Stadtlandfluss

3,00 Stern(e) 1 Stimme

Lesemaus

Mitglied
“Nächste Woche muss ich nach München”, verkündete der Vater beiläufig zwischen zwei Bissen Kesselfleisch, das er in Senf stippte und zu Graubrot aß.
“Grüß Beckenbauer von mir!”, lachte der Metzger, dessen Arme bis zu den Ellbogen im Hackfleisch steckten.
Karla löffelte ungerührt ihre Wurstsuppe mit selbstgemachten Nudeln weiter, wegen der sie jedes Jahr wieder zum Schlachten zu den Großeltern fuhr. Stets nach einem erbitterten Kampf mit ihren jüngeren Geschwistern, die auch mit wollten. Für Karla bedeutete das Schlachten nicht nur lukullische Genüsse und lärmenden Trubel; seit ein paar Jahren musste sie den Frauen zu Hand gehen. Am Abend wurden alle Türen und Verkleidungen im Flur, in dem das Schwein zu Wurst verarbeitet worden war, mit heißer Seifenlauge vom Fett befreit. Der Inhalt des Kessels, in dem die Brühe zusammen mit Blut- und Leberwurst sowie Bauchstücken den ganzen Tag geköchelt hatte, wurde geleert und in Eimer gefüllt. In Milchkannen trug Karla dann die Suppe zu den Nachbarn und anderen Bekannten im Dorf. Manchen brachte sie auch frische Würste und Gehacktes.

Wenn der Kessel leer war, musste er gründlich geschrubbt werden. In ihm würde in Kürze statt Wurstsuppe die Wäsche der Großeltern in der Seifenlauge vor sich hin kochen, von der Großmutter ab und zu mit einem langen Holzstock umgerührt.

Zum Glück kam sie in diesem Jahr um das Abspülen der Einweckgläser herum. Sie bekam seit kurzem ihre Periode und hatte auch im Moment wieder “Besuch”, wie ihre Klassenkameradinnen geheimnistuerisch dieses monatliche Übel zu nennen pflegten. Auch wenn Karla nicht verstand, warum, ließ sie die Großmutter nicht in die Nähe der Gläser. “Die gehen wieder auf”, sagte sie nur und Karla suchte vergeblich nach einem Zusammenhang zwischen ihrer Monatsblutung und dem Wiederaufgehen der Gläser.

Am unangenehmsten waren aber die derben Scherze der Männer. Erst am Morgen hatte sie der rotgesichtige Fleischer zum Nachbarn geschickt, um den Kümmelspalter zu holen. Als sie mit leeren Händen und beschämt gesenktem Kopf wieder zur Tür herein gekommen war, hatte das Lachen der Männer fast den Raum gesprengt. Zum Glück war es ihm bisher noch nicht gelungen, ihr mit seinem blutbeschmierten Finger an die Wange einen Strich zu malen. “Komm, Mädchen, ich will dir eine Wurst anmessen” hatte er im letzten Jahr mit dröhnender Stimme verkündet, als sie, nichts ahnend hinter seinem breiten Rücken vorbeischlüpfen wollte. Schlimm genug, sehen zu müssen, wie die Großmutter im Eimer mit dem Blut rührte, damit es nicht gerann. Oder wie sie das Hirn mit Eiern briet, um es gierig zu verzehren. Auch den Ringelschwanz hatte man ihr in diesem Jahr noch nicht mit der Sicherheitsnadel an die Kleidung heften können.

Sicher war auch die München-Reise des Vaters ein Witz, den sie mit ihren dreizehn Jahren noch nicht verstand. München. Wollte der Vater die Tante besuchen, die dort schon lebte, bevor man die Grenzen dicht gemacht hatte? Karla beschloss, sich nicht durch Nachfragen eine Blöße zu geben. Den Gefallen würde sie den Männern nicht tun. Je später es wurde, um so lauter und ausgelassener tönten die Stimmen durch die Wohnung. Die Großmutter hatte bereits die dritte Flasche Nordhäuser Doppelkorn aus der Speisekammer geholt.

