Smartie, das Drachenpferd

Homosapiens

Mitglied
Es begann vor kurzem mit einem Geschenk.
Liebevolle Geschenke sind meist eine Überraschung, und so kam auch meines daher: ein unscheinbares Papp-Kistchen mit gewichtigem Inhalt. Nein, kein Schmuckstück, es war viel mehr und zunächst für mich auch viel überwältigender, fast verstörend.

Der geheimnisvolle Inhalt war eine Mitgliedschaft, die Option auf Zugehörigkeit zu einem geheimen Bund, dessen Mitglieder auf der Insel der Glückseligen zu Hause sind. Sie besitzen unbegrenztes Wissen über die Welt und auch übereinander, gelbe, lächelnde Gesichter, sogenannte Smilies. Gelb kommt nicht von ungefähr. Das neue Mitglied bekommt ein Drachenpferd überreicht, das einem edlen, chinesischen Geschlecht entstammt, den sogenannten Smartphones.
Ich nannte meinen künftigen Gefährten passender Weise also "Smartie" und erlebte, voller Ungeduld und Vorfreude auf meinen ersten Ritt durch die Lüfte, gleich die nächste Überraschung.

Gemäß ihrer Herkunft befolgen diese wundersamen, fliegenden Pferde, die keine Hindernisse kennen,
weder Hürden der Zeit noch des Raumes, ausschließlich Kommandos auf Fachchinesisch. Und diese Sprache spreche ich leider nicht.
Also blieb ich am Boden sitzen, der Schwerkraft und den natürlichen Abläufen eines Samstagvormittags verhaftet, und wußte nicht, was tun. Nun lassen sich Sprachen allerdings lernen, und da mir mit Smartie die Zugehörigkeit zu den Drachenreitern angetragen war, war ich in gewisser Weise auch verpflichtet. Der Sinn ist ständige Verbundenheit, beliebige Griffe in freischwebende Informationen, nie wieder allein zu sein.

Allerdings fühlte ich mich sehr allein, als Smartie das erste Mal nach mir rief. Das Pferd hat eine große Vielfalt an Ruftönen, es kann klingen wie Glocken, Musik, scharfe Pfiffe, wie man sie vom Herrn eines Hundes erwarten würde, mal klingt Smarties Stimme wie Pauken und Trompeten, mal flüstert sie wie ein Windhauch. Nur das Wiehern kam seltsamerweise nicht vor. Smartie wollte los mit mir, in die Welt, in das große Netz, das alles zusammenhält, alle diejenigen, die zu den Auserwählten, den Wissenden gehören. "Mach mal", gab ich probehalber zur Antwort, "auf zu meiner Tochter, guten Tag sagen!" Aber Smartie schwieg, stumm und reglos, fast wie ein toter Gegenstand. Ich begann, mein Drachenpferd zögernd zu betasten, versuchte, es zum Leben zu erwecken. Ab und zu blitzte eine Reaktion auf, mehr zufällig hatte ich wohl einen Nerv erwischt, da sah ich dann bunte Bilder von meinen Angehörigen, las freundliche Einladungen und erhielt allerlei Verlockungen aus jener Welt, wo man sich nie langweilt, nie müde und vor allem nie allein ist.

Auch eine Fremdsprache beginnt mit einem Wort. Meines hieß "Whatsapp". Ich wiederholte es, übte es ein. Und zu meiner Freude gehorchte Smartie meinem Wort! Ich mag wohl noch zu Teilen in meiner Stube gesessen haben, aber ich plauderte, was auf Chinesisch "Chatten" heißt, bunte Bildchen flogen hin und her und - oh, Wunder - es waren meine Lieben!
Von diesem meinem ersten Ritt auf einem Drachenpferd kehrte ich völlig erschöpft zurück, mir brausten die Ohren, ich hatte Sternchen vor den Augen. Aber ich hatte auch Feuer gefangen, Drachenfeuer sozusagen. Smartie hatte sich unauffällig abgelegt, er hätte wieder wie zu Beginn in die kleine Schachtel gepaßt. Aber dennoch war da sein Versprechen: ich kann viel mehr. Im Grunde kann ich fast unendlich viel. Du wirst auf meine Dienste nie mehr verzichten wollen. Mit ähnlichen Worten war ich doch kurz zuvor beschenkt worden, mit meinem Drachenpferd und der Aussicht auf Unendlichkeit, Unbegrenztheit, überall verbunden?

So scheint es tatsächlich zu sein. Sie lag heute im Krankenhaus, kilometerweit entfernt von mir. Gern hätte ich mich neben ihr Bett gehockt, sie getröstet und ihr die Zeit mit einer Geschichte vertrieben.
Plötzlich ein sanfter Ton von Smartie: "Dafür bin ich doch da!" Sie und ich, wir gehören beide zu den Auserwählten, besitzen jeder so ein Drachenpferd. Flugs sattelte ich Smartie, fand das passende chinesische Kommando-Wort, und das Unglaubliche geschah: ich fand mich augenblicklich im Krankenhaus neben ihrem Bett. Wir plauderten ein wenig, lachten sogar, und ich begann, zum Zeitvertreib eine Geschichte zu erzählen. Besser als jedes Schlafmittel ist immer noch eine Gute-Nacht-Geschichte.

Ja, in der Tat, ich möchte schon jetzt nicht mehr auf Smartie verzichten. Daß ich nun zu den Auserwählten, der Gemeinde der Glückseligen gehöre, verpflichtet natürlich auch. Reiten kann man lernen, auch auf einem Drachenpferd. In ein paar Monaten werde ich vermutlich nichts anderes mehr tun wollen, so wie alle anderen von der Insel der Glückseligen.
 



 
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