Sonett mit vorgehaltenem Spiegel

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Walther

Mitglied
Sonett mit vorgehaltenem Spiegel


Ich rate mir, mich nicht im Spiegel zu betrachten:
Dort könnt ich sehen, was ich gar nicht sehen will.
Ich schweige mich beim Kämmen an, sag nichts, bin still
Und mühe mich vergeblich ab, nicht zu beachten,

Was mir brutal ins Auge springt: die neuen Falten,
Die Tränensäcke und das viele Weiß im Bart.
Der Bube, der dort starrt, der war mal jung und smart.
Jetzt kann er, flucht er, bald nicht mehr das Wasser halten.

Ich dusche mich schon heiß, der Spiegel soll beschlagen,
Damit, wenn ich den Bauch forsch in die Hose zwing,
Sich die Erkenntnis selbst enthebt und rasch die Fragen,

Warum ich, nicht mehr jung, die großen Sprüche schwing,
Vertagt, bis ich sie doch nicht mehr vertagen kann:
Erwachsen sein wär an der Zeit. Man stirbt als Mann.
 

Label

Mitglied
Lieber Walther

kann ich gar nicht verstehen, warum dein Sonett so wenig Aufmerksamkeit erfahren hat.

Mir gefällt wie dein LyrI etwas weiß, es nicht wissen will und dann trotzdem hinsieht.
Eine gehörige Portion Ironie liebevoll verpackt.

Ein paar Vorschläge hätte ich:


Ich dusche mich [blue]nur[/blue] heiß, [blue]den[/blue] Spiegel soll[blue]'s[/blue] beschlagen,
Damit, wenn ich den Bauch [blue]stramm[/blue] in die Hose zwing,
[blue]Mir[/blue] die Erkenntnis [blue]sich vernebelt und[/blue] die Fragen,


So klänge es meines Erachtens etwas flüssiger, speziell Sich die Erkenntnis selbst enthebt und rasch die Fragen klingt ein bisserl umständlich.

Liebe Grüße
Label
 

Walther

Mitglied
Sonett mit vorgehaltenem Spiegel


Ich rate mir, mich nicht im Spiegel zu betrachten:
Dort könnt ich sehen, was ich gar nicht sehen will.
Ich schweige mich beim Kämmen an, sag nichts, bin still
Und mühe mich vergeblich ab, nicht zu beachten,

Was mir brutal ins Auge springt: die neuen Falten,
Die Tränensäcke und das viele Weiß im Bart.
Der Bube, der dort starrt, der war mal jung und smart.
Jetzt kann er, flucht er, bald nicht mehr das Wasser halten.

Ich dusche mich schon heiß, der Spiegel soll beschlagen,
Damit, wenn ich den Bauch forsch in die Hose zwing,
Mir die Erkenntnis sich vernebelt und die Fragen,

Warum ich, nicht mehr jung, die großen Sprüche schwing,
Vertagt, bis ich sie doch nicht mehr vertagen kann:
Erwachsen sein wär an der Zeit. Man stirbt als Mann.
 

Walther

Mitglied
Hallo label,

danke, daß Du mein "Alterwerk" vor dem Absturz bewahrt hast (wenigstens einstweilen:)). Ich habe Deinen 3. Änderungsvorschlag übernommen, den Rest möchte ich belassen, wie ich den Text geschrieben hatte, weil der Text besser zu meinen Absichten paßt und sich auch schlanker lesen lässt, wie er jetzt dasteht.

Danke für Deinen tollen Formulierungsvorschlag Nr. 3. Dieser ist viel besser als meine Variante!

LG W.
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Walther,
köstlich die Ironie, schön der Schluss!
Ja, der beschriebene Herr gibt wirklich ein kümmerliches Bild ab! Allein: wer sich so ungeniert den Spiegel vorhalten kann, der ist vielleicht doch schon ein Stück weit erwachsen geworden...
Interessant ist die Mischung: alte Form (Sonett) und doch jugendlicher Anstrich (smart / große Sprüche schwing...), die Reflexion über das Altern hat atmosphärisch was von: Body-Check und Wellness-Trip eines älteren Herren. Das gibt eine prickelnde Mischung, wobei der jugendliche Touch gut dosiert ist. Der junge Ton will heraus, drängt nach vorn, aber der Altmeister weiß, wie er die Zügel zu halten hat. Im Prinzip weiß er's, aber die Balance muss doch immer wieder neu gefunden werden.

