Stadtozean

Rantanplan

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Es ist ein Tag, der in den schillerndsten Frühlingssonnenstrahlen leuchtet. Allsonntäglich sitzt sie auf ihrer Lieblingscafélichtung inmitten des Großstadtgewimmels. Es ist der richtige, der ideale Tag um sich einem Vorhaben zu widmen, auf das sie sich schon seit längerem vorbereitet hat. Sie lässt von ihrem Chai Latte, den sie in den vergangenen Minuten schwindelig gerührt hat, ab, schließt kurz die Augen und atmet einmal tief ein und aus. Dann öffnet sie die Augen und hebt langsam ihr Kinn. Ihre Augen nehmen zuerst kurz die Zierpflanzenranken zu ihrer Rechten in ihren Fokus, dann, einen Augenblick später, verkleinern sich ihre Pupillen und konzentrieren sich auf das Gemälde an der dahinter liegenden Wand. Edward Hoppers „Nighthawks“ bzw. „Nachtschwärmer“ zogen sie nun schon seit Wochen in ihren Bann.

Schon unzählige Male hatte sie sich daran versucht den innersten Kern, das Wesen des Gemäldes, in Form von Buchstaben aufs Papier fließen zu lassen. Doch bisher war ihr der visuelle Transfer vom gemalten Bild ins geschriebene Wort, gelinde gesagt, misslungen. Wieder und wieder hatte sie ihre Anfänge zusammengeknüllt oder zerrissen. Schließlich hatte sie sich mit anderen Schreibaufgaben, anderen Themen, abgelenkt. Doch nebenbei hatte sie Recherchen betrieben und sich von ihrer Freundin Julia, die Studentin der Kunstgeschichte war, Informationen über das Gemälde besorgen lassen. Sie hatte Bilder von New York aus den 40ern studiert, hatte jede Menge amerikanischer Schwarzweißfilme angeschaut und alles über diese Zeit gelesen, was sie in die Finger bekommen konnte.

Heute ist es an der Zeit, den Vorbereitungen Taten folgen zu lassen. In Gedanken geht sie noch einmal die wichtigsten Fakten durch, die sie im Laufe der Zeit zusammengetragen hat. Dann angelt sie sich mit ihrem Löffel den auf der Untertasse liegenden Amarettino und setzt ihn sanft auf dem sich vor ihr auftürmenden Milchschaumberg ab. Sie lehnt sich zurück, lässt ihre Gedanken treiben und taucht gemeinsam mit dem italienischen Kleinstgebäck ganz langsam, ganz sacht, ein in die lebendig werdende Szenerie der vierziger Jahre.

Sie lehnt, in einen farblosen Trenchcoat gekleidet, lässig an einer Straßenlaterne und nimmt, zusammen mit dem Rauch einer filterlosen Marlboro, die Atmosphäre der Stadt in sich auf. Staatliche Verdunklungsmaßnahmen, zum Schutz vor feindlichen Angriffen, haben New York in eine allumfassende tiefe Dunkelheit getaucht. Die Stadt ist in eine jahreszeitenlose Kälte, eine farblose Ohnmacht gefallen. Ein einziges, menschenleeres, grau-braunes Großstadtmeer aus Fassaden und Ladenfronten. Die Tristesse kriecht aus jedem noch so kleinen Winkel. Der große Platz, Mittelpunkt des Nichtgeschehens, ist genau wie die vorherrschende Stimmung sauber grau, kalt und leer.

Hinein in die eintönige Aufgeräumtheit des amerikanischen Stadtozeans schwebt plötzlich, in einem urbanen Zaubertrick, von oben herab, eine in einem perfekten Oval geformte Panoramaglasfront ins Bild hinein. Einem überdimensionalem, rundum verglasten Aquarium gleich sinkt der amerikanische Diner ins Grau hinein, bis er schließlich – mittlerweile zwei Drittel des Bildes einnehmend – in exponierter Lage auf dem Beton des Meeresgrundes liegen bleibt. Die Leuchtstofflampen tauchen das Nachtcafé in eine Ruhe ausstrahlende, temperaturlose Kunstlichtatmosphäre. Entlang des Fensterbogens zieht sich ein in einem perfekten geometrischen Lichtoval geformter Lichtbogen ausweglos über den leeren Boden der Straßenecke.

Die umlaufende Bar im Caféinneren wirkt wie eine spartanisch eingerichtete Filmkulisse inmitten einer von Hopper inszenierten Leinwandszene. Statistenpärchen von Salz- und Pfefferstreuern versuchen, gemeinsam mit einzelnen Caférequisiten, die Spärlichkeit der Inneneinrichtung zu überspielen. In einer Perspektive der Perspektivlosigkeit sitzen zwei stereotype vierziger Jahre Anzüge zusammen mit einem attraktiven roten Abendkleid an der Bar. Sie wirken wie Protagonisten eines still movie, gestrandet auf einer einsamen Lichtinsel. Wie isolierte, einsame Fische, die sich gefangen in der Depression ihrer Epoche im Stadtozean treiben lassen. Jeder ist für sich, distanziert von denen, die ihm nicht nahe stehen. Sie alle schauen an der menschenlosen Straße vorbei ins Nichts, hängen ihren Gedanken nach. Hinter den Tresen bückt sich eine weiße, senil servile Kellneruniform zeitlupenhaft nach dem Nichtvorhandensein.
 



 
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