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tradij

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Kapitel 1


Novizin 354

Die Geister waren unruhig an jenem Tag.

Ich hatte nie besonders gut mit ihnen umgehen können, sie schienen mich nicht zu mögen und begannen, hektisch hin und her zu huschen, wann immer ich in ihre Nähe kam.

„Sie spüren deine innere Unruhe, Nummer 354“, hatte Priesterin 61 gesagt, als ich sie einmal darauf angesprochen hatte. „Sie reflektieren lediglich deinen emotionalen Zustand, zumindest, wenn sie ihn spüren. Du musst also entweder lernen, dein Inneres zu beruhigen, oder, es so in dir zu verschließen, dass die Geister nichts davon wahrnehmen.“

Nichts davon war mir bisher gelungen, trotz täglicher, stundenlanger Meditationsübungen. Dabei war ich doch allein aus dem Grund hierhergekommen, um meine innere Unruhe zu verjagen. Ich erinnerte mich an meine Tante Alia, die immer so ruhig gewirkt hatte wie ein stiller Bergsee, stets ein warmes Lächeln auf den Lippen. Rilion hatte sie einmal mit Tee verglichen—beruhigend, still und weise. Bei ihr hätten sich die Geister sicher still in eine Ecke oder an die Decke verkrochen und hätten ruhig vor sich hin gewabbert, ohne einen Mucks zu machen. Bei mir gerieten sie sofort in Aufruhr, wenn ich den Raum betrat. Ich war nicht wie Alia, hatte nichts von ihrer Gelassenheit.

Heute jedoch schienen sie besonders unruhig. Sie stürzten sich beinahe auf mich und umschwirrten mich mit ihren dunklen Schatten, so dass ich kaum etwas sehen konnte, während ich Gott meine Aufwartung machte.

„Es liegt nicht an dir“ vernahm ich eine sanfte Stimme, als ich die Räucherstäbchen in die Schale mit Sand gesteckt und mich wieder aufgerichtet hatte. Ich drehte mich um und sah Priesterin 63 auf mich zukommen, ihr orangefarbenes Gewand fest um sich geschlungen. Die Tage wurden immer kälter.

„Priesterin 63“ grüßte ich sie, „ich wusste nichts von deiner Anwesenheit…“

„… was ich auch gar nicht beabsichtigte. Ich sehe dir gerne in deiner Hingabe zu. In dir brennt ein Feuer, das meist nur dann zum Vorschein kommt, wenn du Gott huldigst.“

„Meist wünsche ich mir weniger Feuer und mehr Ruhe, 63“, entgegnete ich und senkte respektvoll meinen Kopf. Die Priesterin gehörte nicht einmal zu den oberen Fünfzig, trotzdem ging von ihr etwas Respektheischendes aus, das mich jedes Mal in ihrer Gegenwart zu überwältigen drohte. Manchmal erschien sie mir fast wie eine der oberen Zehn.

„Oh, es hat alles seine Vorteile. Manchmal wünsche ich mir mehr Feuer. Es hat jedoch keinen Zweck, sich zu wünschen, was man nicht hat; man kann nur das kontrollieren, was einem gegeben ist. Daran solltest du gewiss arbeiten, 354, aber sei froh über dein Feuer.“

„Du bist zu gütig.“

Ich hob mein Gesicht wieder und sah in die lächelnden Augen der Priesterin.

„Ich sage, was ich denke, das hat mit Güte nichts zu tun. Es wird einen Grund haben, dass du hier bist, 354, und vielleicht ist es gerade dein Feuer dieser Grund.“

Wie oft ich mir dies wünschte! Wie sehr ich hoffte, nicht nur aus einem reinen Zufall hier gelandet zu sein—denn genauso fühlte ich mich. Wie eine gestrandete Seele, die den eigentlichen Platz, der ihr im Leben zugewiesen war, nicht annehmend konnte und daher heimatlos war, eine Herumirrende ohne Ziel und ohne Weg.

„Schau nicht so grimmig drein, 354, das schadet deinem schönen Gesicht.“

„Mein Gesicht ist nicht von Belang.“

„Dennoch ist es schade. Glaubst du, Gott gefällt es, in so ein grimmiges Gesicht zu schauen? Er freut sich doch auch, wenn du lächelst.“

Ich bemühte mich um einen freundlichen Gesichtsausdruck und die Priesterin brach in schallendes Gelächter aus.

„Besser du schaust so, wie du dich fühlst, 354. Deine krampfhaften Bemühungen stehen dir nicht. Aber versuche, lockerer zu sein. Das Leben ist kein Kampf.“

Doch, genau das ist es, aber das wird jemand wie du möglicherweise nicht verstehen.

