Späte Erfüllung

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chrissieanne

Mitglied
Sie stand benommen hinter der Bühne. Der Krach war ohrenbetäubend. Man hörte die Musik kaum, vor lauter Geschrei der tosenden Fans.
Marlies bestand nur noch aus Glück. Das kann doch alles nur ein Traum sein! Sie sah auf den Rücken einer der Musiker, der sich jetzt kurz umdrehte und sie anlächelte. Ein köstlicher Schmerz durchstach sie, und machte sie zittern. Sie war verliebt, er war verliebt.
Er liebte sie. E R.

Das Konzert war zuende. Die Vier verbeugten sich und rannten von der Bühne.
„Na, wer hat den schönsten Hintern?" frotzelte John, und kniff ihr in die Wange. Paul zwinkerte ihr zu - und dann sah sie nichts mehr.
Ihr Gesicht an Georges Brust trank Schweiß und Seligkeit. Er hielt sie ganz fest, und sie wiegten sich hin und her. Ein Metronom der Liebe. Seine Gitarre schlug auf ihre Hüfte. Das tat weh. Schön weh.
„Ich liebe dich, meine Kleine, ich liebe dich so sehr..."

„Willst du wohl wach werden!"
Sie schlug die Augen auf, und sah in Jochens wutverzerrtes Gesicht. Er hatte seinen Monteuranzug schon an und rüttelte sie.
„Krieg ich kein Frühstück heute, oder wie? Was fällt dir ein!"
„Ja, ist ja gut. Ich steh ja schon auf."
Hastig zog sie ihren Morgenmantel an und ging in die Küche. Das Gebrüll ihres Mannes, sie sei eine nichtsnutzige Schlampe, wer würde denn das Geld herbeischaffen, da könne man ja wohl wenigstens verlangen...etc. perlte an ihr ab, wie Wasser von geölter Haut. Das selige Zittern ihrer Glieder, die Hitze zwischen ihren Beinen - das war das einzige, was sie spürte.
Sie sah schweigend zu, wie er die Brote verschlang, Kaffee in sich hineinschüttete, seine Tasche nahm und endlich grußlos die Wohnung verließ. Marlies stand auf, räumte den Frühstückstisch leer und ging ins Wohnzimmer. Ihre alten Platten standen versteckt im untersten Regal der Schrankwand. Sie nahm das blaue Album.
"While my guitar gently wheeps..."
Sie legte sich auf die Couch, schloss die Augen.
Ewig hatte sie keine Beatles mehr gehört. Vor drei Tagen hat sie sie zurückgeholt in ihr Leben. Sobald Jochen aus dem Haus war. Die Liebe zu ihrer Musik hat die Zeit nicht töten können.
Die Träume. Was hatte es damit nur auf sich? Es war der dritte Traum in Folge. Im ersten hatte sie die Vier kennengelernt. Im zweiten hatten George und sie sich verliebt und miteinander geschlafen. Jetzt, im dritten, sind sie nach dieser Nacht zusammen zum Konzert gefahren. Die Träume verliefen kontinuierlich. Schlossen direkt aneinander an. Wie ein Paralellleben.
Ein Paralellleben! Marlies setzte sich ruckartig auf. Ihr war etwas eingefallen. Das gibt es doch nicht. Das kann doch nicht wahr sein!!

Sie rannte in die Küche und holte eine Leiter. Fast wäre sie hinuntergefallen vor Aufregung. Auf dem Hängeboden fand sie den Karton, den sie suchte, und wuchtete ihn hinunter. Sofort kniete sie sich hin, riß ihn auf. Beatlesposter, Beatlesbücher, Tagebücher, Plüschtiere, ihre Briefmarkensammlung, das Büchlein mit gepressten Blumen und - da. Ihr Engelskästchen. Da kam das hinein, was ihr heilig war als Kind. Eine Spanschachtel, mit rosa Plüsch und Putten beklebt. Als Marlies sie öffnete, lag er obenauf. Mit ihrer wertvollsten Briefmarke hatte sie ihn frankiert. Gerührt sah sie auf die krakelige Schrift des Kindes. Groß und mit rotem Filzstift:
„An Gott. Dringend und geheim!"
Sie öffnete ihn und las mit klopfendem Herzen ihre eigenen Worte:
„Lieber Gott!
Ich bin ein großer Beatlesfan. Ich höre nur ihre Musik, und denke jeden Tag an sie. Und ich liebe George Harrison. Jetzt gibt es die Beatles aber gar nicht mehr. Und das finde ich ganz schlimm. Warum machst du, dass ich ausgerechnet sie so liebhabe, und nicht die Bay City Rollers wie meine Freundin? Ich weiß, dass das eine Sünde ist, so zu denken. Aber ich hab da eine Idee.
Wenn du machst, dass ich jede Nacht von den Beatles träume, und ich da dann Georges Harrisons Frau werde, und mit ihnen allen zusammensein kann, aber vor allem mit George, dann ist das doch fast so wie echt.
Wenn du das machst, versprech ich dir, nie mehr Süßigkeiten zu essen und ich wünsch mir auch nie mehr was. Wirklich.
Bitte, bitte, lieber Gott, mach das das geht.
Deine Marlies."
Fassungslos saß Marlies auf dem Boden. Dann lächelte sie.