München. Eine ihrer Brieffreundinnen war auch von dort gewesen. Ihre Adresse hatte sie von Radio Luxemburg. Jeden Samstag Abend kroch sie fast in das kleine Blaupunkt-Radio hinein, das der Opa, der dort am Band stand, bei seinem letzten Besuch mitgebracht hatte, um aus dem unverständlichen Wortbrei die Adressen herauszufiltern. Manchmal gelang ihr dies und manchmal schrieben die Angeschriebenen zurück. Englisch war nicht ihr Ding. In den Stunden, die sie mit dem stotternden und spuckenden Lehrer, der noch dazu einen Buckel hatte, verbringen mussten, tat Karla so ziemlich alles, außer Englisch lernen. Sie las unter der Bank Liebesromane, schrieb ihre eigenen Geschichten in kleine blaue Vokabelhefte, die dann wiederum unter den Bänken ihrer Mitschüler kursierten, strickte oder spielte U-Boot-versenken mit ihrer Banknachbarin. Entsprechend waren ihre Kenntnisse dieser zweiten Fremdsprache nach Russisch. In einem ihrer Briefe an ein Mädchen aus London hatte sie geschrieben “I have green ice.” Als ihr später klar wurde, was sie da verzapft hatte, traute sie sich nicht, weiterhin der englischen Brieffreundin zu schreiben. Sie hatte ja noch andere. Sie war international aufgestellt. Die obligatorische Freundin in der Sowjetunion, mit der sie Stammbilder tauschte, auf denen Blumenmotive oder süßliche Kleinkinder prangten und deren Päckchen rote Halstücher und Anstecker mit Sternen sowie überzuckerte Bonbons enthielten, war ihr und allen anderen Schülern vom Russischlehrer vermittelt worden. Dieser Kontakt war sozusagen Ausdruck der vielgepriesenen deutsch-sowjetischen Freundschaft. Eben Herzenssache. Viel mehr interessierte sich Karla aber für Jugendliche, die außerhalb der Warschauer-Pakt-Staaten zu Hause waren. Denen wollte sie ihre sicherlich vorhandenen Vorurteile gegenüber der DDR nehmen. Hier sah sie ihre missionarische Aufgabe. Da gab es Heinrich in Österreich, der ihr Päckchen schickte mit duftendem Kaffee, um den sie ihr Vater beneidete und den sie ihm schließlich abtrat, mit winzigem Silberbesteck, das sie stolz an einer Kette um den Hals trug, oder mit einem grünen Herz aus Edelserpentin, zu dem sie versehentlich immer “Terpentin” sagte. Und auch von Samantha aus Belgien erreichten sie Briefe oder von Jean-Paul aus Paris.

Diese Vorfreude, wenn sie den Weg von der Schule durch die enge Gasse mit den ausgewaschenen Fahrspuren ging, sich ausmalend, von wem an diesem Tag ein Brief auf der Treppe liegen könnte. Manchmal hielt sie es nicht bis zum Schulende aus, sondern rannte in der großen Pause nach Hause, um voll freudiger Erregung die postalischen Grüße aus der großen weiten Welt in Händen halten zu können. Die Briefmarke allein versetzte Karla bereits in Entzücken. Bevor sie den Brief öffnete, wog sie ihn in ihrer Hand. War er dicker als normal? Was befand sich noch darin? Vielleicht einige jener bunten Fotos, auf denen Heinrich an seinem Moped lehnte oder beim Tanzstundenabschlussball im Samtanzug und mit Fliege seine Partnerin in den Armen hielt?

Manchmal zögerte sie die Enttäuschung oder die Freude aber auch hinaus, indem sie sich auf dem Heimweg viel Zeit ließ. Noch einen Umweg am Teich vorbei oder an der Hütte, in der sich immer die großen Jungs trafen. (Ob wieder eines jener länglichen durchsichtigen Gummidinger drin lag, mit denen sich die Jungs im Spaß bewarfen?)

