Spring Karle, spring

Es war nicht nur einer dieser trüben Winternachmittage, den man besser im Bett verbringt, sondern auch eine günstige Gelegenheit, die Flügel in den Wind zu stellen und in den Himmel zu fliegen. Raus aus der verstaubten Enge des Alltags, raus aus den plattgetretenen Wünschen einer Begierde, die, wenn sie nicht befriedigt, sich ins Gegenteil verkehrt.
Die einzige Sicherheit, eine schäbige Einzimmerwohnung in Kreuzberg, ein paar Klamotten in einem rosa-roten Rucksack und die nebulöse Hoffnung, dass sich alles ändert.

Durch leichtes Anheben der Armstützen, unter gleichzeitigem Druck mit dem Rücken nach hinten, rastete die Rückenlehne des Sitzes ein. Er blickte durch das Bullauge der viermotorigen Interflugmaschine über die grauen Wolken Berlins. Da es nicht viel zu sehen gab, schloss er die Augen, um ein Nickerchen zu machen.
Seit Jahren hatte er Bettina nicht mehr gesehen und dass sie ihn einfach so einlud, war schon ein feiner Zug.
Ja, zugegeben, es war eine Marotte von ihr, Männer zum Tanzen aufzufordern, die nur laberten, und es kostete sie Mühe, ihn zu überzeugen, aber sie schaffte es. Das sei ihre Ma-sche, flüsterte sie ihm beim Blues ins Ohr und schmollte so süß dabei, dass er sie nur noch BB nannte. Es war nicht nur ein heißes Fest, sondern sie liebten sich wild und ungestüm ein ganzes Wochenende lang.
Trockene Lippen und ein ungeheurer Druck auf der Blase brachten ihn in die Realität zurück. Auf dem Weg zur Toilette orderte er bei der Stewardess ein Glas Campus und verschwand in der engen Kabine.
Wieder auf seinem Platz brach es dann aus ihm heraus: "Prost, mein Alter, hast's ja weit gebracht". Sein Nachbar, ein schon etwas aus dem Leim geratener Mitfünfziger, runzelte die Stirn und warf einen verwegenen Blick herüber, rollte die Augen und dröhnte: "Wat jibt et denn Mester, Jeburtstach?" "Erraten, wollen sie?" erwiderte Karl und hob das Glas. Die Frage erübrigte sich, denn er schien an nichts mehr Interesse zu haben. "Zwei Gläser bitte", rief er der gerade vorbeischwebenden Stewardess nach.
"Zum Wohl", flötete es nach wenigen Augenblicken aus dem Hintergrund. Sie neigte sich nach vorn, zeigte ihr Dekolleté und stellte mit routinierter Lässigkeit die perlende Erfrischung ab.
"Prost", Karl Müßiger, für dich Karl." "Prost, Alfred Paschulke, Atze jenücht".
Karl war froh ein wenig plaudern zu können und schilderte ohne Umschweife, dass er Anarchist, in einer Kom-mu-ne gelebt und gerade noch mal davongekommen sei. Weil Atze nicht wusste, was er sagen sollte, versuchte er zu lächeln, was ihm aber nur ungenügend gelang. Karl be-schrieb weiter, wie er nach Berlin kam und die Straßen so breit fand, dass er beim Abbie-gen fast in den Gegenverkehr gefahren wäre. Wie er zum erstenmal arbeitslos wurde, über Freiheit nachzudenken begann und wie er mit der schwarz-roten Fahne vom Anarchisten zum Sponti konvertierte. Dann, die schwere Zeit der kurzen Jobs, als Lagerarbeiter oder Fahrer, als Karl Arsch, der nur wenig zu verlieren hatte. Die intensivste Erfahrung aber war die verrückte Zeit in der Theatergruppe. Es ging um ein anderes Lebensgefühl, um Sex und die Erkenntnis, dass Selbstverwirkli-chung der Schüssel zur Freiheit ist.
Das sich aber vor Tagen die Kommune, mit den nettesten Menschen, die er bis dahin kennen gelernt hatte, im Streit um Nichtig-keiten auflöste, wo die großen Würfe schon getan, machte ihn doch sehr nach-denk-lich.
"...in wenigen Augenblicken landen wir auf dem Flughafen Yesilköy in Istanbul, bitte schnallen sie sich an und stellen sie das Rauchen ein".