Ich wusste nicht, wo Priesterin 63 herkam, genauso wenig wie ich ihren Namen wusste. Wie ich hatte sie alles abgelegt, was sie gehabt hatte, als sie ins Kloster gekommen war, und nichts blieb von ihrem früheren Leben. Sie war zu einer Nummer geworden, wie ich auch.

Ich hatte gehofft, dies würde mir Erleichterung verschaffen, doch obwohl mich niemand mehr bei dem Namen nannte, der mir an meiner Geburt gegeben worden war, so fühlte ich ihn dennoch an mir haften wie ein dunkler Schatten.

Dennoch beschloss ich, nicht weiter an der Sache festzuhalten.

„Ich danke dir für deine Weisheit, 63. Hast du heute eine Aufgabe für mich?“

Die Priesterin musterte mich nachdenklich und runzelte ihre Stirn, auf die mit Kohle ein Paar hoher Augenbrauen gezeichnet war. Wie alle der Hundert musste sie sich seit ihrer Weihe jegliches Körperhaar entfernen.

„Im Moment nicht, 354, aber entferne dich nicht zu weit vom Kloster. Ich spüre, dass du heute hier gebraucht werden wirst.“

Dies war nicht gerade ein erheiternder Gedanke. Am besten gefiel es mir, wenn ich in Ruhe gelassen wurde und still meine Arbeiten verrichten konnte. Ich hätte nie gedacht, dass ich Gefallen an einfacher Hausarbeit finden könnte, doch genau so war es gekommen. Vielleicht auch einfach, weil ich zu nichts anderem fähig war. Für Handarbeiten war ich zu ungeschickt, für die Gebete hatte ich nicht die Stimme; unter die Leute wollte ich nicht und war daher für jeglichen Kontakt mit dem Volk ungeeignet.

Ich verabschiedete mich von der Priesterin und verließ das Heiligtum. In meiner Kammer tauschte ich meine Gebetskleidung gegen normale Arbeitskleidung ein, die feine, orangefarbene Seide gegen raue, ungefärbte Wolle. Vor dem Brett im Innenhof, an das die zu erledigenden Arbeiten genagelt wurden, traf ich auf andere Novizinnen, die mich gleichgültig und distanziert musterten, aber freundlich grüßten. Ich war dankbar für den guten Umgangston im Kloster, auch wenn mir bewusst war, dass er lediglich eine Farce war, die um der Harmonie Willen aufrecht erhalten wurde.

Es fiel mir stets schwer, mir alle Nummern zu merken, daher grüßte ich sie mit einem kurzen Kopfnicken. Die wenigen Geister, die im Freien herum schwebten, begannen, aufgeregt hin und her zu schwirren, als ich an ihnen vorbeiging.

„354“ wurde mir von überall zur Begrüßung zugemurmelt. Dass alle meine Nummer kannten, schürte täglich meinen Unmut. Man konnte sagen was man wollte—in meinem Fall hatte ich mit meinem Namen nicht meine Vergangenheit abgelegt. Niemand hatte vergessen, wer ich in meinem vorherigen Leben gewesen war.

„Du strahlst den Adel aus wie das Feuer Wärme“ hatte eine der Priesterinnen zu mir gesagt, kurz nachdem ich ins Kloster eingetreten war. „Jeder wird erkennen, woher du kommst.“

„Aber was kann ich dagegen tun?“ hatte ich verzweifelt gefragt.

„Du musst dein Verhalten ablegen, all deine Gewohnheiten. Jede Geste, jeder Blick von dir schreit nach Geld, nach Bediensteten, nach Komfort. Du musst vergessen, was du kennst, du musst zu einer von uns werden. Bis du eine Priesterin bist, wird dir niemand auch nur dein Essen bringen. Du wirst arbeiten wie wir, beten wie wir, dich unterwerfen wie wir. Dein adliger Name wurde dir genommen, dein Schmuck und deine Kleidung; deine Gewohnheiten jedoch musst du selbst von dir werfen.“

Ob ich damit Erfolg gehabt hatte, wusste ich nicht. Jedoch schien jede einzelne Frau, jede Priesterin und Novizin, mich mit demselben Blick zu mustern.

Ich weiß, wer du bist. Und ich weiß, wo du sein solltest.

Ich suchte auf dem Brett nach einer Aufgabe, die mir zusagte; ich würde im Garten helfen. Das Papier, auf dem in einer ordentlichen, gut lesbaren Schrift „Unkraut jäten, Gemüse ernten“ stand, riss ich ab und nahm es mit.