Wie der weitere Tag verlief, hing davon ab, ob sie Post hatte. Im Gegensatz zu Olga aus Moskau, die immer auf feinem Seidenpapier schrieb, benutzte Heinrich oder Jean-Paul dickes, oft farbiges Briefpapier. Briefpapier war in der DDR Mangelware. Deshalb stellte es Karla selbst her, indem sie weiße Blätter durch eine Wasserschüssel zog, in die sie einige Spritzer rote oder blaue Tusche gegeben hatte. So erhielt sie auf dem Papier farbige Schlieren, wolkige Gebilde, die mit viel Phantasie und einigen Strichen mit der Tuschefeder zu Tieren und anderen Gestalten wurden.

Wie dumm und unwissend waren sie doch alle! Heinrich lud sie ein und wunderte sich, als sie schrieb, sie könne nicht kommen, da es da diese Grenze gebe, diesen antifaschistischen Schutzwall. Er konnte es nicht fassen! Dabei war sein Vater Offizier. Jean-Paul schickte Ansichtskarten mit dem Eifelturm und dieser weißen Zuckerbäckerkirche mit dem unaussprechlichen Namen. Die Karten heftete sie zusammen mit denen ihrer Verwandten, die jene vom Skifahren in St. Moritz oder dem Sommerurlaub an der jugoslawischen Adria schickten, rund um ihren Spiegel. Die schöne bunte Welt. Die ihr verschlossen war. Aber das machte nichts. Dafür würde Karla niemals von Sorgen um ihren Arbeitsplatz geplagt werden. Dafür bekam sie jeden Tag in der Schulküche ein billiges warmes Mittagessen und in der Frühstückspause eine Flasche Milch. Die bekam sie sogar umsonst, weil sie noch drei Geschwister hatte. Im Westen, so hatte ihnen der Lehrer in Staatsbürgerkunde erzählt, müssten die Eltern Geld zahlen, damit ihre Kinder auf die Schule gehen oder studieren konnten. Und natürlich konnten sich das nicht alle leisten. Dann schon lieber auf das Reisen verzichten, am Balaton war es auch schön. Nicht, dass Karla schon einmal in Ungarn oder einem anderen Land gewesen wäre. Dafür reichte das Geld der Eltern nicht. Wenn die Ferienzeit kam, wurden mindestens zwei der Kinder in eines der Ferienlager gesteckt, die die Betriebe der Eltern an der Ostsee oder im Thüringer Wald unterhielten. Mit den restlichen zwei Kindern fuhr man dann zelten oder zu Verwandten in die Gegend um Berlin. Was nutzte es den Menschen im Westen, dass sie überallhin reisen durften, wenn sie es sich nicht leisten konnten? So diskutierte Karla auch immer mit ihrer Tante, wenn diese wieder einmal das Loblieb auf die Freiheit sang und abwertend über “die Zone” redete.

Trotzdem fühlte sich Karla immer für alle Erschwernisse und Schikanen, denen ihre Verwandten in der DDR ausgesetzt waren, verantwortlich: Zwangsumtausch, leere Kaufhäuser, monotone Schaufenster, zu wenig Inter-Tankstellen und schlechte Straßen. Wann würde man endlich auch im täglichen Leben etwas von der Überlegenheit des Sozialismus sehen?

Wenn sie Essen gehen wollten, war es ihr peinlich, dass sie ewig vor einem halbleeren Restaurant stehen mussten, den Platzanweisern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Noch peinlicher aber war es, wenn einige Westdeutsche mittels eines Fünf-Mark-Stückes, das in die Tasche des Platzanweisers wanderte, an der Schlange vorbei und direkt in den Gastraum hineinmarschierten.

Jetzt war es doch passiert! Der Fleischer hatte sich unbemerkt an die träumende Karla herangeschlichen und ihr mit seinem Daumen einen blutigen Abdruck auf die Wange appliziert. Karla kreischte. Wütend ging sie auf den dicken Mann los, auf dessen Gummischürze sich allerhand Undefinierbares zu einem wilden Aquarell mischte. Die Männer lachten laut. Die Großmutter rief zum Kaffee.