Die Maschine setzte sanft auf und rollte aus. Die Gepäckabfertigung zog sich in die Länge. So sind nun mal die Orientalen, bei den unwichtigen Dingen genau, dachte sich Karl und blickte auf die Uhr. Sein Magen grummelte.
Über eine Küstenstraße fuhr er nach Istanbul hinein und bis auf einen kurzen Blick auf das Topkapi und die dunkel dahinfliesenden Wasser des Bosporus bekam er nicht viel mit.
In Etiler, einem Stadtteil Istanbuls, angekommen, bezahlte Karl den Taxifahrer und stieg eine Holztreppe hinunter. Im 2.Stock hing ein Zettel an der Tür: Bin bis Mittwoch weg; konnte dich leider nicht mehr erreichen; Schlüssel liegt beim Hausmeister, eine Treppe tiefer; heißt Turan Üren. Der Hausmeister wusste zum Glück Bescheid. Möge Allah ihn beschützen. Den Schlüssel locker um den Mittelfinger drehend, nahm Karl den letzen Anstieg.
BB hatte in einem Zimmer alles fürsorglich eingerichtet. Er stellte seinen Rucksack in die Ecke, zog die Klamotten aus und legte sich aufs Bett. Nach einer Zigarette, die er nach wenigen Zügen wieder ausdrückte, war er auch schon weg.

