Spaziergänge

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Spaziergänge
„Diese Spaziergänge müssen aufhören.“ Die beiden waren sich einig. „Sie macht die Kleine doch verrückt!“ „Sie hetzt sie regelrecht auf gegen uns. Sie ist sowieso im rebellischen Alter.“ „Also sag’s ihr. Es ist schließlich deine Mutter.“ Er nahm einen verzweifelten Schluck aus seiner Bierflasche. Das hatte er kommen sehen. Wie konnte er seiner Mutter den Umgang mit ihrer Enkelin verbieten, was würde Hanna sagen, wenn er ihr verböte, zur Oma zu gehen!
Seit Hanna dreizehn war und, wie es sich gehört, zum Konfirmandenunterricht angemeldet worden war, ihm war es ja gleich, aber Susi bestand darauf, da gab es gar keine Diskussion, fanden diese Spaziergänge statt. Beim Fondue neulich hatte Hanna erzählt, wie es dabei zuging. Ganz von allein fing sie an, sie hatte wohl etwas zu viel von der Feuerzangenbowle getrunken, Susi hatte mal wieder nicht aufgepasst, und ihnen beiden fiel es wie Schuppen von den Augen.
„Oma hat Brillen in ihrer Schublade, mehrere, alle mit Fensterglas und breitem Rahmen. Ich such mir immer eine aus, und dann darf ich sagen, was ich durch die Brille sehen will. Erst dann gehen wir los.“ „Und was willst du sehen?“ Susi fragte mehr der Höflichkeit wegen. Wenn eine Tochter von dreizehn Jahren schon mal anfängt, zu erzählen, darf eine Mutter nicht weghören. „Zuerst habe ich ‚Sex’ gesagt. Ich wollte Oma schocken. Aber die ist geil, die hat mich ernst genommen, und dann sind wir losgegangen.“ „Und?“ „Wir sind mit der U-Bahn zur Reeperbahn gefahren. Schon auf dem Bahnhof flüsterte Oma mir zu: ‚Die Jungs da!’ Das war so eine Clique junger Türken. Die haben den Mädchen hinterher gepfiffen. Ich fand das widerlich. In der Bahn saßen wir Männern gegenüber, die ihre Zeitung lasen. Oma stieß mich an, und da sah ich die Bilder richtig. Die sind ja immer da, aber plötzlich sah ich sie wirklich. Und dann auf St. Pauli – warum gehen eigentlich so viele dahin? Warst du auch schon mal bei so einer Frau, Papa?“
Er war rot geworden, ganz wider Willen. Susi guckte pikiert. „Also, ich möchte nicht da stehen müssen“, sagte Hanna. „Und wie das stinkt in diesen Sexschuppen! Oma ist mit mir an solche offene Tür gegangen und sagte: ‚Riech mal!’ Scheußlich so etwas, und dann haben wir gewartet und gesehen, wer da reinging in so ein Kino und die Peepshow.“ „Und?“ „Männer wie du und jüngere und ältere. Leute einfach. Später sind wir nach Hause gefahren. Oma war müde. Ihr tat der Rücken weh.“
Jetzt war Susi neugierig geworden. „Und was hast du beim nächsten Mal gesagt?“ Hanna freute sich, erzählen zu können. „Ich hab ‚Geld’ gesagt.“ „Und wo seid ihr spazieren gegangen?“ „Weiß ich nicht mehr. Lauter Villen waren da, aber keine Leute auf der Straße. Wißt ihr was? Die haben alle Gitter vor den Fenstern und am Eingang zu den Parks sind Kameras angebracht! Da kann man nicht einfach rein. Hunde haben die auch, und Autos, kann ich euch sagen, richtig große Karossen, ab und zu standen die Garagentore offen. Oma hat mich hinterher gefragt, ob ich eine Sandkiste oder einen Spielplatz gesehen hätte. Hab ich aber nicht. Vielleicht sind die ja hinter den Häusern.“
So kam es raus. Andere Spaziergänge waren den Autos gewidmet, andere den Modegeschäften und den Technikkaufhäusern. Oma war einfallsreich. Häufig machte sie die Vorschläge. Jetzt verstanden sie Einiges. Warum Hanna sich weigerte, Papa bei der Autowäsche zu helfen, warum ihre Sparbücher leer waren, geplündert für Amnesty international, warum sie immer die kaputten Jeans tragen wollte, sogar, wenn sie miteinander essen gingen, und warum sie immer so nervige Fragen stellte, auf die niemand eine Antwort wusste, bei der man sich nicht gleich verteidigen musste.
