Specht

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Udogi-Sela

Mitglied
Eine Menge Leute kamen zu deiner Beerdigung: Verwandtschaft, Junge, Alte, Mädchen, Frauen, Freunde, Neugierige, es sollen sogar Polizisten in Zivil dabei gewesen sein.

Du warst bekannt wie ein bunter Hund, unberechenbar, für jeden Spaß zu haben und unstet wie der Wind.

Du liebtest das gleiche Mädchen wie ich, und nachdem ich mit ihr Schluss gemacht hatte, gehörte sie dir.

Ich traf dich oft nach Feierabend auf dem Nachhauseweg, und jedes Mal sprangen wir auf ein Bier in die nächste Kneipe.

Manchmal stiegst du in die Bahn und fuhrst, natürlich ohne Fahrkarte, wohin dich die Räder trugen, bis man dich rauswarf an irgendeinem Fleckchen in Deutschland oder Frankreich.

Man fand dich auf jedem Fest, so auch an jenem September-Wochenende auf dem Mittelmoselweinfest in Bernkastel-Kues, die Sonne hatte tagsüber noch ihre ganze Kraft, doch die Vorboten des Herbstes schlichen sich auf der Weinstrasse am Abend unter die Kleidung der Zecher.

Wir begegneten uns an diesem sonnigen Samstagnachmittag auf der Weinstrasse, wo sich Weinstand an Weinstand reiht, jeder der Stände preist den Wein eines Ortes der Mittelmosel an; Menschen davor, lachend, singend, fröhlich lärmend.
Du warst bester Dinge, gut gelaunt und voller Pläne. Der Wein hatte seine Wirkung in dir entfaltet, du machtest Scherze und wir stießen unter dem lichten Schatten der Bäume unsere Gläser an.
Ich hatte wie immer meine Gitarre dabei, und bat dich, Deine Unterschrift darauf zu setzen. Auf die Vorderseite schriebst du mit einem Kugelschreiber Deinen Namen, unter dem Dich jeder kannte: „Specht“.
„Ja, ich werde ganz berühmt“, sagtest du, „dann kriegt mein Autogramm hier sogar noch einen besonderen Wert!“ In Deinem Blick lagen Schalk und Ernsthaftigkeit ganz dicht nebeneinander. „Bald wird alle Welt von mir sprechen!“
Wir lachten, du zogst weiter, eine Rauchfahne aus Cannabis wehte hinter dir her.

Ich verließ die Weinstrasse, spazierte unter dem tiefblauen Himmel im Sonnenlicht über die Moselbrücke, hin zum Rummelplatz, trank hier und dort ein Glas Wein, dann zog es mich zur Weinstrasse zurück.

Ich hatte die Brücke fast wieder überquert, ihr Bogen glich einem kleinen Hügel, den ich ansteigen und wieder hinuntergehen musste, als ich auf der linken Seite, teils auf der Fahrbahn, teils auf dem Bürgersteig ein Bündel liegen sah, nein, etwas gestaltähnliches, das mit einer bunten Decke zugedeckt war. An der Kante des Bürgersteigs, in der flachen Vertiefung für den Abfluss des Regenwassers, sickerte als handbreites Rinnsal dunkelrotes Blut unter dem Stoff hervor, dem Eingang der Stadt entgegen. Eine Handvoll Menschen stand dabei, ratlos, Entsetzen im Blick, auf Hilfe wartend.
Ich ging vorbei, ein lähmendes Erschrecken breitete sich in mir aus, ein Absturz aus fröhlichen Höhen in schwarze, unbekannte Tiefen, ohne mir dessen in diesem Moment wirklich bewusst zu sein.

Meine Schwester kam mir entgegen und fragte: „Hast du das gesehen? Weißt du wer das ist? Das ist der ‚Specht’, der ist überfahren worden, grade eben. ‚Specht’ wollte wohl entgegenkommenden Leuten auf dem Bürgersteig ausweichen, ist dabei mit einem Fuß auf die Fahrbahn getreten und hat nicht auf den vorbeifahrenden LKW geachtet. Dann muss er gestolpert sein, er fiel hin und sein Kopf geriet unter die Räder des Anhängers. Der Hänger war beladen mit Bimssteinen. Der LKW-Fahrer hat nichts bemerkt und ist einfach weitergefahren.“

Ich traf Freunde, Bekannte, alle nur mit einem Thema beschäftigt.
„Bald wird alle Welt von mir sprechen!“ hattest du gesagt.

Ich bin nicht zu deiner Beerdigung gegangen, doch es soll ein kleines Fest gewesen sein. Ein Fest für einen verrückten, ungewöhnlichen, verträumten, spleenigen und lebenslustigen Menschen, veranstaltet von deinen gleichgesinnten Freunden, gegen den Unmut und gegen die Trauer deiner Eltern, Verwandten.

Menschen wie dich streifen unser Leben und hinterlassen Spuren, unverwechselbar und prägend. Und leben nach ihrem Tod in uns fort.

Ich denke hin und wieder an dich, sehe dich vor mir: strahlend, lachend, guter Dinge.

Nein, du bist nicht tot.
 
L

Lotte Werther

Gast
An Udogi-Sela

Eine traurige Erfahrung, die der Tagebuch Schreibende hier festhält. Für sich, aber auch für mich lesenswert und nachdenklich stimmend.

Das dies gelang, liegt am Stil, den ich gut finde. Sachlich, schnörkellos, und doch spürt man die Sympathie für diesen Specht, den Außenseiter. Den bunten Vogel, der sich nicht einreihen lässt. Und so gesehen, ist sein Tod, wie sein Leben war.

Der Text gefällt mir vom Inhalt wie auch von der Ausführung her. Zwei Bemerkungen:

Wir lachten, du zogst weiter, eine Rauchfahne nach Cannabis duftend wehte hinter dir her.

Rauchfahne und duftend scheint mir nicht so recht zusammen zu passen.

Menschen wie dich streifen unser Leben und hinterlassen Spuren, unverwechselbar und prägend. Und leben nach ihrem Tod fort, [strike]während manche Lebende im Hier und Jetzt bereits schon längst gestorben sind[/strike].

Wie wärs, wenn du den Leser Letzteres schlussfolgern lässt?

Lotte Werther
 

Udogi-Sela

Mitglied
Danke,

Lotte für Deinen Kommentar.
Deine Vorschläge habe ich gleich umgesetzt.

Die Geschichte ist nicht erfunden, sondern genau so passiert.

Herzliche Grüße
Udo
 

Lord-Barde

Mitglied
...Jup...

dieses ist glaubhaft, Syre Udogi-Sela.
Schicksalswege werden uns immer fremd bleiben.
Immer wieder fassungslos können wir nur staunen,
dass uns wirklich passiert, was wir oft nur
in reisserischen Romanen vermuten.
Gute Geschichte
der Lord-Barde
 



 
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