München. Karla las es mit eigenen Augen. Tatsächlich. Hatte der Vater doch nicht gescherzt. Dieser kleine Ort, durch den jetzt der Bus fuhr, hieß genauso wie die große Stadt, in der ihre Lieblingstante lebte. Die ihren Besuch angekündigt hatte. Schon in zwei Tagen würde sie kommen. Mit ihrem Mann, in den Karla verliebt war, seit er ihr die ersten Tanzschritte beigebracht hatte. Stand es so schlecht um den Vater?

Das große Gebäude der Zentralklinik für Herz- und Lungenkrankheiten erhob sich weiß auf dem bewaldeten Hügel. Der Vater lag in der Sophienheilstätte auf dem Emskopf, einem kleinen Hügel unweit von München, einem Ortsteil von Bad Berka. Karla half ihrer Mutter, die Taschen mit Obst, Säften und Bienstichkuchen den Waldweg hügelaufwärts zu tragen.

Karla war erschrocken, als sie den Vater sah. Sein Gesicht war grau und eingefallen. Er machte sich nicht, wie sonst, mit Heißhunger über den mitgebrachten Kuchen her, sondern schien nur der Mutter zuliebe überhaupt davon zu essen.

Tante Marianne hatte „Weißwürscht“ mitgebracht, eine Spezialität aus Bayern, wie sie sagte. Dazu einen süßen körnigen Senf, den Karla sogleich gegen den gewohnten Born-Senf tauschte. ‚Hendlmeier‘ stand auf dem Senfglas. Hendl, das wusste Karla, waren Goldbroiler. Die weißen Dinger ließen sich schlecht schneiden, die Haut war wie Gummi und erinnerte Karla an die Hüllen in der Hütte der Großen. Der Onkel machte vor, wie man eine Weißwurst aß: er nahm sie in die Hand und stippte sie in den Senf. Dann steckte er sie in den Mund, biss ein Stück ab und als er sie wieder herauszog, hing ein Teil der Pelle schlaff und leer herunter. „Ihr müsst die Wurst herauszutschen“, wies er Karla und die Geschwister an. Was für eine komische Art zu essen, dachte Karla und sehnte sich nach einer echten Thüringer Rostbratwurst. Dunkelbraun und knusprig. Nicht so fad im Geschmack wie die bayerische Spezialität. Da konnte man mal wieder sehen, dass nicht alles im Westen besser war als hier bei ihnen.

Stadt Land Fluss. Dieses Spiel wurde immer gespielt, wenn Tante Marianne und Onkel Olaf kamen. Karla liebte das Spiel. Sie hatte die Blätter schon vorbereitet. Spalten und Linien mit dem Lineal akkurat gezogen. Sie war im Vorteil. Denn sie kannte viele Flüsse und Orte, die Tante und Onkel nicht geläufig waren. Marianne war noch ein Kind gewesen, als sie mit ihren Eltern in den Westen gegangen war. Karla liebte so schwere Buchstaben wie das „V“, Karla hatte „Vockerode“, dort stand ein großes Kraftwerk. Das wusste sie aus dem Erdkundeunterricht. Erdkunde war ihr Lieblingsfach. Landkarten faszinierten sie. Stundenlang konnte sie zu Hause über ihrem Atlas brüten. Karla stoppte absichtlich bei ihren Lieblingsbuchstaben, den schwierigen, wenn sie mit zählen an der Reihe war. Sie hatte auch „Zinnwald“. Und Flüsse und Berge, die Marianne und Olaf nicht kannten. Denn Karla kannte sich auch gut im Westteil Deutschlands aus. Jedenfalls theoretisch. Karla gewann. Wie immer.