So lese ich das Gedicht auch in diese Richtung: Welcher Sprache kann ich mich bedienen? In dem Moment, wo es darauf keine einfachen + vorschnellen Antorten gibt, wird das Schreiben vermutlich eine spannende Angelegenheit.
Genug gelabert.

lg wüstenrose
 

Walther

Mitglied
Lb. Wüstenrose,

Dein lobenden Worte werde ich dem LyrIch weitergeben, wenn ich ihn gelegentlich wieder einmal sehe. Er ist gerade saumäßig beschäftigt. :)

Vielen Dank dafür!

LG W.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Lieber Walter, das Sonnett ist in mehrerlei Hinsicht interessant, besonders in der Form, die eine Klitterung verschiedenster Versformen enthält.

Ich rate mir, mich nicht im Spiegel zu betrachten:
Dort könnt ich sehen, was ich gar nicht sehen will.
"Normale" jambische Verse mit sechs Hebungen.

Ich schweige mich beim Kämmen an, sag nichts, bin still
Und mühe mich vergeblich ab, nicht zu beachten,
Dasselbe, aber mit einer Änderung der Zäsuren.
"Nicht zu beachten" wird normalerweise nicht ohne Objekt verwendet. "Etwas nicht zu beachten". So bleibt eine grammatische Bindung offen und es entsteht ein unbehagliches Gefühl.


Was mir brutal ins Auge springt: die neuen Falten,
Die Tränensäcke und das viele Weiß im Bart.
Der Bube, der dort starrt, der war mal jung und smart.
Jetzt kann er, flucht er, bald nicht mehr das Wasser halten.
Eine "normale" Strophe, ohne grammatische Kunstgriffe, wie in der ersten.

Ich dusche mich schon heiß, der Spiegel soll beschlagen,
Plötzlich ein Vers im Alexandriner-Maß, mit Mittelzäsur.
Damit, wenn ich den Bauch forsch in die Hose zwing,
Mir die Erkenntnis sich vernebelt und die Fragen,
Kein Alexandriner mehr.
Dafür ist die Kongruenz gestört: die Erkenntnis vernebelt sich. (korrekt) Die Fragen vernebelt sich. (grammatisch falsch)

Warum ich, nicht mehr jung, die großen Sprüche schwing,
Wieder ein Wechsel, kein Alexandriner mehr, wie in der Vergleichsstrophe.
Vertagt, bis ich sie doch nicht mehr vertagen kann:
Erwachsen sein wär an der Zeit. Man stirbt als Mann.
Der Abschluss ist "normal".

Fast jeder Vers hat andere Zäsuren, das macht das Gedicht unruhig, "zittrig", spiegelt das Alter in der Form wieder.
 

Walther

Mitglied
Lb. Bernd,

danke für Deinen langen Eintrag. Das Gedicht ist eigentlich für den Vortrag gedacht, und Du hast den sprachlichen Finessen erfolgreich nachgespürt, die ich eingebaut hatte. Eigentlich ist das Sonett ja eine "ernste" Gedichtform, das Thema allerdings und die Sprache sind eher ironisch-humoristisch ausgelegt.

Nun lebt der Vortrag, wie ich meine, durchaus von solchen "Widersprüchen", die sich beim Deklamieren in Wohlgefallen auflösen, weil entsprechend präsentiert an der einen oder anderen Stelle ja Lacher generiert werden sollen. Besonders passend ist da der sechshebige Jambus, wie ihn Gryphius in seinen Barocksonetten gebraucht hat, weil er, wegen der Länge des Verses, eben diese Varianz in den Zäsuren, die einen lebendigen Vortrag befördert, zuläßt.

Danke sehr für Deine lange Besprechung, die ich wahrscheinlich gar nicht wirklich verdient, aber mit Freude und fast ein wenig Beschämung gelesen habe, gäbe es doch sicherlich viele andere Werke in der Lupe, die eine solche Betrachtung vielleicht eher verdient hätten. Aber vielleicht bin ich nur zu selbstkritisch in diesem Fall.

Danke, daß Du uns in Forum "Feste Formen" begleitest!

LG W.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich denke, bei der nächsten Aufgabe könnten wir solche sprachlichen Besonderheiten und Abweichungen innerhalb fester Formen in den Mittelpunkt stellen.
Was hältst Du davon?
 



 
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