Der Vormittag verging ruhig und ereignislos, so, wie ich es gern hatte. Die Sonne brannte heiß für einen Tag im frühen Herbst und ich begann schnell zu schwitzen. Zusammen mit dem Schweiß rieb die raue Wolle mir die Haut wund, aber ich kümmerte mich nicht darum. Im Gegenteil, solche Unannehmlichkeiten sammelte ich wie früher kleine Muscheln am Strand; sie bewiesen mir, dass ich mich verändert hatte. Ich war keine Adlige mehr, ich war eine Novizin und arbeitete hart, ich war keine verwöhnte Prinzessin mehr, die auf Seidenkissen schlief.

Der Glaube… das war so eine Sache. Ich war nie besonders gläubig gewesen. Natürlich hatte ich die Feierlichkeiten eingehalten, was als Mitglied der königlichen Familie unabdingbar war. Ich hatte an den Prozessionen zum Lichterfest und zum Fest der Dunkelheit teilgenommen, jedes Jahr von Neuem. Ich hatte Gott die vorgeschriebene Anzahl Räucherstäbchen geopfert, hatte die Gebete gesagt und mich dreimal zu jeder Himmelsrichtung niedergeworfen. Aber hatte ich je geglaubt? Glaubte ich jetzt?

Vielleicht war ich deshalb so voller Hingebung. Die Priesterinnen lobten mich ob meiner Gewissenhaftigkeit, doch ich lebte in ständiger Angst, sie könnten hinter mein Schauspiel blicken. Je mehr ich zweifelte, desto eifriger huldigte ich Gott, desto öfter betete ich, desto mehr Räucherwerk entzündete ich. Konnten sie es wirklich nicht sehen oder spielten sie mein Spiel mit, in der Hoffnung ich könnte am Ende doch wahrhaft glauben, was ich lebte?
Nachdem ich eine Weile damit beschäftigt gewesen war, die rauen und festen Ranken des Unkrauts aus der Erde zu zerren, fühlte ich auf einmal einen kühlen Hauch und richtete mich abrupt auf. Ich wusste, was das bedeutete und blickte verwundert den dunklen Schatten an, der vor mir in der Luft schwebte. Noch nie war mir ein Geist nach draußen gefolgt. Ausgerechnet mir. Geister fühlten sich in meiner Gegenwart sicher ebenso unwohl wie ich mich in ihrer—man musste sie nur beobachten, wenn ich einen Raum betrat, um dies zu merken. Zumal sie generell nur ungern schützende Mauern verließen.

Ich betrachtete den dunklen Schatten, der vor mir hin und her schwirrte. Es war ein kleiner Geist, kaum größer als ein menschlicher Kopf. Er schwebte ganz ruhig neben den Bohnenranken und schien auf etwas zu warten.

„Geh weg“ sagte ich müde und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Meine kinnlangen Haare hatte ich mir mit einem Tuch zurückgebunden, das schon völlig durchnässt war. „Ich kann nicht mit dir reden.“

Und werde es wahrscheinlich auch nie können.

Ich schaffte es ja noch nicht einmal, mit meinen inneren Geistern umzugehen. Ob ich je an den Punkt kommen würde, mit den richtigen Geistern sprechen zu können, war fraglich. Natürlich hätte ich es gerne gekonnt—wer wollte denn nicht an ihren jahrhundertealten Weisheiten teilhaben? Manche sagten, dass sie sogar in die Zukunft blicken konnten. Aber ich stand ganz am Anfang, am Fuße eines Berges von dem ich nicht wusste, ob ich ihn jemals erklimmen würde. Und konnte.

Der Geist schien mich nicht zu verstehen und wenn, dann ignorierte er meine Worte. Ich machte eine Handbewegung, die ihm bedeuten sollte, wieder nach drinnen zu schweben.

„Geh“, wiederholte ich.

Der Geist blieb.

Nach einigen vergeblichen Versuchen gab ich seufzend auf und kehrte zu meiner Arbeit zurück. Ich versuchte, den schwarzen Schatten an meiner Seite nicht zu beachten, doch es verging kaum eine Minute, in der ich nicht an ihn dachte.

Als ich fertig war und mit meinem Werkzeug und einigen geernteten Kürbissen in der Hand in den Hof zurückkehrte, folgte er mir.



Doch nicht nur die Geister waren unruhig.

Eine Spannung lag in der Luft wie ein Gewitter kurz vor dem Ausbruch. Es lag etwas in den Blicken der Novizinnen, denen ich auf dem Weg in den Speisesaal begegnete, was mir ein seltsames Ziehen in der Magengegend verursachte. Sogar einige Priesterinnen musterten mich mit einem solchen Blick, obwohl sie doch an sich Herrinnen über ihre Gefühle sein sollten. Ich spürte nichts von der stillen Geruhsamkeit, die sonst über dem Kloster lag.

