eines Polizeiwagens. Im selben Augenblick erlosch die Taschenlampe.
Es war schlagartig stockdunkel auf der Straße, und er glaubte, die gesamte Beleuchtung der Stadt sei ausgefallen. Aber dann kam langsam das Sehvermögen zurück; zur gleichen Zeit heulte der Jeepmotor auf, Reifen schrieen, quietschten gellend und ein schlecht eingelegter Gang ließ ein kreischendes, anklagendes Geräusch hören.
Langsam wurde Karl bewusst, dass er nicht geträumt hatte, dass ihn diesmal keine Hirngespinste narrten – er war Zeuge eins Einbruch gewesen. Langsam rutschte er auf die Knie, griff sich den dicken Pappkarton, der im Sommer seine Matratze war, packte mit der anderen Hand das schwere Bündel, in dem Glas klirrend aneinander stieß, und stand schwankend auf.
Er musste weg! Die Polizei würde ihn entdecken, verhören, verdächtigen, einsperren – und das im Sommer, wenn´s soviel zu Trinken gab.
Und dann fiel ihm die forschende Taschenlampe ein! Sie hatten ihn bestimmt genau gesehen; sie hatten sich sein Gesicht gemerkt; sie würden denken, die Polizei hätte einen Zeugen, der sie beschreiben könnte.
Mit unsicheren, tapsenden Schritten bewegte er sich auf die U-Bahntreppe zu. Das Heulen des Signalhorns war schon sehr nahe; also beschleunigte er mühsam seine Schritte, drehte sich um die Mauer, duckte sich, stolperte die Stufen herunter. Am ersten Absatz rutschte er aus, fiel seitlich gegen das Geländer, prellte sich die Hüfte; er stöhnte unterdrückt. Unten im Gang drückte er sich flach an die Wand und linste um die Ecke; niemand war in dem schwach erleuchteten U-Bahnflur zu sehen. Also schlich er noch einige Meter weiter, ängstlich an die Wand gedrückt.
Er legte seine Pappe dicht an die Wand, sein Bündel direkt daneben. Mühsam setzte er sich, stöhnte auf, als er sich an der verletzten Hüfte stieß. Völlig geschafft, legte er den Kopf auf die Knie und schloss die Augen. Es war stickig und warm hier unten, das Atmen fiel schwer. Das Signalhorn heulte jetzt direkt über ihm und erstarb plötzlich mit einem gequälten Seufzer. Dann war dröhnende Stille; er wartete auf polternde Polizistenschuhe.
Er wartete lange; der Nebel in seinem Kopf wallte hoch, waberte, schaukelte ihn in einen traumlosen Schlaf.
„He! Penner! Aufwachen!“
Ein unsanfter Tritt traf ihn in der Seite, die vom Sturz schmerzte. Er schrie auf, schoss hoch und fiel zurück an die Wand. Zwei Polizisten standen dicht vor ihm, beobachteten mit ernsten Gesichtern seine tapsigen Bemühungen.
„Wie lange biste schon hier?“
„Weiß nicht. – Bin irgendwann eingeschlafen. Warum habt ihr mich getreten?“
„Keiner hat dich getreten, Penner! Du hast schlecht geträumt, Alter!“
Karl brummte Widerspruch und schaffte es endlich sich aufrecht an die Wand zu lehnen; trotzdem schwankte er leicht, die Gesichter vor ihm waren von Nebelschwaden bedeckt.
„Haste was gehört oder gesehen?“
Karl schüttelte unwillig den Kopf, verdrehte dabei die Augen zur Decke.
„Ach komm! Lass den besoffenen Penner in Ruhe. Der sieht ja noch nicht einmal uns richtig“, sagte der zweite Polizist und zog seinen Kollegen am Ärmel.
„Mach, dass du hier weg kommst! Verzieh dich! Du weißt, dass du hier unten nicht schlafen darfst. Leg dich draußen in den Englischen Garten. Da sind genug von deiner Sorte“, stieß der erste Polizist rau heraus und dann gingen sie weg.

