Sonntag morgens bei Freitag

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Gerd Geiser

Mitglied
Die Bäckerei Freitag ist das einzige Geschäft im Ort. Damit ist Freitag auch die einzige Bäckerei, ein Umstand, der den zahlreichen unverfrühstückten Kunden Sonntag vormittags ein gehörig Maß an Geduld abverlangt. Denn aus wirtschaftlichen Erwägungen befriedigt bei Freitag auch sonntags nie mehr als eine Bäckereifachverkäuferin gleichzeitig die Wünsche der Kundschaft.

Heute habe ich Glück. Die Schlange vor mir besteht nur aus einer älteren abgebrezelten Dame, die ihre Nachtcreme mit ihrem Gesicht zu Freitag getragen hat. Nun muss man wissen, dass Freitag als Unternehmer die Zeichen der Zeit erkannt hat, was seinen Ausdruck in der Umgestaltung der Bäckerei zu einem Back-Shop findet. So bekommt man hier neuerdings nicht nur den obligatorischen Coffee to go, auch Joghurt und Zwieback to go finden sich im Angebot. Ebenso liegen die Welt und die Bildzeitung aus, auch diese to go. Mit seinen 3 Angestelltinnen auf 400 EUR Basis ist Freitag der größte Brötchengeber hier im Dorf.

Ich entscheide mich für die Bild am Sonntag, während die ältere Dame an den Voraussetzungen ihres noch ausstehenden sonntäglichen Frühstücks arbeitet.

"Ich hätte gerne 4 Dreikornbrötchen."
"Die Dreikornbrötchen sind ausgegangen. Wir hätten noch Vierkornbrötchen."
"Gut, dann nehme ich 3 Vierkornbrötchen. - Was meinen Sie? Kommt das hin?"
"Schwer zu sagen. Ich würde Ihnen die Mehrkornbrötchen empfehlen. Da brauchen Sie sich nicht festzulegen."
"Ja, dann geben Sie mir 2 bis 5 Mehrkornbrötchen."
"Gerne. Möchten Sie sonst noch etwas? Ich frage nur wegen der Größe der Tüte."

Für Bremen hat es nur zu einem Unentschieden gereicht.

"Was sind das denn da?"
"Das sind Dinkelaale von gestern. Die könnte ich Ihnen zum halben Preis überlassen."
"Sind die auch mit Mehrkorn gebacken?"
"Die sind mehr mit Dinkelschrot gebacken."
"Da könnten Sie mir eigentlich die doppelte Menge mitgeben."
"2x alt wie 1x frisch von Sonnabend."
"Mein Mann isst gerne mal eine Flachsemmel."
"Mein Mann auch."
"Haben Sie die da?"
"Die backen wir nur montags, mittwochs und freitags. Dienstags, donnerstags und sonnabends bieten wir sie zum Aktionspreis an. Heute ist Sonntag."

Die Bundesliga Tabelle kann ich jetzt auswendig.

"Ich sehe gerade, ich habe meinen Brötchenpass vergessen."
"Das macht nichts. Ich stempel Ihnen den Kassenbeleg ab. Dann können Sie den Einkauf das nächste Mal auf Ihrer Karte nachtragen lassen."

In Tansania hat eine Frau Fünflinge bekommen. Ich wundere mich, dass immer genau so viel passiert, wie in die Zeitung passt. Die Kirchenglocke ist 3x kurz zu hören. Der Laib Christi wird verteilt. Wenn ich mich beeile, könnte ich den größten Hunger schon mal stillen.

"Haben Sie auch Okonomiyakis?"
"Die gehen bei uns nicht."
"Im Urlaub haben wir uns manchmal Minikreutenbollen geholt."
"Die sind unseren Korinthenbrötchen sehr ähnlich. Wenn Sie wollen..."
"Bitte."

Die Schlange hinter mir reicht jetzt bis zur Fahrschule Francke. Die rote Fahne wird an den jeweils Letzten weiter gegeben, damit es nicht zu einem Auffahrunfall kommt. Ich ertappe mich dabei, dass ich anfange mir dabei zuzusehen, wie ich die ältere Dame in Gedanken auspeitsche. Mein Handy klingelt, es ist meine Frau. Sie lässt mir durch meinen Sohn ausrichten, das Mittagessen stünde im Kochbuch. Sie sei auf dem Weg zu ihrer Mutter.

"Haben Sie sonst noch einen Wunsch?"
"Ich glaube, das ist erst mal alles."

Die Kasse klemmt.

"Entschuldigen Sie. Ich hätte nur gerne 4 Ofenfrische. Das heißt, 2 würden auch reichen. Das Geld habe ich passend."
"Kein Problem."

Na bitte. geht doch.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe etwas gestöbert und dieses schöne Werk gefunden.
Ich stamme aus Haselbach, dort war ein kleiner Dorfkonsum, als ich Kind war. Es gab mehrere solche Geschäfte, aber darum geht es erstmal nicht.

Ich bekam immer ein Bonbon.
Aber auch darum geht es nicht, auch nicht um die halbe Wiener beim Fleischer.

Es geht um das Einkaufen und den Verfall der Kultur.

1957 und in einigen darauffolgenden Jahren dauerte (fast) jedes Einkaufsgespräch 15 Minuten.
Mindestens.
Und dabei ging es um alles, was der Protagonist der Geschichte in der Zeitung las, nur auf das Dorf bezogen.

Es war ein gesellschaftlicher Treffpunkt.

Als ich in Dresden wohnte, ging das Einkaufen schneller.
Es war auf das Einkaufen konzentriert.

Heute geht es so schnell, dass ich jedesmal eine Krise bekomme.

Bei Aldi ist die Ablage so klein, dass Haufen entstehen.