Der erste Gang durch BB's Wohnung lies ihn erschaudern. Sah alles verdammt nach Ikea aus.
Als er an der Galata-Brücke ankam hatte er tierischen Hunger, denn zum Frühstück gab es nur Jakobs Dröhnung. Also, nichts wie irgendwo rein. Gierig verschlang er ein Kebab-Yogurtlu und spülte mit einem Tee nach. So gestärkt sah die Welt gleich ganz anders aus. Karl wischte sich mit dem Handrücken das Fett von den Lippen und verließ das Lokal.
Wieder draußen spürte er die Wärme. Er sah noch den Arbeitslosen zu, die von der Galata-Brücke aus ein paar Fische fürs Mittagessen angelten, dann machte er sich Richtung Alten Basar auf.
Je näher er kam, desto voller und lauter wurde es. Er sah Wasserverkäufer mit Plastikkanistern auf dem Kopf und Lastenträger die aben-teuerlich-dimensionierte Ballen schleppen. Ebenso war er fasziniert von den Schuhputzern und den an Ecken stehenden Zigarettenverkäufer, die lässig eine Kippe im Mundwinkel hielten und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit: "Malabarra-Malbarra-Malbarra" riefen und noch Zeit fan-den, Touristinnen hinterher zu pfeifen.
Apropos Frauen. Karl war aufgefallen, dass weder in Restaurants, noch in den Cafes Frauen zu sehen wa-ren. Öffentlichkeit war wohl reine Männersache.
Am Basar angelangt hatte er keinen Bock mehr auf Gedränge und entschied, zum Hafen runter zu gehen. Kaum war man einen Straßenzug von der Hektik weg, wurde es beschaulicher. Er sah, wie zwei verschleierte Schönheiten, von Straßenseite zu Straßenseite, ein munteres Schwätzchen hielten. Sicher über die Wehwehchen der Kinder oder über ihre Männer, die wieder einmal weggegangen waren. Karl fühlte sich wohl, hatte unendlich viel Zeit und ließ sich gemächlich treiben.
Als er jedoch den Hafen erreichte hatte, fiel es ihm zusehends schwerer, sich für die Schönheiten dieser Stadt zu begeistern, denn die Füße taten weh. Er wartete bis das nächste Taxi vorbeifuhr, hielt es an und stieg ein. Auf Sardine, wie auf der Herfahrt im Bus, hatte er keine Lust mehr.
Kaum angekommen setzte er sich auf die Terrasse, wickelte sich in eine Decke und genoss den herrlichen Blick über Istanbul.
Am anderen Morgen ging es ihm sehr schlecht. Er hatte über Nacht die Scheißerei gekriegt und wollte nichts mehr von dieser Welt wissen. Mittwoch kam BB zurück. Beim Frühstück war sie sehr mitteilungsbedürftig und erzählte über die Arbeit am Alman-Lisesi (deutschsprachiges Gymnasium) und über die Gier nach Vollkornbrot und gutem Bier.
Doch sie hatten sich verquatscht, wollten längst weg sein.
"Weißt du eigentlich wohin wir fahren?" fragt BB und beantwortete die rhetorische Frage gleich selbst: ".....in das Viertel der Gauner und Diebe."
Selbst die gut organisierte Istanbuler Polizei zollte diesem Viertel ihren Respekt. Es werden sagenhafte Geschichten erzählt. Unter anderem von Osman dem Fasan, der in seiner Frechheit soweit gegangen sein soll, dass er sogar die Bosporusbrücke an Touristen verscherbelte.
Sie bogen nach dem Park von der Dolapdere Caddesi ab und hielten vor einem unscheinbaren türkisches Teehaus mit einfachen Stühlen und Tischen aus Holz. Obwohl sie spät dran waren, zeigten sich keine Anzeichen von Hektik. Türken gehen mit ihrer Zeit gelassener um, geben ihr Leben in Allahs Hände.
Was kommt, das kommt, so oder so.
Durch die geöffneten Flügeltüren des Versammlungsraum sahen sie, wie Tische und Stühle zusammengeschoben, rote Fahnen und Wimpel aufgehängt und Bücher und Broschüren ausgelegt wurden. Die Vorboten und Riten einer linken Veranstaltung, wie überall auf der Welt. Türen werden geschlossen, Zigaretten angezündet, Unruhe macht sich breit und die Luft wird immer beißender.
"Bettina, Bettina, schön, dass du auch da bist". Die Leute kommen in Bewegung, die Menge teilt sich und eine Blonde fällt BB in die Arme. "Darf ich dir Karl vorstellen, Besuch aus Berlin", sagte BB zu Ayla, zu Karl, "das ist Ayla, eine ehemalige Alman-Lisesi-Schülerin."
Die Beiden hatten sich lange nicht gesehen und quatschten gleich los. Das gab Karl Gelegenheit ein wenig zu beobachten. Ayla war blond und groß, BB klein und schwarzhaarig. Die Welt schien durcheinander. Doch im Grunde war es egal, denn Ayla hatte Ausstrahlung und das sie blond war, machte sie nur zusätzlich interessant.
Ein schnauzbärtiger Mann tauchte plötzlich aus der Menge auf, räusperte sich und meinte zu BB, dass sie kommen solle, Murrat sei da. Sie wirkte aufgeregt, kramte ihren Autoschlüssel raus, steckte ihn Karl zu und sagte: "Bis zum Wochenende bin ich wieder zurück."
"Die hat es in Antalya ja ganz schön erwischt", tuschelte Ayla.
Deshalb war sie also nicht da. Aber so sind Frauen, trauen keinem Mann.