Danach zupfte ihr die Tante die Augenbrauen. „Wie sieht das denn aus? Die wachsen dir ja in die Augen hinein!“
Es tat weh. Es tat höllisch weh. Aber schließlich wollte sie ja eine „junge Dame“ werden. Dazu sollte auch das Buch dienen, das ihr Marianne als Geschenk mitgebracht hatte. „Teenager Einmaleins“. Karla las „Tee-Nager“ und wunderte sich. Sie kannte das englische Wort nicht. Hätte es sicher auch nicht gekannt, wenn sie im Englisch-Unterricht besser aufgepasst hätte. Derartige Themen wurden nicht behandelt.

Als Marianne und Olaf zusammen mit der Mutter am nächsten Tag im großen BMW nach München fuhren, um den Vater zu besuchen, wollte Karla nicht mit. Auch, wenn sie gern mit dem Westauto gefahren wäre. Immerhin bestand die Möglichkeit, von einer ihrer Klassenkameradinnen gesehen und beneidet zu werden. Der Onkel war mit der Tante nach München gezogen, weil er dort eine Arbeit bei BMW gefunden hatte. BMW - Brett mit Warzen. Das riefen ihr immer die Jungs hinterher, weil sie als einzige aus der Klasse noch keinen Busen zu verzeichnen hatte. Die Urgroßmutter hatte sie unlängst versucht zu trösten, indem sie ihr verriet, dass sie zeitlebens noch nie einen „Klüschenheber“ gebraucht habe. „Klüschen“, das waren kleine Klöße und wegen der Urgroßmutter waren ihre Eltern damals, im August 61, aus dem Westen, wo sie die zwei Jahre zuvor übergesiedelte Restfamilie des Vaters besucht hatten, wieder zurück gekehrt. Der Schaffner im Interzonenzug hatte sie ganz erstaunt gefragt, ob sie sicher seien, dass sie in die richtige Richtung führen. Das hatte ihr der Vater immer wieder erzählt. Und nun lag er dort, in diesem anderen München, und Karla wollte ihn nicht sehen. Sie erbot sich, auf die jüngeren Geschwister aufzupassen. Der Anblick des Vaters ängstigte sie.

Noch nie hatte Karla ihre Mutter weinen gesehen. Sie standen auf dem langen Flur, der nach Desinfektionsmittel roch, und eine Schwester drückte ihnen die Reisetasche des Vaters in die Hand.
‚Steht jetzt‘, so fragte sich Karla, noch bevor die Tatsache, dass sie nun vaterlos war, irgendwelche Gefühle in ihr hatte auslösen können, ‘steht jetzt im Totenschein bei Sterbeort: München?‘
 

Lio

Mitglied
Hallo Lesemaus,

ich habe deine Geschichte zwei Mal durchgelesen, dabei sind mir folgende Sachen aufgefallen:

zunächst einmal fand ich deine hintergründigen Informationen über das Leben in der DDR sehr spannend, vor allem, weil man in der heutigen Presse ja wenig diferenzierte Informationen über die damalige Zeit findet. Ich glaube Karla, das sie in der DDR aufwächst, denn ihre Bemerkungen sind sachkundig und stimmig.

Mit ihrem Charakter habe ich dagegen Probleme. Ich will damit sagen, sie erscheint mir nicht lebendig. Am Anfang ist sie eingeschüchtert, an späterer Stelle wird gesagt, dass sie sich mit der Tante Wortgefechte liefert. Dann ist sie überzeugte Sozialistin, aber freut sich doch über die Dinge, die sie von ihren Brieffreunden bekommt. Wenn sie die Geographie so fasziniert, dann will sie doch alle Orte sehen und nicht nur nach Ungarn fahren. Ich glaube ihr nicht, wenn sie behauptet, sie wolle die Welt nicht kennenlernen.

Dann scheinst du das gleiche Problem wie ich zu haben, nämlich zu komplizierte Sätze zu machen. Jetzt kann man darüber natürlich geteilter Meinung sein und sagen, dass man nicht modern schreiben will (denn je kürzer, desto moderner). Thomas Mann hat das ja schließlich auch nicht gemacht, aber ich finde ihn auch ermüdend, deshalb habe ich mich jetzt persönlich an verschiedenen Stellen schwer mit deinen langen Sätzen getan (z.B. erster oder letzter Satz deiner Geschichte).