„Sag mal, du gehst aber in letzter Zeit früh schlafen. Was ist denn los?"
Jochen saß im Jogginganzug auf der Couch und zappte durch die Programme.
„Ach, nichts. Ich bin einfach immer so müde. Außerdem möchte ich nicht mehr verschlafen. Du brauchst doch dein Frühstück, Schatz."
„Naja, gut. Wenn du meinst. Ist wenigstens genug Bier im Kühlschrank?"
„Jede Menge, Schatz, jede Menge."
Marlies ging ins Schlafzimmer, zog sich aus, legte sich ins Bett und kuschelte sich ein.

Heute nacht werden sie heiraten.
 

Gabriele

Mitglied
Hallo chrissieanne,

eine schöne Idee! Die Wortwahl finde ich an manchen Stellen allerdings zu schwülstig bzw. unpassend.
z.B.:
"tosenden" Fans - eher tobenden, oder?
Sie "sah" (blickte/schaute) auf den Rücken "einer" (eines) der Musiker
"Ein köstlicher Schmerz durchstach sie". - sorry, da rinnt mir persönlich (sogar im Traum) zuviel Schmalz...

Sehr gut gefällt mir die abrupte Rückkehr der Prot. in die Wirklichkeit (auch wenn Du den unausstehlichen Ehegatten wohl ein wenig überzeichnet hast - aber es gibt solche Typen ja leider auch wirklich). :)

"perlte an ihr ab wie Wasser von geölter Haut" - würde ich noch ändern.

Der Rest der Geschichte gefällt mir gut, da hast Du auch in der Wortwahl das richtige Maß zwischen zuwenig und zuviel Betroffenheit und Rührung gefunden.

Im letzten Satz müsste es dann wohl heißen:
"Heute nacht würden sie heiraten."

Mit einer kleinen Überarbeitung wird da sicher noch eine sehr lesenswerte Geschichte draus.

Liebe Grüße
Gabriele
 

chrissieanne

Mitglied
liebe gabriele,
ich danke dir herzlich.
den traum hab ich bewusst son bißchen rosamunde - pilcher - mäßig formuliert.
ich stelle mir vor, dass die prot. so etwas mag.
und der mann ist ein arsch. und die gibts wirklich.
und zwar so.
werde mir den text nochmal vornehmen.
lg
chrissieanne
 

knychen

Mitglied
hallo,
auch von mir eine kleine anmerkung.
die idee gefällt mir gut, vor allem läßt sie raum für folgende geschichten.
erstaunt hat mich nur, daß sie nicht schon nach dem ersten beatles-traum ein wenig im vinyl gekramt hat. immerhin schien ja auch dieser traum schon recht intensiv gewesen zu sein. (gottogott, daß hätte ich aber auch kürzer formulieren können)
[red]Ein Paralellleben! Marlies setzte sich ruckartig auf. Ihr war etwas eingefallen. Das gibt es doch nicht. Das kann doch nicht wahr sein!![/red]
hier stimmen irgendwie die zeitformen nicht. ich kann es nicht grammatikalisch korrekt begründen, ist mehr so'ne gefühlssache.
ihr war etwas eingefallen. 'das gibt es doch nicht. das konnte doch nicht wahr sein.'
gruß aus adlershof von knychen
 

chrissieanne

Mitglied
hallo knychen,
entschuldige, dass ich erst so spät reagiere.
du hast recht mit dem zu spätem "im vinyl kramen". das muss ich ändern.
zu deinem gefühl bei "das kann doch nicht wahr sein" - ich glaube, dass beides grammatikalisch richtig ist.
dank dir sehr für deinen kommentar.
lg
chrissieanne
 
E

Edgar Wibeau

Gast
Hallo, chrissieanne!

Da hat mich ein Text von Dir doch glatt in die Nacht gezogen oder besser: in den frühen Morgen.
Solch eine Geschichte mag ich nicht ungelesen lassen und meide die Matratzengruft, bis die letzten Worte genossen, die Bilder im Kopfkino zerflackert sind.
Szenen einer Ehe im "Miljöh" inklusive Berliner Altbauwohnung mit klassischem Hängeboden, genial.
[red]"Das gibt es doch nicht! Das kann doch nicht wahr sein!"[/red] ist hier erzählendes Präsens und paßt hervorragend zur Dynamik der Szene.

Gruß
Christian
 



 
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