Es war noch wärmer geworden, BB in Sache Liebe unterwegs und Karl schon wieder auf der Terrasse.
Es klingelte und er öffnete. Ayla stand vor der Tür und hatte Backlava, dieses süße, klebrige Zeug, mitgebracht. Schelmisch grienend, meinte sie: "Es ist 16 Uhr, Zeit zum Kaffeetrinken, oder nicht?" Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er bat sie mit einer eleganten Bewegung herein.
Bei Kaffee und Backlava eröffnete sie Karl, dass er zum Abendessen eingeladen sei, ihr Vater bestünde darauf. Typisch türkisch, dachte Karl, man wird verplant, ehe man davon weiß. Aber er nahm an, obwohl er erfahren hatte, dass ihr Vater bei der Kripo war, und wenn er ehrlich sein darf, Bammel hatte er schon, denn erfahrungsgemäß kam er mit Bullen nicht so gut klar. Egal, über Bord mit Vorurteilen, sie schaden den Entwicklungen im allgemeinen und den Beziehungen der Völker im besonderen. Und es ging gleich weiter. Sie hatte sich nämlich überlegt, schon am Wochenende nach Deutschland zu fahren. Aber nur, wenn er mitfahren würde, denn nur so könnte sie sich die Verwandtschaft in Berlin vom Halse halten. Dieser geballten Ladung Energie hatte er nichts entgegenzusetzen und sagte zu.
Gleich anschließend wolle sie übrigens rüber ins "befreite Gebiet" nach Üsküdar, dort träfe sie sich mit Frauen zu wöchent-lichen Lesekursen. Karl wisse doch, wie wichtig die Arbeit an der Basis sei.
Zuerst einmal verstand Karl nur Bahn-hof. Befreites Gebiet und Üsküdar sagten ihm nichts. Ayla do-zierte, dass Anfang der Siebziger Jahre die Industrialisierung in der Türkei enorm zu-genommen hatte und große Elendsviertel, sogenannte Gece-condus, um ganz Is-tan-bul herum entstanden waren. Gececondu heißt: "über Nacht gebaut" und besagt, dass, nach türkischem Recht, ein so gebautes Haus nicht abge-rissen werden darf. So nahmen viele aus Anatolien die Möglichkeit war, in die Stadt zu zie-hen und am relativen Wohlstand zu partizipieren.
Aus der Rivalität zwischen Linken und Rechten, die die Wichtigkeit der Gececondus erkannten und politisch an sich binden wollten, kam es immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen. Die Situation spitzte sich so zu, dass der Ministerpräsident Bülent Ecevit, um einen Bürgerkrieg zu verhindern, das Militär ein-set-zen musste.

Üsküdar war ein reines Wohnviertel und von Elend zuerst gar nichts zu sehen. Doch nach ein paar Anweisungen, rechts, links,...endete die befestigte Straße abrupt. Es begann eine von Regenfällen aufgeweichte und mit tiefen Schlaglöchern gesäumte Berg- und Talfahrt ins Ungewisse. Diese Hütten, gesäumt von Rinnsalen aus Exkrementen, übertraf alles, was Karl in seinem bisher so behüteten Leben gesehen hatte. Sie hielten vor einem schuppenartigen Gebäude. Sofort waren sie von Kindern um-ringt, die dreist ihren Tribut forderten. Sie riefen: "Cikolata, Cikolata", und Karl kam sich vor wie ein Weihnachtsmann ohne Sack.
Während Ayla Kurse durchführte bekam Karl jemanden zur Seite gestellt. Ali sprach ein wenig deutsch. - Je weiter sie vordrangen, desto erbärmlicher wurde alles. Man sah nur noch Blechhütten, oft provisorisch vernagelt, häufig ohne Fenster und Türen und mit Decken verhangen. Es gab keine Heizung und kein fliesendes Wasser, aber wie Ali nicht ohne Stolz bemerkte, auch keine Polizei. Dann wurde es schnell dunkel und Karl nahm es zum Anlass umzukehren. Doch bis sie wegkamen dauerte es eine Weile, das Abschiedszeremoniell durfte nicht verletzt werden, es wäre unhöf-lich.

Besiktas ist eine gutbürgerliche Gegend, in der prächtige Häuser standen. Vor so einem hielt Karl an. Es war eine kleine Villa, umgeben von einem Garten mit altem Baumbestand und wunderschönen Blumen. Schon nach wenigen Sekunden trat ein Mann aus der Tür und ging auf Ayla zu, küsste sie und gab Karl mit einem Lächeln die Hand.
Beim Essen erfuhr er, dass ihr Vater der jüngste Polizeichef der Istanbuler Kripo war. Ansonsten hatte er li-berale Ansichten, wünschte sich westliche Demokratie und freie Meinungsäußerung. Aylas Mutter arbeitete als Wirtschaftsprofessorin in den USA und kam nur sporadisch nach Hause. Aber er habe ja viel Freude an seiner Tochter.
Darauf hatte sie gewartet. Zwar wehrte sich der Vater, doch als sie ihm zuckersüß einflösste, dass sie dann auch garantiert studieren würde, willigte er ein. Sie durfte nach Deutschland fahren. Kurz darauf verabschiedete sich Karl.
Karl hatte alles zusammengepackt. Zu guter Letzt schrieb er ein kleines Briefchen an BB, warf die Autoschlüssel auf den Tisch und ging nach unten.
Pünktlich wie die Maurer bogen Ayla und ihr Vater in einem schneeweißen Benz um die Ecke. Der Alte wollte es sich nicht nehmen lassen, sie persönlich abzuliefern.