Er saß auf dem warmen Gras, dicht unter dem Monopteros, und beobachtet die Spaziergänger. Der Kopf schmerzte unerträglich; aber die Angst, die seinen Hals zudrückte war schlimmer. Er war überzeugt, dass sie ihn suchten, dass sie ihn beseitigen mussten, dass sie deshalb die Stadt abgrasten.
Erfahrene Verbrecher, da war er sicher, kannten die Plätze, wo sie Typen wie ihn finden konnten; sie wussten genau, wie er aussah – und er kannte seine Verfolger nicht, kannte nur ihre Schatten. Sie würden ihn jagen, ihn zusammenschlagen, in der Isar ertränken. Er hatte keine Chance, keine Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Ohne Wohnung, ohne feste Unterkunft, blieb ihm nur die offene Bühne der Stadt, auf der ihn alle beobachten und erkennen konnten.
Er kratzte seine zerstörten Beine und wurde starr; er spürte, dass er beobachtet wurde. Eisige Kälte strich ihm über den Rücken. Sehr langsam drehte er den Kopf und schielte nach hinten.
„Ein Mädchen!“, dachte er erleichtert und sah in die schläfrigen Augen einer jungen Frau, die - mit hochgeschobenem Rock - ausgestreckt im Gras lag.
Von der linken Seite kamen zwei Männer auf ihn zu, schlenderten betont langsam, blickten den wenigen Sitzenden ins Gesicht.
„Das sind sie! Verdammt, sie haben mich schon! Scheiße! Scheiße!“
Er sprang auf, torkelte und saß schon wieder. Dann waren sie da, gingen dicht vor ihm durchs Gras, sahen nur kurz, abfällig grinsend, in sein Gesicht. Sie trugen Maßanzüge, Lackschuhe und diskutierten über etwas, was er nicht verstand.
Er stand auf, nahm seine Sachen und trottete eilig über die Wiese. Erst in der belebten Straße wurde er ruhiger.
„Sollen sie doch den Englischen Garten absuchen! Ha! Ich wird´s ihnen schon zeigen!“
Er stakste in Richtung Viktualienmarkt und sah sich alle paar Meter um. Nichts! Oder doch? Was wollten die Männer da hinter ihm, kaum fünf Meter entfernt? Warum gingen sie so langsam? Er bog ab, querte die Fahrbahn, schlich an den Hauswänden entlang.
„Warum laufen die hinter mir her?“
Die zwei junge Burschen mit schwarzen T-Shirts folgten ihm, wollten ihn nicht überholen. In seinem Hals pulsierte das Blut, seine schmutzigen Hände krampften sich um das schwere Bündel. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, brannte in den entzündeten Augen.
„Das sind sie! Mist! Sie haben mich! Das sind sie! Genau das waren die Figuren, die ich gesehen habe.“
Die schmerzenden Beine wollten nicht mehr; er ging langsamer. Es hatte keinen Zweck; sie waren jung und viel schneller als er. Er lehnte sich an die Wand der Pfälzer Weinstube und schloss die Augen. Nichts geschah. Er machte die Augen langsam auf. Frauen und Männer hasteten an ihm vorbei, hatten keinen Blick für den wackeligen Alten, der so gar nicht in das fröhliche Sommerbild der Weltstadt passte.
Karl atmete auf und ging langsam weiter. In Einfahrten blieb er stehen, linste um die Ecke, beobachtete misstrauisch die Passanten.
Endlich war er am Viktualienmarkt; hier kannte er jeden Winkel. Er schlich hinter den Ständen, Buden und Häuschen hin und her, saugte die typischen Marktdüfte in sich hinein. Hier war er alleine und sicher. Leergut und Abfälle stapelten sich an den Rückwänden; halbfaule Bananen, Äpfel und Kartoffeln schichteten sich in Kartons. Er sammelte alles auf, was noch brauchbar erschien, stopfte es in seinen riesigen Beutel.
Er wusste nicht warum er das machte; noch nie hatte er Vorräte angelegt, hatte immer „frische Ware“ für den Tag gesucht. Ein Geräusch störte ihn, ließ den Schweiß sofort wieder fließen. Er verharrte, sah sich um – auf alles gefasst. Leichter Nebel senkte sich über seine Augen. Dann explodierte vor ihm die Tür an der Bude mit den frisch geschossenen Kaninchen, spuckte zwei Männer aus, die mit geschwungenen Knüppeln auf ihn zustürmten.
Er fiel auf den Rücken, schrie gellend um Hilfe, ruderte mit Armen und Beinen; er lag da wie ein hilfloser Maikäfer. Er fühlte Schläge auf dem Kopf und auf dem ganzen Körper. Er schrie immer weiter, bis er das Lachen entdeckte.
Vorsichtig öffnete er die Augen. Zwei kleine, schmächtige Jungen in kurzen Sporthosen standen vor ihm, stützten sich auf ihre Tennisschläger und lachten; sie mussten sich die Rippen halten, weil ihnen vom Lachen das Zwergfell schmerzte.
Sie hatten ihn nicht berührt! Sie hatten ihn nicht einmal erschrecken wollen! Sie waren nur in jungenhafter Unbekümmertheit aus der Bude gestürzt. Das begriff er ganz plötzlich. Langsam rappelte er sich auf, ergriff sein Bündel und schleppte sich weg.
„Gespenster! Ich sehe Gespenster! Verflucht, wie soll das enden?“