Einige - ich auch - zahlen meist mit Scheckkarte.
Bei mir geht es deutlich schneller.

Oder ich habe eben einen 50-Euro-Schein in der Hand: "Hätten Sie vielleicht noch 35 Cent?" - dann geht das Suchen los.

Ein Freund von mir meint, er hasse Scheckkarten, weil man da so lange warten müsse.

Ich habe es ausgemessen: Im Durchschnitt gehen sie mindestens bei REWE schneller.

Aber das ist kein Dorfbäcker.

Normalerweise hat der geöffnet: gar nicht mehr.
Höchstens ein Bäckerwagen.

Aber ich wohne ja in Dresden und da gibt es die Hinter-Läden (Back Shops).

Der Text erweckt Erinnerungen, die noch vielschichtiger sind, als er.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hehe! Das ist gut. Brötchenpass....besonders gelungen ist der Wechsel zwischen dem Gespräch und der Zeitungs"lektüre".
LG Doc
 

Gerd Geiser

Mitglied
Hallo Bernd,
mein "Abstieg" begann von Bremen über eine Kleinstadt in diverse Dörfer. Mittlerweile bin ich akklimatisiert. Hat aber gedauert. Was du beschreibst, kenne ich gut und weiß es auch zu schätzen. Nur, mit nüchternem Magen am Sonntag Morgen beim Bäcker auf seine Brötchen warten zu müssen, verlangt doch einiges an Geduld.
Immerhin hat mir die Verarbeitung dieser Szene einen Literaturpreis, 400,- EUR und einen ganzen Abend eingebracht. Am Samstag ist die Lesung, ich freu mich drauf.
Dir einen lieben Gruß,
Gerd
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Eine tolle Geschichte

Kompliment!

Was mich etwas stört ist der Leerzeilenabsatz am Ende.
Wenn das kein Stilmittel von dir ist (kann wohl kaum sein), wäre es sinnvoll noch mal reinzugehen und die leere Luft zu entfernen.

Gruß vom Ironbiber, dem Ordnungsfanatiker
 
U

USch

Gast
Hallo Gerd,
bin gerade beim Stöbern und fand diesen köstlichen Text. Habe besonders über dieses Zahlenspielchen:
"Ich hätte gerne 4 Dreikornbrötchen."
"Die Dreikornbrötchen sind ausgegangen. Wir hätten noch Vierkornbrötchen."
"Gut, dann nehme ich 3 Vierkornbrötchen. - Was meinen Sie? Kommt das hin?"
"Schwer zu sagen. Ich würde Ihnen die Mehrkornbrötchen empfehlen. Da brauchen Sie sich nicht festzulegen."
"Ja, dann geben Sie mir 2 bis 5 Mehrkornbrötchen."
... gelacht. Da könnte jeder Mathematiker verzweifeln.
Sehr schön diese verschmitzte Komik.
LG USch
 
O

orlando

Gast
Ihr Lieben,
dies köstliche Stückchen gibt es übrigens auch bei youtube, vom Meister selbst mit todernster Miene vorgetragen:

http://www.youtube.com/watch?v=5z4ylDaGGIo

oder anlässlich der Verleihung des bayrischen Kleinkunstpreises.

Gerd Geiser schildert den schröcklichen Einkaufsalltag auf dem Dorfe und dessen meist männliche Leidtragende. - Denn selbst um die Auswahl der Tüte ("Wie viele Brötchen sollen es denn werden?") kann sich ein ausführliches Gespräch der Damenwelt entspinnen, besonders dann, wenn Mehrkorn und Dinkel "aus" sind, also die kleine Tüte vollkommen gelangt hätte!

Jedenfalls, gern mitgelitten und gelacht:
Hoffentlich gibt es bald wieder etwas Neues!

Herzliche Grüße
orlando
 

Jo Phantasie

Mitglied
Wer hat nicht schon ähnliche Erlebnisse gehabt, Visionen, auszupeitschen ..., nene, viel besser, einfach ein Brötchen tief in den Mund zu schieben, nein, zwei vom Vortag erledigen dann doch wohl das Gleiche, oder!

Aber Leute, es geht noch schlimmer.
Fleischertheke morgens um neun: Mit einem ganzen Ring Fleischwurst, da könnte man sie doch ...

Köstlich hingeschaut!
 
D

Die Dohle

Gast
... interessant, ehrlich! Der Vortrag funktioniert ausgezeichnet, nur gelesen hingegen ist der Text, hm, sag mer mal eher flach ...
Warumwiso ist das so?

lg
die dohle
 

Gerd Geiser

Mitglied
Zur Fleischwurst fällt mir ein: "Ich hätte gerne eine halbe von der Fetten" - "Das tut mir leid, die hat heute Berufsschule."
Ansonsten habe ich schon oft gehört, dass die Texte gelesen nicht so zünden wie vorgetragen. Weiß auch nicht, wieso.
Egal. Bis zum Bayerischen Kleinkunstpreis ist es noch ein langer Weg. Also weiter geht´s...
Lieben Gruß und danke,
Gerd
 

lizza

Mitglied
Als Neuling ein Spaziergang durchs Archiv und dann gleich sowas! Berlin ist kein Dorf, aber Freitage, Mehrkornschrippen und Kunden mit Entscheidungsschwäche haben wir hier auch. Habe amüsiert mitgelitten, schöner Text, danke!!
 

Gerd Geiser

Mitglied
Berlin ist kein Dorf. Ich weiß, meine Tochter wohnt dort.
Hab mich gefreut über deine Rückmeldung, lizza. Und ich wünsche dir noch viel Spaß bei deinem weiteren Stöbern. Du wirst in der LeLu einiges an Lesenswertem finden.
Dir einen lieben Gruß,
GG
 



 
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