Es dämmerte als sie auf dem Flughafen Schönefeld landeten. Es war kalt, Winter in Deutschland. Sie nahmen den Bus zur Grenze, stiegen in den 41 um und fuhren durch Rudow, Neukölln zum Kottbusser Tor. Bis zur Reichenberger nahmen sie dann ein Taxi.
Der Hinterhof lag öde da und in dem Tümpel, der sich durch den Regen gebildet hatte, zogen Abfälle und Ratten friedlich ihre Kreise. Dann ging es durch eine kleine Tür des Seitenflügels bis in den 4. Stock. "Hier wohn ich", meinte Karl und deutete auf das ziemlich abgefingerte Türschild.
Drinnen war's natürlich arschkalt und so musste er gleich wieder runter, Anzünder und Kohlen holen. Als er zurückkam, hatte Ayla schon ausgepackt und Wasser aufgesetzt. Doch Karl winkte energisch ab, er hatte keine Lust auf kalte Füße. So machte er nur schnell Feuer, legte noch mal nach und schon waren sie unterwegs zur nächsten Pizzeria. Wieder zuhause, rollten sie sich gleich in ihre Decken und schliefen ein.
Die nächsten Tage verbrachten sie mit Sightseeing und Kino. Unter anderen sahen sie den Film Yol, den Ayla in der Türkei nicht sehen konnte, weil Yilmaz Güney sich zu kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in ihrer Heimat auseinander setzt. Es waren leichte Tage, die sie miteinander verbrachten und sie merkten nicht, wie die Zeit verging.

Da Fritz noch einen Schlüssel hatte, stand er plötzlich in der Wohnung und grinste unverschämt, weil ihm die Überraschung gelungen schien. An verabredeten Zeiten war er nicht interessiert, dass waren für ihn Zwangsneurosen. Spontaneität hingegen wäre die einzige Möglichkeit, sich ein wenig echtes Leben zu bewahren. Er war ein harter Vertreter der direkten Aktion, der seinen Bakunin gelesen und natürlich seine abgerissene Lederjacke, mit der Aufschrift: Rentnernotschlachtdienst, an hatte. Das sei ein Zugeständnis an die vielen Alten in Berlin. Er verstünde es als humanen Akt, die Menschen nicht ihrem Schicksal zu überlassen, sondern sie schonungslos über ihre Zukunft aufzuklären.
"Haste dir ne Haremsdame zugelegt", feixte er und warf Karl einen anerkennenden Blick zu. Er konnte ja nicht wissen, dass sie alles verstand. Eine schallende Ohrfeige war die Antwort. Doch Fritz, gar nicht böse, rieb sich die Backe und meinte, dass man sich nur so nahe käme. Seine Hand fuhr in die ausgebeulte Jackentasche und zog eine Büchse Hansa Pils heraus. Der Verschluss knackte und nach einem langen Zug stellte er die leere Büchse auf den Tisch. Dann kam er ins Erzählen. Lastwagen fahren sei wie das Leben, der Weg ist das Ziel und erst ab 20 Tonnen hätte man das Gefühl, dass ei-nem keiner was kann. Er war eben ein Mann der Tat und er hasste seine Kollegen, die blökenden Schafe, die den Sinn des Lebens im Recht auf Arbeit und die paar Mark am Monatsende sahen.
Im Monolog seines Freundes erkannte Karl sich wieder und spürte, dass ihn der kurze Türkeiaufenthalt verändert hatte. Zwischen dem Elendsviertel von Üsküdar und dem romantischen Idealismus lagen Welten. Hier der hedonistische Anarchist mit Krankenversicherung und Rentenanspruch und dort das nackte Überleben. Als der Tisch voll und die Büchsen leer waren, meinte Fritz: "Wollt ihr vielleicht in die Walde mitkommen?"
Die Walde, eine Fabriketage, in der zwielichtige Gestalten, Müll und große Haufen Leder lagen, war das Zentrum der Anarchisten Westberlins. Das Leder wurde, wenn einer Bock hatte, zu Klamotten verarbeitet, der Müll und die Gestalten blieben in der Regel liegen. Hier lebte man nach dem Motto: "Jeder nach seinen Bedürfnissen". Da man sich aber über die Bedürfnisse nicht einig war, wartete man lieber ab.
Als sie in der Walde ankamen, wurde gerade ein Stück eingeprobt. Auf einer Bühne stand ein Zwinger, in dem Hunde blutiges Fleisch in Stücke rissen. Dann setzte laute Punkmusik ein. Dies sei Agitprop-Theater und wie Fritz hinzufügte, der Schluss eines Stückes über den Einsatz der GSG 9 in Somalia.
Hatten sie den Höhepunkt des Tages verpasst? Man konnte es glauben, denn kurz danach lief alles wieder in gewohnten Bahnen. Man trank Kaffee oder Bier, drehte Zigaretten, rauchte, hörte Musik und sah den spielenden Hunden zu.
Die ganze Szenerie erinnerte Karl an die Filme von Bunuel, nur war es hier nicht die Bourgeoisie, sondern die Kinder der Kleinbürger, die Langeweile als Avantgardismus zu verkaufen versuchen.