Er bog ab in eine unbelebte Seitenstraße und setzte sich auf den Bordstein. Er musste in Ruhe nachdenken. Er brauchte Zeit. Er versuchte mühsam einen Anfang zu finden. Es war schwer, unendlich schwer. Er hatte ewig nicht mehr nachgedacht, keine Pläne gemacht; er hatte wie Treibgut gelebt, ohne Kraft und Ziel. An allen Tagen hatte er nur das getan, was ein Bettler tun muss um zu überleben. Er hatte gebettelt, gesammelt, im Abfall gewühlt, billigen Fusel gekauft oder gestohlen, einen sicheren, trockenen Schlafplatz gesucht und getrunken bis zur Bewusstlosigkeit. Mehr war nie gewesen.
Aber jetzt war da etwas, was er nicht benennen konnte. Angst? Angst hatte er schon immer gehabt. Angst vor Prügel, Diebstahl, Polizisten, Gefängnis, Sheriffs und Fußtritte; Angst vor der eisigen Winterkälte und vor den nassen Nächten unter den Brücken. Ja, er hatte Angst, tierische Angst vor den Verfolgern. Das hier war eine andere Angst! Lebensangst!
„Das macht nur dieser verfluchte Alkohol!“, dachte er entschuldigend.
Er legte den Kopf auf die Knie, faltete die Hände im Nacken und schloss die Augen. Lange blieb er so, suchte seine Gedanken zu ordnen – und fand den Anfang nicht. Dann hörte er Schritte, leichte Schritte, klappernde Absätze. Er hob langsam den Kopf und sah den Füßen entgegen. Sie waren schlank, braun und gehörten zu einer hübschen jungen Frau. Ihr schlanker Körper wiegte sich beim Gehen und ihre Brust wippte rhythmisch.
Die Frau ging hastig vorbei, ein Stück von ihm weg. Ihre Augen! Er sah den Ekel, den Widerwillen, fühlte ihren Abscheu und auch ihr Misstrauen – es traf ihn schmerzhaft intensiv. Er starrte die elegante Frau an, wollte sie hochmütig, grinsend, mindestens aber gleichmütig ansehen, es gelang nicht; er musste den Blick senken. Die Frau runzelte die Stirn, ging schnell weiter, drehte sich nicht einmal um.
Karl besah seine zitternden Handrücken, auf denen die wettergegerbte Haut mit schwarzen Dreckstriemen bedeckt war. Er brauchte nicht viel Fantasie, um die gleiche Farbe seinem Gesicht zuzuordnen. Er roch seine Haut, den Schmutz seiner Kleidung. Die nässeschimmeligen Schuhe waren an den Seiten aufgebrochen, zeigten gähnend ihre Zähne.
Er fuhr sich mit der Rechten durch die Haare, kam nicht durch den Filz.
„Wann hab ich das zum letzten Mal probiert?“. dachte er. Und dann kam der Gedanke von ganz alleine.
„Sie suchen einen vergammelten Penner! Sie suchen ihn hier, in München! Ich muss alles umkrempeln. Ich muss mit dem Saufen aufhören. Ich muss weg von hier! Dann hab ich eine Chance; dann finden sie mich nicht!“
Wie er das machen wollte, wie er die Kraft, den richtigen Weg finden würde, das wusste er alles nicht. Aber er wusste, dass er es tun musste. Langsam fasste er den Entschluss für den nächsten wichtigen Schritt. Aus seiner ausgebeutelten Rocktasche zog er das gesammelte Klimpergeld. Ein Geldstück neben dem anderen legte er vor sich auf den Bordstein. Dann zählte er sehr bedächtig. Er staunte, als er die Endsumme kannte.
„Dreiunddreißig Märker! Donnerwetter!“
Er sammelte das Geld wieder ein, stand mühsam auf, schlurfte los, suchte und fand endlich das Haus mit dem großen Silberteller an der Kette. Er ließ sich für fünfundzwanzig Mark die Haare schneiden und für fünf Mark rasieren. Das angeekelte Stieren des Friseurs nahm er reglos in Kauf.
Ein völlig neues Gesicht sah ihn aus dem Spiegel an; die Haut war immer noch schorfig, fleckig, aber die ordentlich geschnittenen Haare, die glatt rasierte Haut, machten einen anderen Menschen aus ihm.
„Ob die mich noch erkennen können?“, dachte er und spürte wieder diese beklemmende Angst.
Dann fasste er den nächsten Entschluss. Er ging zum Kaufhof, steckte ein Markstück in den Schlitz eines Einkaufswagens und legte sein schweres Bündel hinein. Dann schob er los. Ständig sah er sich um, suchte Verfolger, prüfte jedes männliche Gesicht, blieb immer wieder vor Schaufenster stehen, um in der Spiegelung die hastenden Leute abzuprüfen.
Er kam nur langsam vorwärts; wenn seine Beine zu sehr schmerzten, stützte er sich auf dem Griff des Einkaufswagens ab, machte lange Pausen. Es war schon dunkel, als er endlich den Stadtrand erreichte. Er ging nach Süden, mehr war ihm im Moment nicht bewusst. Da hinten, irgendwo, wo man ihn nicht finden würde, da würde er ein neues Leben anfangen.
An einem Waldstück blieb er stehen, kramte in seinem riesigen Bündel und zog die beiden Weinflaschen heraus. Eine war halb voll die andere noch nicht angebrochen. Er sah sie stirnrunzelnd an, roch am Korken der geöffneten Flasche, zog ihn mit den Zähnen heraus und roch noch einmal. Dann warf er sie in weitem Bogen ins Gehölz. Die volle Flasche folgte, flog surrend und verschwand wie die erste Flasche im Gras zwischen den Büschen.
Er lachte laut und anhaltend; der Wagen lief viel schneller; die Beine schmerzten nicht mehr. Weit voraus standen Sterne am schwarzen Himmel.

