Spuren einer Nadelspitze

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Romana

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Spuren einer Nadelspitze

Alex Brown ist mein Neffe. Er ist Anfang zwanzig, trägt eine auffällige, dunkle Hornbrille und studiert Zoologie. Gestern hat er mir sein Tatoo gezeigt. Es ist ein harmloser kleiner Stern auf seinem rechten Oberarm, der von Weitem wie eine verhunzte Impfnarbe aussieht, so groß wie Annes Narbe, die wirklich von einer Impfung stammt.
Anne ist meine Schwester. Wir lieben uns, waren aber nur ein Mal gemeinsam auf Reisen. Es war 1979, kurz nach Annes Abitur.

Zwei Monate USA! Kaum Geld, alles per Autostop. Heute würde ich mir so etwas nicht mehr zutrauen, aber damals hatten wir nicht die Spur von Angst. Sicher, zu Beginn der Reise war uns etwas mulmig gewesen, aber als wir nach zwei Wochen immer noch heil waren, als unsere wildledernen Brusttaschen immer noch an beigen Schnüren um unsere Hälse hingen, fühlten wir uns sicher und ließen uns im Strom der Ereignisse treiben. Es gab nur eine Regel: Kein Schritt alleine! Wir mussten uns dazu nicht zwingen, denn unsere Interessen deckten sich zu jeder Minute und an jedem Ort. Bis wir nach San Diego kamen.
Das Ganze fing an wie immer, wir lernten gleich ein paar nette Typen kennen, grillten zusammen in der Hike and Bike Area des Zeltplatzes, hatten unseren Spaß, ließen uns aber auf keines der Angebote ein. (1979 waren wir beide noch jung und wahrscheinlich sehr hübsch, denn wo immer wir auftauchten zogen wir schon bald einen ganzen Rattenschwanz an Verehrern hinter uns her.) Wie schon die Wochen vorher verabschiedeten wir uns, als die Angebote dringlicher wurden, verzogen uns in das kleine Dreieckszelt und schliefen bis weit in den nächsten Tag hinein.
Unser harmonisches Zusammenspiel brachte Bob Brown durcheinander. Er war einer von den Engländern, die ihre Zelte neben unserem aufgebaut hatten. Bob Brown war nicht hübsch, er hatte dieses englische, blasse Vierkantgesicht, das keine Sonne verträgt, und er trug eine dicke Hornbrille. Er hatte nichts von dem, was Anne normalerweise an Männern faszinierte – aber Bob Brown war tierlieb. Und er interessierte sich für den San Diego Zoo. Das war ei n Vergnügen, dem ich überhaupt nichts abgewinnen konnte, und ich war froh, dass Anne nun jemanden gefunden hatte, der es mit ihr teilen wollte. Das Ganze schien mir auch relativ ungefährlich, denn, wie gesagt, Bob Brown war nicht ihr Typ.
So kam es, dass ich eines Nachmittags auf mich selbst gestellt war. Was lag näher, als das zu tun, was ich nur ohne Anne tun konnte? Ich machte mich auf den Weg zum berüchtigten Hafen. Es war eine umständliche und lange Busfahrt, aber ich nutzte die Zeit, um mich darauf vorzubereiten. Vor meinem geistigen Auge spielten sich Szenen mit bärtigen Matrosen ab, die aus zwielichtigen Hafenkneipen torkelten und über billige Nutten herfielen, Messer blitzen in der Sonne auf, große Schiffe wurde gelöscht und schwarze Kinder putzten arroganten Schiffsoffizieren die Schuhe.
Als ich endlich am Hafen ankam, spielte sich nichts dergleichen ab. Ein Reisebus entlud gerade eine Horde Japaner, die sich, angeführt von einer hochgeschossenen Blondine, in Richtung Pier machten. Statt der schummrigen Hafenkneipen säumten Touristenläden die Promenade, einige von ihnen boten den gleichen Ramsch feil, der uns schon im Disneyland den Nerv geraubt hatte: Mickey-Mouse-Kappen, überdimensionale Sonnenbrillen im Monroe-Stil, amerikanische Flaggen im Miniformat, zu Spiralen gebogene, neonfarbene Strohhalme, die aus riesigen Colabechern ragten und selbstverständlich überall diese Softeistüten im XXL-Format, deren Anblick alleine schon einen mittleren Brechreiz auslösen konnte. Weit hinten, abseits vom Touristenrummel entdeckte ich ein kleineres Pier, das aber immer noch breit genug war, um ein paar Bretternbuden zu beherbergen. Klar, dass es mich dort hin zog. Hier war zwar immer noch nichts von verruchtem Hafenflair zu entdecken, aber die dort angebotenen Waren schienen nicht ausschließlich für Touristen bestimmt zu sein. Gleich in der ersten Bude entdeckte ich hinter einem Wühltisch mit Batik-T-Shirts ein Regal, in dem sich Chillums und kleine Zangen für Marihuana Zigaretten reihten. Als der Verkäufer meinen interessierten Blick entdeckte, sagte er mit einer geübten Singsang-Stimme „Pot? Magic Mashrooms? All you want! Come in!“ Er grinste süßlich und entblößte dabei einen goldenen Schneidezahn. Nicht, dass ich damals etwas gegen Pot oder Magic Mushrooms gehabt hätte – aber klebrige Verkäufer mit goldenen Schneidezähnen waren nicht so ganz nach meinem Geschmack. Ich wendete mich ab und schlenderte weiter. Aus einer Hamburger Bude wehte eine Duftwolke aus ranzigem Fett und etwas zu gut abgehangenem Fleisch. Ich machte einen Bogen und landete auf der anderen Seite des Piers vor einem Bretterverschlag mit der Aufschrift „Tatoos“. Heute findet man Tatooläden an jeder Ecke, aber damals hatte das Ganze genau den verruchten Touch, den ich suchte.