Etwas geht vor sich und sie alle wissen es.

Ich hatte mir nie viel aus Klatsch und Tratsch gemacht und hatte das Getuschel der anderen Novizinnen ignoriert, das nie einfach nicht lassen konnten, trotz des Verbots, von Dingen außerhalb des Klosters zu sprechen. Auch hier war ich über alle Maßen gewissenhaft. Ich fragte mich, ob sich außer mir auch nur eine der jungen Frauen daran hielt.

Nun bereute ich jedoch, mich nie an dem Geschwätz beteiligt zu haben. Natürlich hatten es die Anderen irgendwann aufgegeben, mich zu informieren, nachdem jegliche Versuche, harmlose Unterhaltungen zu führen, bei mir auf taube Ohren gestoßen waren. Dennoch waren ab und zu Dinge zu mir durchgedrungen; Gesprächsfetzen, die in der Luft hingen, nachdem ich einen Raum betreten hatte und die Unterhaltung bei meinem Anblick hastig abgebrochen worden war. Sicherlich hielten sie mich alle für eine unglaubliche Langweilerin, für eine penible, regelverliebte Spielverderberin. Ich konnte es ihnen nicht verübeln—aber ich wollte die Welt ausblenden, das war alles. Alles, was außerhalb der Klostermauern geschah, war für mich nicht mehr von Belang.
Ich hatte aber stets genug gehört.

So wusste ich von den Unruhen. Ich wusste von der Unzufriedenheit aller, der Reformer, der einfachen Leute, der Intelektuellen. Von den Forderungen nach Erneuerungen und Flexibilisierung des alten, rigiden Systems und der Weigerung der Königswitwe, diesen nachzukommen.

Der Frau, die einst meine Großmutter gewesen war.

Obwohl ich mein altes Leben abgelegt hatte, erinnerte ich mich doch an ihren Starrsinn, an ihre Absolutheit.

Ich bin der Monarch, hatte sie stets gesagt. Seit Jahrhunderten wird das Reich getragen von unsereins. Nun bin ich der Monarch und ich bin es, der man Gehorsam schwören muss. Wo kommen wir hin wenn ich auf einmal die Meinung aller mit einbeziehe? Seit Jahrhunderten liegt die einzige Gewalt beim Monarchen. Nun bin ich an der Reihe.

Ja, Großmutter, darauf hast du dein Leben lang gewartet. Hast die Amtszeit deines Vater und deines Mannes abgesessen, lange Jahre. Nun fährst du deine Ernte ein.


Ich biss mir auf die Lippe, um den falschen Gedanken zu vertreiben. Sie war nicht mehr meine Großmutter, ich hatte keinerlei Verbindung mehr zu dieser Frau.
Novizin 289 und 256 saßen zusammen wie immer, die Einzigen, deren Nummern ich mir gemerkt hatte. Uns verband nicht viel und wir sprachen kaum miteinander, aber wir hatten eines gemeinsam: unsere Sehnsucht nach Ruhe. Ich setzte mich wie jeden Tag zu ihnen und nickte ihnen zu.

„354“ begrüßten sie mich mit angenehmer Gleichgültigkeit. „Wie ist es dir ergangen?“

„Ich habe im Garten gearbeitet“ entgegnete ich und begann, etwas Suppe zu schlürfen. Sie war dünn und heute schwamm noch weniger Gemüse und Fleisch darin als sonst. „Heiß heute.“

„Ja, heiß“ bestätigte 256 nickend und rührte lustlos in der Brühe. Sie war sehr dünn und aß kaum etwas, in ihren großen Augen stand immer Sorge und Misstrauen. Wo auch immer sie herkam, sie musste viel Schlimmes erlebt haben.

„Einer der Geister ist mir nach draußen gefolgt“ fügte ich noch beiläufig hinzu. Ich konnte es einfach nicht für mich behalten. 289 runzelte dir Stirn—offenbar gefiel ihr mein Anflug von Mitteilungsbedürfnis nicht.

„Ungewöhnlich“ sagte sie nur. Dann schwiegen wir.

Ich betrachtete die Geister, die sich an der Decke des Saals sammelten und die Unruhe, die sich ausgebreitet hatte, zu reflektieren schienen. Aufgeregt huschten sie von einer Ecke in die andere; ob der kleine Geist, der mir in den Garten gefolgt war, dabei war, konnte ich nicht erkennen. Die schwarzen Schatten waren zu einer dunklen Masse verschwommen.

