Steinzeit heute

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

HajoBe

Mitglied
Ich begegnete dem Fremden in unserer Stadt vor langer Zeit zum ersten Mal. Um seinen Mund kräuselte sich ein schwarzer Bart und aus freudlosen Blicken sprach Wehmut. Schwerfüßig bewegte er sich unter der Last eines Sackes, den er auf der Schulter trug, prall gefüllt mit Steinen von handlicher Größe. Er humpelte auf das Münster zu. Dort verharrte er, kniete nieder und öffnete den Beutel, entnahm ihm einen Stein, der eine Aufschrift zu tragen schien, und legte ihn auf die Stufen des Gotteshauses. Dabei murmelte er beschwörende Worte, dann erhob er sich. Ich verlor ihn aus den Augen.

Ich begegnete dem betagten Mann fernab im Süden, erkannte ihn sogleich im Schatten einer Synagoge. Er hockte im Staub, wendete einen runden Kiesel bedächtig in seinen zerfurchten Händen und strich behutsam über die Schrift auf dem befleckten Stein. Dann legte er ihn auf die Treppen zum Eingangsportal und ging seiner Wege. Ich trat näher und las in krakeliger Schrift auf dem Stein: AYASHA.

Ich begegnete dem Greis nach Jahren im Maghreb in einer weltfernen Oase. Grau war er geworden und wankte unter der Last seines Sackes mit noch reichlich Steinen, von denen er einen in den Innenhof der Moschee an die Mauer des Minaretten legte. Die Schrift war verkratzt, doch ich erkannte: AYASHA. Einem Mullah schien er anstößig, er trat ihn achtlos zur Seite.

Man begegnete ihm in Städten und Dörfern, an Flüssen und Seen, in Tälern und auf den Bergen und seine Steine AYASHAS fanden sich in den Gebetshäusern aller Religionen des einen Gottes. Und nicht wenige Menschen raunten allerlei, wovon sie nichts ahnten, und verlachten den Schweigsamen mit dem weißen Bart.

Eines nachts überfielen mich schlimme Träume. Ich sah einen kleinen Jungen, barfuß, erbärmlich und mit entsetzt blickenden Augen, der unablässig schrie. Er reckte sich auf Zehenspitzen zwischen Menschen, rang die Hände und zeigte auf eine in weiße Tücher gehüllte Gestalt, die brusthoch im Wüstensand vergraben die Steinwürfe erwartete. Ein Gottesmann schleuderte den ersten, dann flogen unzählige Steine. Das weiße Tuch verfärbte sich blutig; die verzweifelt schreiende, junge Frau sank in sich zusammen, wurde still, leblos, und der Junge wimmerte: Mama, Mama… Dann schleiften sie sie fort.
Des nachts schlich der Kleine zu dem Loch. Er sammelte die mit Blutkrusten behafteten Steine auf, schrieb AYASHA, den Namen seiner Mutter, der „Leben“ bedeutet, auf jeden einzelnen und verwahrte sie in einem Sack.

Ich begegnete dem Alten ein letztes Mal, als er ein Boot bestieg, sterbensmüde, und hinaus ruderte aufs offene Meer. Dort öffnete er seinen Sack und entnahm ihm den letzten Stein. Der schien glasklar wie ein Kristall und AYASHA flammte darauf. Doch er löschte mit zitternder Hand den Namen seiner Mutter und schrieb stattdessen: GOTT, ALLAH, JAHWE.
Dann versenkte er ihn mit einem gotteslästerlichen Fluch ins Meer, dort, wo es ihm am tiefsten schien.

Und…sie steinigen noch immer!
 
S

steky

Gast
Das ist doch die gleiche Geschichte von damals, nur mit dem Zusatz:

Und…sie steinigen noch immer!
Wen klagst Du hier an - etwa uns? Du machst doch selbst nichts, damit es besser wird. Oder meinst Du, diese Geschichte wird daran etwas ändern?
Das ist doch alles nur Eigenliebe. In Wahrheit geht es Dir doch gar nicht um die Menschen in Maghreb.

Ich hoffe, Du verzeihst mir meine ehrlichen Worte. Das ist mein Standpunkt zu dieser Geschichte.

LG
Steky
 

HajoBe

Mitglied
Hallo Steky,
danke für deine „ehrliche“ Meinung! Ich fürchte jedoch, du hast den Sinn der Geschichte nicht begriffen.
LG HajoBe
 
S

steky

Gast
Meiner Meinung nach schlägst Du Profit aus fremdem Leid, und das alles unter dem Deckmantel der Provokation (die in Wahrheit keine ist, da die meisten Menschen schon lange das Fühlen verlernt haben und zudem nicht zugänglich sind für das, was sich nicht in unmittelbarer Nähe abspielt).
Mich zumindest lässt diese Geschichte - wie vieles, was auf dieser Welt geschieht - eiskalt. Ich weiß, das ist nicht richtig, aber es ist so.