Im Unterschied zu den anderen Buden war die Tür geschlossen, aber durch das Schaufenster konnte ich einen Mann und eine Frau ausmachen. Sie lag bäuchlings auf einer Pritsche, er stand über sie gebeugt, mit dem Rücken zum Fenster. Seiner Stellung nach zu urteilen, musste er ihre Schultern oder den Rücken bearbeiten. Jetzt hörte ich ein schleifendes Geräusch, es es erinnerte an den Bohrer beim Zahnarzt, nur leiser und nicht ganz so schrill. Dennoch stellten sich mir alle Haare auf, als ich mir vorstellte, er würde mir mit seiner Nadel zu Leibe rücken. Der Frau allerdings schien das nichts auszumachen, sie lag ruhig und entspannt auf der Pritsche, als erhielte sie eine asiatische Massage. Der Mann wirkte angestrengt, auf seinem breiten, durchtrainierten Nacken hatten sich Schweißperlen gebildet und zwischen den Schulterblättern zeichnete sich eine feuchte Bahn ab. Sein rechter Arm war so angespannt, dass ich die Muskelfasern einzeln zählen konnte. Plötzlich richtete er sich auf , legte die Tätowiernadel beiseite und ließ den Arm kreisen. Unter der Achsel konnte ich einen mondförmigen, nassen Halbkreis erkennen, der sich auf dem ärmellosen T-Shirt gebildet hatte. Langsam, beinahe schon schläfrig hob die Frau den Kopf und sagte etwas. Der Mann verneinte mit einer flüchtigen Geste und machte sich dann wieder an die Arbeit. Wahrscheinlich hatte sie ihn gefragt, ob er müde sei, oder ob etwas nicht stimme.
1979 gab es nur wenig Frauen, die sich tätowieren ließen, und ich fragte mich, ob sie eine Nutte war. Oder war sie eine von diesen Emanzen, die sich auf Teufel komm raus männliche Attitüden zulegten? Bis hin zu einer unwiderruflichen Tätowierung? Egal warum sie sich tätowieren ließ und egal welches Motiv sie jahrelang mit sich herumtragen würde – ich bewunderte sie. In diesen kurzen, voyoristischen Minuten war sie für mich der Inbegriff dessen, was ich mir unter dem Mut vorstellte, zu sich selbst zu stehen. Wie wäre es, wenn auch ich mir ein kleines, vielleicht nur unauffälliges Mal verpassen ließe?
Ich betrachtete die Motive im Schaufenster, die auf einem vergilbten Karton gemalt waren und in der Preisklasse zwischen 10 und 100 Dollar lagen – je nach Größe und Anzahl der verwendeten Farben. Die 10-Dollar-Varianten waren angesichts des knappen Urlaubsbudgets gerade noch vertretbar. Neben den üblichen, tatooblauen Motiven wie Anker, Herz oder Pistole gab es ein paar kleinere in Metallicfarben, allesamt ziemlich banal. Winzige Schmetterlinge, Herzen, Erdbeeren ... und dann war da noch etwas kleines, rundes Rotes, ich musste zwei Mal hinschauen, bis ich eine Tomate ausmachen konnte. Eine Tomate? Auf der Schulter? Über dem Bauchnabel? Auf der Pobacke? Wer sollte sich eine Tomate irgendwohin tätowieren lassen? War das ein schlechter Witz – oder waren die Amerikaner wirklich so geschmacklos? Die Erdbeere war ja schon ziemlich an der Grenze – aber eine Tomate? Ich beschloss, die Sache zu kippen und spähte wieder ins Innere des Ladens. Die Frau war gerade aufgestanden und verabschiedete sich mit einer Umarmung. Kurz darauf verließ sie den Laden, begleitet vom altmodischen Bimmeln einer Türglocke.
Jetzt erst sah ich das Gesicht des Mannes. Er war ein Indianer, oder wenigstens ein Mischling, der durch seine Stoppelfrisur von hinten wie ein GI gewirkt hatte. Als er die Tür hinter der Frau schloss – es klingelte wieder – streifte er mich mit einem kurzen, taxierenden Blick und verschwand dann irgendwo weit hinten im Laden. Kurz darauf kam er mit einer Flasche Desinfektionsmittel zurück und machte sich an dem kleinen Tisch zu schaffen, auf dem die Instrumente lagen. Der Tisch war auf einen Dreharm befestigt - und wieder erinnerte mich das Ganze an eine Zahnarztpraxis, auch wenn alles etwas schmuddeliger war. Während er die Instrumente desinfizierte, beugte ich mich etwas weiter vor, ich wollte einen Blick auf die Tätowiernadeln erhaschen. Möglicherweise hatte er meinen Blick gespürt, vielleicht hatte ich mich aber einfach nur zu weit nach vorne gebeugt, jedenfalls hielt er inne und starrte mich an. Es war ein verärgerter Blick, einer, der sagte: Verzieh dich, du Touristenschlampe, wir sind hier nicht im Zoo!
Ich fühlte mich ertappt. Am liebsten hätte ich mich einfach umgedreht, wäre nach Hause in unser kleines Zelt gefahren und dort in den Schlafsack geschlüpft. Aber ich hatte das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein und etwas gut machen zu müssen. Unsicher, aber dennoch so bestimmt wie möglich, öffnete ich die Ladentür. Es ertönte das vertraute Klingeln und ich hörte mich „Hallo“ auf Englisch sagen - noch nie war mir diese Sprache so fremd.
Der Indianer hatte plötzlich etwas mehr Respekt vor mir, denn der verächtliche Zug um seinen Mund entschärfte sich, als er ein „Yeah?“ herauspresste.