Nachdem ich meinen Reis, etwas Gemüse und ein gekochtes Ei verzehrt hatte, stand ich auf, nickte 256 und 289 zu, und verließ den Tisch. Ich war etwas früh dran für die Mittagsandacht, aber so konnte ich einige Minuten alleine im Heiligtum genießen. Die kühlen Mauern hatten stets eine beruhigende Wirkung auf mich und ich genoss die Meditation dort jeden Tag aufs Neue.

Ich trat in den Hof und wollte mich auf den Weg in meine Kammer machen, um die raue Wolle loszuwerden und in das seidene Andachtsgewand zu schlüpfen. Als meine Augen sich an die helle Sonne gewöhnt hatten, erkannte ich zu meinem Erstaunen auf einmal eine Person, die ich seit dem Tag meines Eintritts ins Kloster nicht mehr gesehen hatte—die zweite Priesterin. Obwohl dies schon knapp ein Jahr her war, hatte ich nichts von ihrem hoheitlichen Auftreten vergessen, das sich von seiner Art so sehr von dem der königlichen Familie am Hof unterschied. Es war eine bescheidene und doch würdevolle Haltung, die sie einnahm, ihre hohen Augenbrauen schienen alle Weisheit der Welt zu überdachen.

Ich wusste nicht recht, wie ich mich in ihrer Anwesenheit verhalten sollte, aber schnell merkte ich, dass ich es war, auf die sie gewartet hatte. Verwirrt betrachtete ich sie, als sie nähertrat.

„354“ sagte sie in einer tiefen Stimme, in der sich die Andachtsgebete sicher wundervoll angehört hätten.

„Mutter“ sprach ich sie an und verneigte mich.

„Ich habe auf dich gewartet. Darf ich dich bitten, mit mir zu kommen?“

Ihr respektvoller Umgangston verwirrte mich, war ich doch schließlich diejenige, die ihr Respekt schuldete! Als Zeichen meiner Hingabe senkte ich meinen Kopf erneut.

„Wie du wünscht, Mutter.“

Mit einem unguten Gefühl folgte ich ihr durch den steinernen Bogen, der in den Hof des Nachbarsgebäudes führte, wo die Priesterinnen untergebracht waren. Obwohl ich wusste, dass sie ebenso kärglich hausten wie wir, ging von den Mauern eine seltsame Atmosphäre des Komforts aus, den es bei uns nicht gab. Ich kam nur selten hierher, da ich selten einen Anlass hatte, doch es gefiel mir. Es war ruhig und feierlich, kein aufgeregtes Geschwätz schwirrte durch die Luft wie bei den Novizinnen. Das Orange der Roben, die die Priesterinnen immer trugen, wirkte beruhigend auf mein aufgescheuchtes Gemüt.

Ich wagte es nicht, die Priesterin zu fragen, was sie von mir wollte. Zu meinem Glück war noch keine der anderen Novizinnen im Hof gewesen, als sie mich geholt hatte—den Aufruhr, den dies gegeben hatte, konnte man sich kaum vorstellen.

Sie blieb vor einer schweren Tür stehen und klopfte. Während wir auf eine Antwort warteten, wandte ich mich kurz um, um den Hof zu betrachten, durch den eine sanfte Brise strich, die die Blätter der wenigen Büsche raschelnd bewegte. Auf einmal bemerkte ich einen kleinen schwarzen Schatten auf der Höhe meiner Hüfte, etwa zehn Meter entfernt. Der Geist folgte mir immer noch.

Ich nahm mir vor, die zweite Priesterin danach zu fragen, sobald ihr Anliegen erledigt gewesen sein würde.

Schließlich öffnete sich die Tür und ich erkannte eine der höheren Novizinnen, die ein hellgelbes Gewand trug.

„Mutter empfängt euch“ sagte sie und verneigte sich vor der zweiten Priesterin. Mir schenkte sie nicht einmal einen Blick.

„Ich danke dir.“

Ich folgte der Priesterin in den Raum. Sofort umfing mich feuchte, kühle Luft. Als ich mich umsah, erkannte ich an den Wänden und der Decke die Malereien, für die das Kloster berühmt war. Ein Maler namens Kastalio hatte sie vor beinahe fünf Jahrhunderten angefertigt, ein Auftrag des damaligen Königs. Ursprünglich hatte das Kloster eines seiner vielen Herrschaftssitze werden sollen, doch hatte sein Sohn es als Zeichen seines guten Willens dem Glauben vermacht. Dennoch zeigten die Bilder vor allem weltliche Szenen, die in einem Kloster kaum als angemessen bezeichnet werden konnten. Menschen beim Festmahl, bei der Jagd; nackte Frauen beim Bad, Körper in verzückter Umarmung. Kein Wunder wurden die Novizinnen hier kaum eingelassen.

