Sonnenaufgang

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Nachricht von der Person E. an I.G. :


Briefausschnitte Vincent van Gogh
Ausschnitt eines Briefs Vincents an Theo im Juli 1880 worin V. Stellung bezieht zu den Vorwürfen seiner Familie er sei ein Nichtstuer
...
Denn es gibt Nichtstuer und Nichtstuer, von denen der eine das Gegenteil des anderen ist. Es gibt Nichtstuer aus Faulheit und Charakterschwäche, aus niedriger Veranlagung - du kannst, wenn du meinst, mich für so einen halten. Dann gibt es den anderen Nichtstuer, den Nichtstuer wider Willen, der innerlich von einem heftigen Wunsch nach Tätigkeit verzehrt wird, der nichts tut, weil es ihm völlig unmöglich ist, etwas zu tun, weil er wie in einem Gefängnis sitzt, weil er nicht hat, was er braucht, um produktiv zu sein, weil es sein Missgeschick so gefügt hat, dass es mit ihm so weit gekommen ist; ein solcher Mensch
weiß manchmal selbst nicht, was er tun könnte, aber er fühlt es instinktiv: Ich bin doch zu irgend etwas gut, ich habe eine Daseinsberechtigung! Ich weiß, dass ich ein ganz anderer Mensch sein könnte! Wozu könnte ich nur taugen, wozu könnte ich dienen! Es ist etwas in mir, was ist es nur!




Antwort von I.G. an E. :


Ja E. , es war wohl schon immer so mit uns Menschen und unseren Lastern und
Leiden, auch der alte Vincent hats gespürt...
Manchmal frage ich mich, wie die Welt denn vor 200 Jahren ausgesehen haben mag....Sie muss ganz anders gewesen sein, der Himmel könnte grün gewesen sein, so viel anders, so stark anders, und auch die Menschen so anders im Denken und Handeln....aber immer und immer auch genauso, sie kauten an den selben Dingen mit anderem Anstrich, die ganze Welt ist eine Äusserung von ein paar wenigen Gesetzen, die Alles hervorbringen...ich hab mir in der Bretagne die Natur angesehen, es ist Alles aus dem selben Samen gewachsen, das Blatt eines Baumes ist wie eine Muschel ist wie die Formen die das Wasser in den Sand spült, überall steckt der selbe Geist dahinter, so unterschiedlich die Dinge auch aussehen...
Vincent unter seinem grünen Himmel fühlte sich so, wie sich ein junger Mensch,
mit dem nicht alles verloren ist, wohl einmal fühlen muss, auch unter seinem grünen Himmel, er fühlte es in Grün, und auch meine Katze fühlt es, vielleicht in Rosa...
Tröste dich, E. , den Anderen geht es auch irgendwie so...den Erwachsenen, die sich so verdammt sicher und wissend geben, und du siehst ihnen an, wie all ihr Leben nur eine dünne Kruste über dem Nichts ist....viele Menschen sind auf Sand gebaut, E. , und man sieht es, weil sie so krumm und schief sind, und schubst man sie ein wenig rieselt der Sand schon weg und sie fallen fallen fallen bis sie sich wieder ein wenig Sand unter die Füße werfen und sich gerettet fühlen...
Heute merkte ich, dass der Tod ja überall lauert, hinter jeder Ecke, er ist oft nur eine Handbewegung entfernt, einen Dreh am Lenkrad, einen Schritt nach vorne...
Ich stand barfuß auf unserem Hausdach, direkt an der Kante, vielleicht 8 Meter, und erforschte meine Gefühle, und die Sonne ging tiefer, der Untergang einmal wieder bombastisch, ich weiß nicht ob du es kennst, wie jede Minute das Licht wechselt, das auf allen Dingen liegt, wie die Wolkenschwaden, -fetzen, -gebirge über den Himmel stürzen, aufgeschwemmte Flächen sich übereinander verschieben, lodernd ausgefranst, in gewaltiger Fläche glühend, rot, rosa, unbeschreiblich, das Blau im Kontrast wird kitschig pastellfarben, nur noch zu übertreffen durch die vom Meer aufsteigenden Farben eines Sonnenaufgangs an der See, bei Wind und leichten Wolken, das Schauspiel beginnt ewige Zeiten vor dem Aufgang selbst, Wolkenschwingen die vom Ozean heranwehen und nacheinander über die Sonnenglut ziehen, hinter sich riesige Formationen aus kleinen Einzelwolken führend, in regelmäßiger Art und trotzdem jede anders, lohend, brennend in weissestem Weiss in das tiefste Blau darüber, die Strahlen der Sonne stehen wie unermessliche Quader kranzförmig um die Sonne zwischen den Wolkenschwingen heraus, reichen bis zum Boden, stehen als räumliche Gebilde in der kochenden Atmosphäre, die Sonne, ein Ball aus Licht, doch man kann direkt hineinblicken, er scheint alles, alles von sich wegzutreiben, die Wolken, die Luft, das Licht, er scheint für sich allein ein Gott zu sein, das Böse flieht vor ihm, und dann auch das Gute, und er steht völlig allein der Welt gegenüber, die nur durch ihn Licht und Gestalt und Dasein bekommt, die sein ungeteiltes Wesen in feinster Auffaserung ihm gegenüberstehend preist, und dort gegenüber der Sonne steigen aus der See namenlose Farben auf, wortlose, schon unwirkliche Farben, aber dies ist die reinste Wirklichkeit, so ist sie, unmäßig reich an Allem und füllend für jede Seele......jede Malerei ist nur ein hilfloser Versuch einer Kopie der Farben dieser Natur und Erde, denn sie sind aus reinem Licht geschaffen.

Ich erlebte am Atlantik diesen Sonnenaufgang, wie es keinen Zweiten geben kann, wir waren zu viert, die Pilze hatten unsere Augen und Seelen weit aufgerissen...und heute Mittag holte ich mir dieses Glück ein wenig zurück, und stand, wie ich sagte, auf dem Dach an der Kante und sah den Untergang an, der nur eine Ahnung des Aufgangs bietet, ich hatte die Hände gefaltet und sagte mir wieder und wieder:

Wer weiss was er tut, hat keine Angst.
Ich habe keine Angst, denn ich weiss was ich tue.

Und ich sah an meinen Füßen vorbei herab, und ich wusste was ich tat,und ich hatte keine Angst mehr, und über mir beglühte schon wieder eine rot-orangene Wolkenwand Alles, und ich hörte Mütter zetern aus der Ferne und Männer schwatzen und Kinder greinen.


E. , in meinem Leben und in mir ist nicht alles in Ordnung. aber ich habe das Gefühl, nicht auf Sand zu stehen. Sondern auf Licht.
 



 
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