„I want a tatoo“ sagte ich mit stark deutschem Akzent, den ich eigentlich schon abgelegt hatte, der aber jetzt wieder durchbrach.
„Which one?“
Nach einer kurzen, panischen Unentschlossenheit hörte ich mich „Tomatoe“ sagen. Meine Stimme musste sehr leise geklungen haben, denn er sah mich zweifelnd an.
„The tomatoe“, wiederholte ich. „I want the tomatoe“. Mein Akzent war nicht wesentlich besser geworden.
„Sure?“
„Yeah! For sure!“ Jetzt hatte ich wieder den kalifornischen Tonfall drauf.
„Just a moment please“ sagte er und deutete auf einen schlampig schwarz gestrichenen Bürostuhl in einer Ecke, die von draußen nicht einsehbar gewesen war. In Greifnähe stand ein Beistelltisch mit zerlesenen Comicheften, allesamt aus der Schwulenszene mit abscheulichen Akten in noch abscheulicherer, realitätsnaher Darstellung. (Noch heute erinnere ich mich an einen Penis, der quergestellt fast das ganze Comicbild ausfüllte und an den sich ein Hoden klammerte. Der Zeichner hatte jedes Haar einzeln gestaltet, so penibel wie Dürer das Fell des Hasen – nur spärlicher, versteht sich. Es musste Stunden gedauert haben, diesen faltigen Hoden mit Haaren zu bestücken!)
Jetzt hatte ich mein verruchtes Flair, jetzt hatte ich das, was ich suchte – aber mir war überhaupt nicht wohl dabei. Jetzt sehnte ich mich nach den Affen im San Diego Zoo, nach den Delphinen, die durch bunte Hula-Hup-Reifen sprangen und dabei die Wassertropfen in der Sonne glitzern ließen.
Hier war die Sonne nur zu ahnen, ein kleiner Streifen fiel auf die Liege, das Laken war noch zerknüllt, aber sauber, wie mir schien. Der Indianer putzte seine Instrumente und würdigte mich keines Blickes. Jetzt hätte ich noch eine Chance gehabt, einfach aufzustehen, ein schlampiges „Bye“ zu hauchen und zu verschwinden. Er würde mir nicht nachrennen. Vielleicht wäre er sogar froh gewesen. Vielleicht war auch ihm die Vorstellung zuwider, einer Touristin eine Tomate in die Haut zu kratzen.
„Where?“ fragte er mich plötzlich.
Ich schreckte hoch, stieß dabei den Beistelltisch um und kreuzte verzweifelt die Arme über der Brust.
„Both titts?“ fragte er ungläubig.
Ich schüttelte den Kopf und rang nach Worten, ich wollte sagen: ‚Nein, nicht die Brüste, nicht die Brüste!` Aber auf Englisch fiel mir nichts ein außer ‚No titts’ – und genau diesen vulgären Ausdruck wollte ich nicht in den Mund nehmen, nicht in seiner Gegenwart.
„Okay, just one“, sagte er und strich das Laken glatt. In seinem Gesicht konnte ich so etwas wie Vorfreude entdecken, er verzog den Mund als wolle er lächeln. „Yeah, lets do it!“, sagte er wie einer dieser Comic-Helden und zwängte seine Hände in hauchdünne Latexhandschuhe. Als er damit fertig war, deutete er auf die Liege. Jetzt lächelte er wirklich, es war dieses freundliche Zahnarztlächeln vor dem Finale.
Ich blieb stehen und wischte meine feuchten Hände an der Hose ab.
„Your first tatoo?“
Ich nickte.
„Don´t panic!“
Ich schüttelte den Kopf und blieb, wo ich war.
Er rollte mit den Augen, sagte „Oh god“, stemmte seine Arme in die Hüften und sah mich an. Er verzog keine Mine, er guckte einfach nur und wartete.
Ich war am Zug, aber ich rührte mich nicht. So musste sich ein Affe fühlen, der zu feige ist, die Hand nach der Banane auszustrecken. In diesem Augenblick beschloss ich, das Indianerreservoir in Arizona auszulassen, auch wenn es für Anne und mich der krönende Abschluss unserer Reise hätte werden sollen. Ich beschloss auch, nie mehr wieder durch ein Schaufenster ins Innere eines Ladens zu blicken – aber all das brachte mich keinen Schritt weiter.
Er wartete. Geduldig. Mit einem zusehends spöttischerem Lächeln.
Ich hasste ihn und ging zur Liege. Zuerst wollte ich mich auf den Bauch legen, so wie die Frau vor mir. Aber dann fasste ich allen Mut zusammen, legte mich auf den Rücken und zog mir das T-Shirt über den Kopf. Ich wollte sein zufriedenes Lächeln nicht sehen, wenn er mich mit Nadelstichen malträtieren würde; es sollte schnell über die Bühne gehen. Und so geschah es auch. Waren es zwanzig Minuten oder eine Stunde? Keine Ahnung. Die Schmerzen gingen unter in dem erhebenden Gefühl, endlich Mut zu zeigen. Ich wollte ihm dieses selbstgefällige Grinsen heimzahlen, ich wollte ihm beweisen, dass er sich getäuscht hatte, zumindest dieses eine Mal. Ich wollte ihm beweisen, dass ich nicht das war, wofür er mich hielt. Ich wollte ihm zeigen, dass ich durchaus in der Lage war, eine Banane zu ergreifen und sie einfach aufzufressen. Mit der jungen Haut meiner rechten Brust wollte ich ihm zeigen, dass er vergänglich ist, dass er in meinem Leben nichts zu suchen hatte, dass er mir nur ein 10-Dollar-Tatoo verpassen sollte, nichts weiter sonst. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel und das Klingeln ertönte, fühlte ich mich frei. Ich hatte gewonnen, war Sieger und Besiegte zugleich, ein unendlich erhebendes Gefühl.