Als sich meine Augen langsam an das reduzierte Licht gewöhnten, erkannte ich, dass der Raum leer war bis auf eine kleine Gestalt, die auf einem für sie viel zu großen Stuhl saß, der mit Samt ausgepolstert war. Sie war ebenfalls in dunklem Orange gekleidet; das Gewand aus schwerem Stoff schien sie zu verschlingen. Ein runzliger Kopf schaute aus den Falten sowie zwei knorrige Hände, die auf den beiden Armlehnen des Stuhls ruhten. Zwei höhere Novizinnen standen zu ihren beiden Seiten, beide hielten den Kopf respektvoll gesenkt.

Ihr Äußeres täuschte darüber hinweg, doch es bestand kein Zweifel daran, bei wem es sich bei der kleinen, runzligen Person handelte.

Die erste Priesterin.

„Mutter“ sprach die zweite Priesterin und ging vor ihr in die Knie. Ich tat es ihr rasch nach.

„Erste Tochter“ sprach die Gestalt, ihre Stimme hoch und dünn, beinahe krächzend wie die einer Krähe. „Steh auf.“

Sie erhob sich, ich aber verblieb in meiner demütigen Position, wie es sich für eine Novizin gehörte. Ich hatte die erste Priesterin nie zu Gesicht bekommen, genauso wie keine der niederen Novizinnen. Den höheren Novizinnen war es verboten, darüber zu sprechen; nicht, dass sie besonders erpicht darauf waren, mit uns zu plaudern, nachdem sie in den hohen Dienst aufgestiegen waren. Ich hatte sie mir wie eine größere und herrlichere Version der zweiten Priesterin vorgestellt, keineswegs jedoch wie dieses gealterte Geschöpf, das so aussah, als könnte es sich nicht einmal alleine aus dem riesigen Stuhl hieven.

„Ich bringe euch 354“ vernahm ich die dunkle und sanfte Stimme der zweiten Priesterin und richtete meinen Blick weiterhin auf den steinernen Boden.

„Das sehe ich“ krächzte die Mutter. „Erhebe dich, Tochter.“

Ich stand auf und sah ihr ins Gesicht. Der kahle Kopf war von Altersflecken übersät, kleine, stechend blaue Augen musterten mich mit verhaltener Neugierde. Als die schmalen Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, sah ich, dass sie kaum noch Zähne besaß.

„Nicht das, was du dir vorgestellt hast, 354?“ krächzte sie und lachte ein heißeres Lachen. „Ich muss dich enttäuschen, auch an uns Priesterinnen nagt der Zahn der Zeit. Gott bewahrt uns nicht vor dem Mühsal und den Leiden des Alters.“

Ich fühlte, wie ich rot wurde. „Verzeih mir, Mutter, ich…“

„Keine Sorge, es ist nicht das erste Mal, dass ich so angesehen werde. Schon seit einem Jahrzehnt blicken die Leute, als sähen sie einen Geist, wenn sie mir gegenübertreten. Wer weiß, vielleicht werde ich ja eines Tages einer von ihnen? Man sagt, sie waren alle einmal Menschen, doch wie sie zu dem wurden, was sie jetzt sind, weiß keiner. Gott weiß, ich habe sie oft danach gefragt, doch sie antworten mir nie darauf.“

Ihr Blick war nach oben gewandert zu den schwarzen Schatten, die auch hier zwischen den prächtigen Malereien wogten.

„Nun gut, 354, ich werde dich nicht länger auf die Folter spannen und mit dem langweiligen Geschwätz einer alten Frau quälen.“

„Mutter, ich…“

„Es hat einen Grund, dass du hier bist. Wir haben uns lange überlegt, ob wir dich deswegen rufen sollten oder uns dem Anliegen verweigern, aber hier bist du nun, entgegen der Meinung vieler. Ich jedoch habe mich dafür ausgesprochen, dich herzubringen; Gott wird mir am Ende zeigen, ob es die richtige Entscheidung war.“

Ich nagte an meiner Lippe, um meine Nervosität zu verbergen, eine Angewohnheit, die ich schon als kleines Kind immer gehabt hatte. Meine Mutter hatte vergeblich versucht, sie mir auszutreiben; es sei „nicht königlich“, so hatte ich ununterbrochen zu hören bekommen.

„Nun gut“ fuhr die Mutter fort und nickte der Novizin zu ihrer Rechten zu, die daraufhin rasch durch eine kleine Hintertür aus dem Zimmer eilte. „Der Grund hierfür ist, dass wir heute Morgen Besuch bekommen haben—dein Bruder ist hier, 354.“

Das Blut wich aus meinem Gesicht und auf einmal drang die Kälte des Raumes bis in meine Adern. Dennoch zwang ich mich, meinen Ausdruck gefühlslos zu halten.