Einen letzten Punkt will ich noch ansprechen, dann höre ich auf zu nörgeln. Ich habe bis jetzt immer noch nicht verstanden, um was es bei deinem Text eigentlich geht ... Geht es um den Tod des Vaters oder geht es um ein Mädchen aus der DDR, das sich die Welt über Brieffreundschaften nach Hause holt. Dann ist da noch die Schlachtung des Schweins, interessant klar, aber was hat diese jetzt wiederum für eine Funktion innerhalb der Geschichte? Für mich stehen all diese Themen in keinem Zusammenhang, vielleicht habe ich mich auch deshalb nicht darüber gewundert, dass Karla den Tod ihres Vaters am Ende der Geschichte so teilnahmslos hinnimmt.

Hoffentlich bringt dir meine Kritik überhaupt etwas ...

Viele Grüße!

Lio
 

Lesemaus

Mitglied
Hallo liebe Lio, vielen Dank für deine Kritik.

Zunächst einmal freut es mich, dass die Infos in der Geschichte für dich von Interesse waren. Sie stammen tatsächlich alle aus meiner eigenen Erinnerung, denn ich habe bis 1984 in der DDR gelebt.

Vielleicht noch kurz zur Entstehung der Geschichte. Es war mein Beitrag zum letzten Münchner-Wettbewerb, mit dem ich sogar in die Endrunde gekommen bin. Das Thema war "Müchen" und da ich die bayerische Stadt kaum kenne,habe ich mich an jenen kleinen Thüringer Ort erinnert.

Nun musste aber eine Handlung her, in der dieser Ort vorkam. Da kam nur eine Krankheit in Frage wegen der Heilstätte dort. Und so kam ich auf das Schlachtfest, bei dem der Vater diese Information als Witz verpackt fallen lässt, so als nehme er an, die Anwesenden glaubten, es handele sich eben um das andere München. Sicher hätte ich die Schilderungen des Schlachttages kürzen können, da es eigentlich nur der Atmosphäre dient und nicht wirklich der eigentlichen Handlung. Ich bin da leider oft ein wenig selbstverliebt und schieße übers Ziel hinaus.

Was die Ambivalenz der Prota angeht, so kann ich mich tatsächlich erinnern, dass ich einerseits eine überzeugte Sozialistin war, andererseits aber - und da kann man auch gut den Brechtschen Spruch vom "Fressen" und der "Moral" drauf anwenden, nichts gegen Geschenke von Westverwandten und -bekannten einzuwenden hatte. Wenn mans recht bedenkt, war ich käuflich, denn wäre ich konsequent gewesen, hätte ich derartige schnöde Dinge zurückweisen müssen.

Und was ihren Wunsch, die Welt zu sehen angeht, der war da, stand aber, wie du richtig bemerkt hast, im Gegensatz zu ihren sonstigen Bekundungen. Eben das war das Typische, das schizophrene, der DDR-Sozialisation. Du hast im Prinzip immer 2 Meinungen gehabt: eine für die Schule, die Funktionäre etc. und eine für dich, die Familie, die Freunde usw.

Schade, dass dir meine Prota nicht lebendig genug ist. Wüsste jetzt auch nicht, wie ich das ändern sollte.

Und die langen Sätze, nun ja, es stimmt, ich liebe sie. Aber weil ich versuche, die Länge der Sätze zu variieren, auch oft Einwortsätze verwende, denke ich, man kann damit leben. Der Text ist trotzdem rhythmisch und nicht eintönig. Aber vielleicht empfinden das andere auch wie du. Mal sehen, ob sich noch jemand meldet. Würde mich freuen.

Nochmal danke für deine MÜhe.

Ach, ja, das Thema sollte schon diese Ost-West-Sache sein, wie ein junges Mädchen diese Ambivalenzen erlebt, wie sie sich in diesem Land einrichtet. Vor dem Vordergrund der Krankheit des Vaters.

LG Lesemaus
 



 
Oben Unten