Im Zimmer des Untersuchungsrichters saßen zwei junge Burschen, dunkelhaarig, breitschultrig, mit dümmlich starrenden Gesichtern.
„Was für ein Glück, dass ihr Burschen die Schlauheit mit dem Schöpflöffel gefressen habt. Das war die schnellste Festnahme nach einem Einbruch“, lachte der Kriminalbeamte und übergab die Unterlagenmappe an den Untersuchungsrichter.
„Genau zehn Minuten hatten sie ihre Beute für sich. Sie sind mit hundert Stundenkilometer hinter dem Bahnhof durch die Radarfalle gefahren. Als wir sie stoppten, hoben sie die Hände bis zum Himmel; wir waren über unseren Blitzfang selber überrascht. Sie haben alles gestanden, haben geredet wie ein Wasserfall - und sie haben von einem Zeugen gesprochen, der sie beobachtet hat. Angeblich soll das ein Penner gewesen sein. Wir suchen ihn noch.“
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
boh eh!

prima geschichte. besonders der schluß. ich hoffe, die polizei hörte bald auf mit suchen, sie hatten ja schon das geständnis. mach mal so weiter! lg
 

Breimann

Mitglied
Erlebnisse

Also,
liebe flammarion, ich habe in München, am Stachus, meinen! Penner gesehen. Er scheint von seinem - vergeblichen - Ausbruchsversuch zurück zu sein.
Im Ernst: Es gibt genau diese Typen in einer Vielzahl und bei jedem dieser Penner habe ich etwas Liebenswertes entdeckt. Und ich habe mit einigen gesprochen und mit ihnen gelacht. So entsteht Stoff für eine neue Geschichte.
Liebe Grüße
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also,

wenn ick nochmal geboren werde, dann nur als mann. ich fand hin und wieder auch mal einen penner sympathisch, hab aber nie gewagt, ihn anzusprechen. ganz lieb grüßt
 

Breimann

Mitglied
Ist "Mann" sein erstrebenswert?

Ich glaube, liebe Flammarion,
das wäre ein diskussionwürdiges Thema. Aber Mut, der wohl dazu gehört, einen fremden Menschen anzusprechen, den haben Frauen manchmal mehr als Männer - und mehr Feingefühl im Umgang mit solchen Menschen noch dazu.
Ich schreibe gerne - und viel - über Menschen "zweiter Klasse", wie sie mal ein Kritiker genannt hat. Vielleicht bin ich manchen dieser Typen ähnlicher als andre Leute - und ich selber - glauben.
Liebe Grüße
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

über das thema mann oder frau habe ich schon mit meinen brüdern endlose diskussionen geführt. mein großer bruder hätte auf der stelle mit mir getauscht. ich bin von unserer tante erzogen worden, und so, wie sie das tat, war ich fest überzeugt, daß mir sehr vieles erspart geblieben wäre, wenn ich ein junge gewesen wäre. ganz lieb grüßt
 

Breimann

Mitglied
Ohne Unterschied

Liebe flammarion,
gibt es einen "relevanten" Unterschied zwischen Mann und Frau, wenn wir mal vom Sex absehen wollen?
Da wird so viel durch die Eltern und Brüder, oder Schwestern, aber auch durch das ganze soziale Umfeld hineingedrückt. Bei anderen (Naturvölkern) sieht das ganz anders aus.
Liebe Sonntagsgrüße
eduard
 



 
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