„Ich habe keinen Bruder.“

Die alte Priesterin entblößte erneut einige ihrer verbliebenen Zähne.

„Gesprochen wie eine gute Novizin—und wie alle meiner Priesterinnen. Der Mann, der einst dein Bruder war, dann eben.“

Mein Kopf schüttelte sich panisch. „Nein, ich kann ihn nicht sehen. Ich bitte um deine Erlaubnis, zu gehen, Mutter.“

Die hellen Augen musterten mich einen Augenblick nachdenklich, als schien sie über meine Bitte nachzudenken. Doch bevor sie sprechen konnte, öffnete sich auf einmal die Hintertür und hinter der Novizin stürzte ein Mann in einem silbernen, knielangen Gewand herein—die Kleidung der königlichen Familie.

„Ma-Egya“ rief er laut und seine Stimme hallte unnatürlich in den kalten Steinmauern. Einen Moment schloss ich die Augen.

Als ich sie wieder öffnete, war die absurde Szene nicht verschwunden, so wie ich es mir gewünscht hatte. Rilion stand noch immer da, mein kleiner Bruder.

Nein, falsch. Er ist nicht dein Bruder. Er war Egyas Bruder.

Ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz bei seinem Anblick ein paar Schläge aussetzte. Er war groß geworden in dem Jahr, in dem ich ihn nicht gesehen hatte. In der kurzen Zeit war aus dem kleinen, dicklichen Jungen ein Mann geworden; starke Muskeln spannten sich nun unter dem silbernen Stoff und ein dunkler Bartschatten zierte seine Wangen. Er war groß, größer als ich, wo wir doch gleich groß gewesen waren, als ich den Palast verlassen hatte.
Doch bei alldem war er unverkennbar mein kleiner Bruder. Dieselben dunklen, lachenden Augen, obwohl sie nun voller Sorge standen—und voller Angst. Dieselben schwarzen Locken, in denen ich so gerne meine Hände vergraben hatte.

Ich blieb stocksteif, als sich seine kräftigen Arme um meinen Körper schlossen und er mich an sich drückte.

„Schwester.“

„Ich bin nicht mehr deine Schwester, Ma-Rilion.“

Er löste sich von mir und musterte mich sorgenvoll. „Du siehst blass aus, Ma-Egya. Und dünn bist du geworden. Hör auf mit diesem Blödsinn—das sind doch nur Formalitäten. Wir wissen doch beide, wer du bist.“

„Wer ich war.“

Du verstehst es nicht. Du hast es noch nie verstanden. Du willst den Thron genauso sehr wie Großmutter und du hättest sie getötet dafür. Hast sie beinahe getötet.

Ungeduld trat in seinen sonst so sanften Blick.

„Hör zu, Ma-Egya, ich habe keine Zeit dafür…“

„354.“

„Was?“

„Ich bin nun 354. Ich bin nicht mehr Egya.“

„Ach nun hör doch auf damit!“ Hilflos warf er die Arme in die Höhe und ging ein paar Schritte nach hinten. Er war schon immer ungeduldig gewesen und Kompromisse vermied er wie die Pest.

„Sie hat recht, Hoheit“ erklang die raue Stimme der Mutter hinter seinem Rücken und er drehte sich irritiert um, als hätte er vergessen, dass sie da war. „Als sie hierher kam hat sie einen Schwur gesprochen, ihren Namen und ihre Herkunft abgelegt. Dies sind die Regeln, Hoheit, und sie gelten an diesem Ort. Bitte haltet euch daran, nun, da ihr Gast in unseren Mauern seid.“

Rilion zögerte einen Moment, als überlegte er sich, sich dem als Bitte verkleideten Befehl zu widersetzen. Dann murmelte er ungehalten ein paar Worte, die selbst ich nicht verstand und wandte sich wieder zu mir.