Das Telefon klingelte. "Welcher Idiot ruft jetzt an", fluchte Karl voll im Tran, wickelte sich aus seiner warmen Decke und schlurfte zum Telefon hinüber. Aylas Vater war dran. "Ayla, dein Vater " - "Was?" Doch ohne sich darum zu kümmern, lies sich Karl ins Bett fallen und schlief wieder ein.
Es musste Nachmittag sein, als er erwachte, denn nur um diese Zeit verirren sich ein paar Sonnenstrahlen in diese dunkle Ecke. Ayla saß stocksteif und angezogen auf dem Bett, hatte die Arme um ihre Beine geschlungen und starrte die Wand an. Sie hatte total aufgequollene Augen und weinte leise vor sich hin. "Was ist los?", fragte Karl. Es dauerte eine Weile bis Ayla reagierte. Ihre Mutter war auf einem Flug von New York nach Los Angeles an einem Herzschlag ums Leben gekommen. Karl versuchte den Arm um sie zu legen, doch sie entzog sich ihm, da sie wieder von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Dann richtete sie sich aber auf und sagte mit klarer Stimme, dass sie schon alles klar gemacht hätte. Heute Abend noch flöge sie nach Istanbul zurück.
Wieder in der Forsterstrasse fühlte sich Karl sehr allein. Er hatte nichts gelernt und sein Girokonto zeigte ihm die Rote Karte. Karl war, wie so oft, keinen Schritt weiter.