Wie kann man also den lethargischen Leser provozieren? - Indem man banalisiert und ihm somit einen Spiegel vorhält, ihm klarmacht, dass er ein geistiges Wesen ist. Das wäre subtiler, und die Stimme des Autors würde nicht so plakativ in den Ohren hallen.

Zeig die Dinge doch einfach, wie sie sind, und überlass dem Leser das "Urteilen".

LG
Steky
 

HajoBe

Mitglied
Ich begegnete dem Fremden in unserer Stadt vor langer Zeit zum ersten Mal. Um seinen Mund kräuselte sich ein schwarzer Bart und aus freudlosen Blicken sprach Wehmut. Schwerfüßig bewegte er sich unter der Last eines Sackes, den er auf der Schulter trug, prall gefüllt mit Steinen von handlicher Größe. Er humpelte auf das Münster zu. Dort verharrte er, kniete nieder und öffnete den Beutel, entnahm ihm einen Stein, der eine Aufschrift zu tragen schien, und legte ihn auf die Stufen des Gotteshauses. Dabei murmelte er beschwörende Worte, dann erhob er sich. Ich verlor ihn aus den Augen.

Ich begegnete dem betagten Mann fernab im Süden, erkannte ihn sogleich im Schatten einer Synagoge. Er hockte im Staub, wendete einen runden Kiesel bedächtig in seinen zerfurchten Händen und strich behutsam über die Schrift auf dem befleckten Stein. Dann legte er ihn auf die Treppen zum Eingangsportal und ging seiner Wege. Ich trat näher und las in krakeliger Schrift auf dem Stein: AYASHA.

Ich begegnete dem Greis nach Jahren im Maghreb in einer weltfernen Oase. Grau war er geworden und wankte unter der Last seines Sackes mit noch reichlich Steinen, von denen er einen in den Innenhof der Moschee an die Mauer des Minaretten legte. Die Schrift war verkratzt, doch ich erkannte: AYASHA. Einem Mullah schien er anstößig, er trat ihn achtlos zur Seite.

Man begegnete ihm in Städten und Dörfern, an Flüssen und Seen, in Tälern und auf den Bergen und seine Steine AYASHAS fanden sich in den Gebetshäusern aller Religionen des einen Gottes. Und nicht wenige Menschen raunten allerlei, wovon sie nichts ahnten, und verlachten den Schweigsamen mit dem weißen Bart.

Eines nachts überfielen mich schlimme Träume. Ich sah einen kleinen Jungen, barfuß, erbärmlich und mit entsetzt blickenden Augen, der unablässig schrie. Er reckte sich auf Zehenspitzen zwischen Menschen, rang die Hände und zeigte auf eine in weiße Tücher gehüllte Gestalt, die brusthoch im Wüstensand vergraben die Steinwürfe erwartete. Ein Gottesmann schleuderte den ersten, dann flogen unzählige Steine. Das weiße Tuch verfärbte sich blutig; die verzweifelt schreiende, junge Frau sank in sich zusammen, wurde still, leblos, und der Junge wimmerte: Mama, Mama… Dann schleiften sie sie fort.
Des nachts schlich der Kleine zu dem Loch. Er sammelte die mit Blutkrusten behafteten Steine auf, schrieb AYASHA, den Namen seiner Mutter, der „Leben“ bedeutet, auf jeden einzelnen und verwahrte sie in einem Sack.

Ich begegnete dem Alten ein letztes Mal, als er ein Boot bestieg, sterbensmüde, und hinaus ruderte aufs offene Meer. Dort öffnete er seinen Sack und entnahm ihm den letzten Stein. Der schien glasklar wie ein Kristall und AYASHA flammte darauf. Doch er löschte mit zitternder Hand den Namen seiner Mutter und schrieb stattdessen: GOTT, ALLAH, JAHWE.
Dann versenkte er ihn mit einem gotteslästerlichen Fluch ins Meer, dort, wo es ihm am tiefsten schien.
 

HajoBe

Mitglied
Hallo Steky, das mit dem letzten Satz stimmt. Habe ihn gestrichen.
Nur, dass ich versuchte, Profit zu schlagen, das glaubst du doch nicht ernsthaft??
Nichts für ungut!
Nehme jetzt hitzefrei!
LG HajoBe
 

rothsten

Mitglied
Hallo HajoBe,

ich kenne weder die "Vorgeschichte", noch kann ich hier eine Anklage gegen mich als Mitglied erkennen. Das macht mal unter Euch aus. ;)

Das für mich wichtigste Kriteriun ist, ob der Text mich berührt. Die Idee alleine reicht nicht, man muss es auch handwerklich umsetzen können.

Ich kann Dir sagen, dass Dein Text bei mir etwas ausgelöst hat. Was genau, weiß ich (noch) nicht, vielleicht ists dafür zu heiß :). Es ist jedenfalls kein beliebiger Text. Auch handwerkliche Patzer kann ich nicht erkennen.

lg
 
S

steky

Gast
Das liegt daran, dass nun der letzte Satz entfernt wurde, rothsten.

Zum Ausmachen gibt es hier nichts. Alles super.

LG
Steky
 



 
Oben Unten