Heute ist die Haut meiner Brüste nicht mehr jung, sie schlägt erste Falten. Aber immer noch lacht über der rechten Brustwarze eine knallrote Tomate. Ich betrachte sie oft im Spiegel und erinnere mich an jenes Gefühl, über den Dingen zu stehen. Diesem Gefühl ist es egal, wer siegt. Und endlich, mehr als zwanzig Jahre später, konnte ich jemandem eine Ahnung davon geben.
Nachdem mir Alex Brown seinen kleinen Stern gezeigt hatte, knöpfte ich die Bluse auf und entblößte mein Tatoo. Er musste sich zunächst überwinden, die alternde Brust seiner Tante zu begutachten. Doch dann blitzen seine Augen auf. „Cool“, sagte er. „Echt cool!“
 
H

HFleiss

Gast
Hab mich köstlich amüsiert. Ja, so kann man über eine Reise schreiben! Vielleicht ist der Vorspann ein bisschen zu lang?
Hanna
 

Romana

Mitglied
Hall Hanna,

erst mal danke, dass du dir Zeit für meine Geschichte genommen hast. Ob der Einstieg zu lang ist, werde ich prüfen. Danke jedenfalls für die Anregung.

Romana
 

Romana

Mitglied
Hallo Bonanza,

hast du einen Vorschlag? Mir fallen nur so "uanppetitliche" Bilder wie "faltig", hängend" etc. ein.

Romana
 



 
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