Er hatte an diesem Vormittag schon öfters versucht Ayla anzurufen. Endlich ging sie ran: "Oh, was für eine Überraschung. Bist du in Istanbul?" Sie schien sich zu freuen, war aber kurz angebunden.
Sie waren für den Nachmittag verabredet. So hatte er genügend Zeit das Stück nach Besiktas hinunter mit einem Spaziergang durch den herrlichen Park der Universität zu verbinden. Alles war in voller Blüte, es zwitscherte aus allen Ecken und es roch nach Blumen und fri-scher Erde.
Als er ankam, trug Ayla gerade eine Kanne Tee zu einem Tisch im Garten, auf dem sie einen kleinen Imbiss, bestehend aus Schafskäse, Zwiebeln, Oliven, Tomaten und Brot, zubereitet hatte. Nach herzlicher Begrüßung, sie sah immer noch ziemlich blass aus, setzten sie sich und Ayla sprudelte gleich wieder los. Schilderte, dass ihr Vater für 14 Tage auf einer Tagung in Ankara sei und sie es schön fände, wenn er so lange zu ihr zöge.
Auf der Schlusssitzung trafen sich noch einmal alle Delegierten in Üsküdar. Einer der letzten noch zu klärenden Punkte: Der Transport von Flugblättern und Plakaten für die einzelnen Gruppierungen, die an den Maidemonstrationen teilnahmen. Vorsorglich hatte man sich in einer verlassenen Felsenwohnung in Ürgüp, in der sich früher die Christen versteckten, eine Druckerei eingerichtet. Nun brauchte man noch je-manden, der alles unauffällig nach Istanbul brachte. Wie so oft setzte sich Murrat mit seinem Vorschlag durch, dass Karl und Ayla ein gutes Pärchen abgeben, da sie bei der Polizei noch nicht so bekannt und den Trip als touristischen Ausflug tarnen kön-nen. Ayla hatte auch gleich eine gute Idee. Sie erwähnte, dass ihr Vater den Merce-des dagelassen hätte. "Den nehmen wir", platzte sie heraus.
Obwohl sie bis spät in die Nacht hinein gequatscht hatten, wachten sie sehr früh auf. Nach einem kurzen Frühstück fuhr Ayla den Wagen aus der Garage, tankte voll und nach einer halben Stunde waren sie auf dem Weg nach Ürgüp.
Sie kamen flott voran und fühlten sich wie Bonney & Clyde vor ihrem größten Coup. Wie im Traum flogen Städte und Dörfer, Menschen und Landschaften vorbei. Das leise Pfeifen der Reifen und das Schnurren des Sechszylinders unterstützen nicht nur die friedliche Stimmung, sondern vergegenwärtigten ihnen, dass ausschließlich Glückmomente die Endlichkeit des Seins vergessen lassen.
Dann das Schild: Ürgüp 50 Km.
Eine faszinierende Mondlandschaft tat sich auf. Das über Jahrtausende, durch Wind und Wetter, zerklüftete Vulkangebirge war das Bizarreste, was Karl je gesehen hatte.
"Hier musst du abbiegen", sagte Ayla. - Gerade wollte Karl das Lenkrad einschlagen, da musste er auch schon scharf abbremsen. Eine Staubwolke verdeckte alles. Durch einen Schleier aus Staub trieben Polizisten eine aufgebrachte Menschenmenge aus der Straße. Geistesgegenwärtig knallte Karl den Rückwärtsgang rein und stieß in die Hauptstraße zurück, wendete und fuhr in eine Seitenstraße.
Vor wenigen Minuten explodierte in der Druckerei eine Bombe. Wären sie schneller gefahren - nicht auszudenken. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, saßen sie im Auto und sahen dem gespenstischen Treiben zu.

Murrat verschwand im Gefängnis und BB wurde aus dem Schuldienst entlassen und ausgewiesen. Man wollte keine diplomatischen Verwicklungen mit dem Nato-Partner Bundesrepublik Deutschland.

16 Jahre später.
Karl ist inzwischen freier Journalist und seit einigen Jahren Europaabgeordneter, zuständig für Asyl- und Menschenrechtsfragen. Er bereitet sich auf eine Reise ins Kur-dengebiet vor. Aktueller Hindergrund sind die Panzerlieferungen der deutschen Re-gierung an das türkische Militär. Sicher besser bekannt unter dem reißerischen Auf-macher: "Leoparden küsst man nicht!"
Gerade eben hat er ein Telefongespräch mit einem kurdischen Journalisten beendet. Ein Blick über den Schreibtisch zeigt ihm, dass er alles erledigt hat. Auch die große Reisetasche ist gepackt. In knapp einer Stunde fliegt er mit einer Delegation von Abgeordneten des Bundestages, Europarates und diverser Menschenrechtsgruppen nach Diyarbakir.