Freiheit war auch so ein Thema. Sie sind damals in Neuengamme gewesen, in der Gedenkstätte. Auf der ganzen Fahrt hatte Oma von ihrer Flucht erzählt, von der Kälte und dem Hunger, von der Angst vor den Russen, aber auch von Levi Goldmann, dem Viehhändler, der plötzlich nicht mehr kam, und von den Polen, die auf dem Feld arbeiten mussten – wenigstens so lange, wie sie noch im Dorf bleiben durften. Wegen der Freiheit waren sie häufiger unterwegs. Abends in der Bahn, wo den Leuten vor Müdigkeit die Augen zufielen und sie ganz grau aussahen, im Sozialamt, wo sie sich Marken aus dem Automaten zogen und dann im Flur saßen, bis ihre Nummer aufleuchtete. Oma kannte auch die Adresse von einem Frauenhaus und sie haben mit der Leiterin gesprochen.
Hanna will nicht heiraten. Hanna will weg. Mit 18 spätestens will sie ausziehen. Am liebsten bis nach Australien. „Wo ist denn deine Kugel“, fragte sie ihn. „Welche Kugel?“ „Na, die du am Fuß hinter dir herschleppst!“ Da verstand er erst. Irgendwie hatte er es sich ja selbst zuzuschreiben. Schließlich stöhnte er morgens im Badezimmer ziemlich oft: „Diese verdammte Tretmühle!“ Und neben ihm putzte Hanna ihre Zähne. Sie hatte ja Recht, doch da waren die Raten für das Auto und das Haus und jetzt auch noch der Plasmafernseher… Man sollte nicht so viel stöhnen oder einfach ausbrechen, nein aufbrechen. Doppeldeutig so ein Wort. Susi wurde gefragt, ob er sie schon einmal geschlagen hätte. Sie war ganz entsetzt. Aber klagte sie nicht auch immer über all die Arbeit, die ihr zuviel wurde, einmal das Büro und dann die Wohnung, ständig die Hemden bügeln für ihn, das Putzen, nur damit ihr Mann es schön hätte? „Hilf mir doch mal, mach bitte die Abwäsche, wenn Papa nach Hause kommt, will ich fertig sein!“ Hanna half nicht. Nicht mehr. Stattdessen erzählte sie von Elisas Mutter, die jetzt geschieden wäre und eine eigene kleine Wohnung hätte, ganz süß, du, ein Zimmer für Elisa und eineinhalb für sich. Als ob die nicht abwaschen müssten. „Aber nur für sich“, konterte Hanna.
Das Schlimmste aber ist die Sache mit Josua. Das geht schon seit Monaten. Und Josua ist schwarz. Aus Ghana. Sie treffen sich bei Oma. Und Josua erzählt, von seiner Heimat, von seiner Flucht. Ein Wirtschaftsflüchtling, was denn sonst. Über Nordafrika und Italien. Jetzt ist er hier gestrandet und die beiden sitzen am Wohnzimmertisch und hören ihm zu, wenn er von seinem Auszug berichtet, immer neue Einzelheiten, von den fehlenden Papieren, von dem Zoll, vom Geld, das er aufbringen musste, von seinen Verstecken. Aber er hatte nie Angst, auch jetzt nicht vor einer Abschiebung. Hanna sagt, er fasst immer an das kleine goldene Kreuz, das er um den Hals trägt. Wie kommt so einer zu einem goldenen Kreuz, das soll er erst mal erklären. Aber wie dem auch sei, sie werden ihn einmal zu sich einladen müssen, nach Neujahr vielleicht, wenn er doch schon Oma und Hanna immer bei den Spaziergängen begleitet.
Vielleicht kann man ja von ihm was lernen.
 

Larablue

Mitglied
Kommentar zu "Spaziergänge"

Hallo Rudolf!

Ich habe deine Geschichte gelesen. Deine Umsetzung von Hanna und ihren pubertierenden Problemen, der Beziehung zu ihrer Oma, zu ihren Eltern und auch die Charakterisierung von Hanna haben mir sehr gut gefallen.
Allerdings empfinde ich deine Geschichte nicht als Kurzgeschichte (direkter Einstieg, ein Ereignis, offener Schluß). Eher als Erzählung.
Vielleicht würde die Geschichte in Tagebuchform noch besser zur Geltung kommen. Allerdings würden dann die Dialoge, die ich besonders von Hanna, gelungen finde, weg fallen.
Sehr gute Idee zu einem aktuellen, allgegenwärtigen Thema!

Liebe Grüße nach Hamburg, Lara
 



 
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