Im Hotel in Diyarbakir staunt Karl nicht schlecht, als sie über Lautsprecher in einen separaten Raum gebeten werden. Der Saal ist festlich mit Blumen geschmückt und ein opulentes Frühstück wartet darauf, verschlungen zu werden.
Doch bevor das Büffet eröffnet wird, tritt ein Gardeuniformierter vor: "Meine Damen und Herren, ich begrüße sie hiermit offiziell....und hoffe sehr, dass wir ihre Wünsche nach Informationen über die Befriedung der gesamten südöstlichen Türkei erfüllen können."
Alle steigen in einen Bus der Luxusklasse ein. Liege- Schlafsitze, Klimaanlage und Toiletten sollen wohl verwöhnen. Die Fahrt geht über Basnik, Siirt und über Midyat, Mardin nach Diyarbakir zurück. Doch von Panzer oder zerstörter Dörfer ist weit und breit nichts zu sehen. "Wollen die uns verarschen", denkt Karl und schießt ein paar Landschaftsfotos.
Zurück im Hotel wird Unmut laut. Auf die Ausflugstour angesprochen, die ja auch von jedem Reisebüro veranstaltet werden könnte, bleibt der Pressesprecher ausgesucht höflich und lächelt. So als ob er nicht versteht, was gemeint ist.
Karl hat die Schnauze voll und geht ins Restaurant ein Bier trinken. Wie er so dasitzt und böse in sein Glas schaut, schnappt er ein paar Wortfetzen auf, die er zuerst gar nicht zuordnen kann: "Are you care? - Of course". Neugierig dreht er sich um und sieht, wie zwei Typen über eine Landkarte gebeugt, hitzig miteinander diskutieren. Kurz entschlossen geht er rüber, stellt sich vor und erfährt, dass sie ins Sperrgebiet fahren wollen. Sie sind professionell ausgerüstet, verfügen über Nachtsichtgläser, ei-nen allradgetrieben Jeep, eine gutsortierte Fotoausrüstung und vieles andere mehr. Beste Voraussetzungen für das Gelingen dieser Mission.
Sie rasen durch die Nacht. Aus der Ferne hören sie eigenartige Geräusche. Ist das Donnergrollen? Dann werden die Straßen schlechter und sie kommen nur noch sehr lang-sam voran. Am Horizont sind Lichterketten von im Konvoi fahrenden Autos zu se-hen. Sie fahren noch eine steile Anhöhe hinauf, verstecken den Jeep, holen die Nachtsichtgläser heraus und schauen über die vor ihnen liegende Ebene. - Nichts.
Auf der Heimfahrt taucht plötzlich eine Straßensperre aus dem Dunkel auf. Sie halten vor dem Schlagbaum. Auf Anweisung eines Offiziers müssen sie aussteigen und die Pässe zeigen. Als ein Soldat bei der Durchsuchung des Wagens die Fotoausrüstung findet, ist es mit Nettigkeiten vorbei. Ohne Erklärungen reißt einer die Fahrertür auf und zieht den Zündschlüssel ab, dann werden sie in ei-nen Militärjeep geschoben und müssen warten.
Als die Sonne aufgeht, werden die Aufpasser abgezogen und zwei Offiziere steigen vorne ein. Nach endloser Fahrt tauchen die Außenbezirke einer Stadt auf, dann geht es an einem heruntergekommenen Industrieviertel vorbei und auf ein eingezäumtes Areal zu. Der Jeep braust durch ein breites Tor, dass von Wachposten flankiert wird. Militärfahrzeuge werfen Schatten voraus.
Karl kommt in eine Zelle. Spät abends wird er aus der Zelle geholt und in ein großes Dienstzimmer gebracht. Dort sitzt ein höherer Offizier am Schreibtisch und fä-chelt mit einem Pass die Luft.
Mit einem Lächeln und in akzentfreiem Deutsch legt er los: "Wissen sie Karl, als ich damals von der Tagung zurückgekommen bin und Ayla war nicht da, hatte ich einen Schock. Es war zuviel für mich. Zuerst stirbt meine Frau und dann ist meine Tochter verschwunden.
Ich habe dann sofort versucht etwas herauszubekommen. Aber ich stieß bei den verschiedenen Dienststellen in Ürgüp und auch bei meinen Vorgesetzten in Ankara nur auf Unverständnis und Schweigen. Bis eines Tages ein Anruf von einem hohen General, der Politische Polizei, Abteilung Terrorismus kam, der mir erklärte, dass Murrat zur An-titerrorbrigade "Kemal Atatürk" gehörte.
Die ganze Geschichte war eine von langer Hand geplante Staatsschutzaktion gegen die Gewerkschaften. - Aber über den Aufenthalt meiner Tochter konnten sie mir nicht sagen."
Karl steht am Fenster, nickt und sieht in den Gefängnishof hinunter.
 



 
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