„Also schön“ zischte er. „354.“. Er trat so nahe zu mir, dass mir sein vertrauter Geruch in die Nase stieg, gemischt mit Schweiß und dem Geruch des Biers, der in seinem Atem lag. „Ich bin hergekommen, um dich mitzunehmen. Wir fliehen. Heute Nacht.“

Mein Atem stockte und ein Gefühl breitete sich in mir aus, als habe man einen Eimer kaltes Wasser über mir ausgeschüttet. Dann war es also wahr.
„Sie wollen die Königsfamilie stürzen“ hatte eine der Novizinnen gemurmelt, bevor sie mich erkannte hatte und verstummt war. „Wenn die alte Hexe sich weigert, den Thron zu räumen, werden sie sie… aus dem Weg räumen. Sie sitzt verdammt sicher mit diesem Ding auf ihrem Kopf, doch bald werden sie es schmelzen und Töpfe für die einfachen Leute daraus schmieden. Die Zeit der Monarchen ist vorbei.“

„Wohin wollt ihr gehen?“ fragte ich, ohne dem ersten Teil seiner Aussage Beachtung zu schenken. Ich dachte an meine kleine Schwester, Audra, die gerade mal sechs Jahre alt war, und an meinen Neffen, den Sohn meiner älteren Schwester, den kleinen Stelius. Er hatte gerade Laufen gelernt, als ich ins Kloster gegangen war. Sollten sie etwa im Exil aufwachsen? Fern von ihrer Heimat, den grünen Wäldern und den sanften Hügeln unseres Landes?

Rilion zuckte mit den Achseln. „Nach Westen, in die Berge. Zu den Tarkvölkern.“

„Wieso sollten sie euch aufnehmen? Sie sind nicht eure Freunde, Rilion.“

„Großmutter hat dies arrangiert. Lange vor der Revolution hat sie mit ihnen verhandelt.“

„Und du meinst, sie halten ihr Versprechen? Wir haben nichts, was sie wollen.“

„Wir haben Gold.“

Ich schwieg und kaute wieder auf meiner Lippe. Mein Herz klopfte heftig. Obwohl ich damit gerechnet hatte, meinen Bruder niemals wiederzusehen, so hatte etwas in mir diesen Gedanken doch nie aufgegeben, das merkte ich jetzt. Etwas von mir hatte gewusst, dass er wieder in mein Leben treten würde, genauso wie der Rest meiner Familie. Ob sie mich je vollkommen loslassen würden?

„Mach dir keine Sorgen, Schwester“ flüsterte Rilion, die Bitte der Priesterin ignorierend, mich nur noch bei meiner Nummer zu nennen. „Wir werden gut versorgt sein. Und sobald dieser Wahnsinn vorüber ist, kehren wir zurück und machen da weiter, wo wir aufgehört haben. Das Volk wird bald erkennen, dass dieser Quatsch mit der Revolution nichts als Gerede ist.“

„Sie leben von Tauschhandel.“ Der Gedanke war mir plötzlich gekommen, wie ein Blitz. „Sie leben von Tauschhandel, was wollen sie da mit Gold?“
Rilion zuckte wieder ungeduldig mit den Achseln. „Schmuck, hübsche Dinge, was weiß ich. Schwesterherz, du machst mich wahnsinnig. Sie sind auf unsere Bedingungen eingegangen, das ist alles, was zählt. Du gehst besser und holst deine Sachen, mach dir nicht so viele Sorgen.“

Genau wie du, den Falten auf deiner Stirn nach zu schließen.

„Ich mache mir doch nur Sorgen, Ma-Rilion“ sagte ich und machte mir diesmal keine Mühe, den zärtlichen Ton, den ich als seine Schwester stets angeschlagen hatte, aus meiner Stimme zu verbannen. Schließlich war es womöglich das letzte Mal, dass ich ihn sehen würde. „Ich will, dass ihr sicher seid.“

Er blinzelte verwirrt. „Heißt das…“

„Ich wüsste euch gerne in guten Händen“ fuhr ich fort und griff nach einer seiner Hände, die von Hornhaut überzogen waren, um sie sanft zu drücken. Wie oft hatten wir zusammen mit den Schwertern geübt, die seine Haut so schwielig hatten werden lassen. „Ich werde nicht mit euch gehen.“

Rilion lachte kurz und freudlos auf.

„Mutter sagte bereits, dass du so reagieren wirst. Es ist jetzt keine Zeit für deine Prinzipien. Selbst wenn du mir weismachen willst, dass du deine Herkunft und alles vergessen hast—der Pöbel wird dies nicht. Sie werden dich genauso lynchen wie uns, wenn sie dich finden—und wenn du hierbleibst werden sie das, glaub mir. Sie sind wütend, Schwester, so wütend… man könnte meinen, wir hätten sie massakriert und ihre Kinder geopfert wie damals die Tschai. Ihre Wut wird sich auf dich konzentrieren, wenn sie uns nicht finden. Was meinst du, was sie für ein Spektakel daraus machen werden? Wahrscheinlich richten sie dich öffentlich hin, auf dem Runden Platz, als Nachmittagsunterhaltung. Da, seht, die letzte Tyrannin, da geht sie hin…“

Erst jetzt bemerkte ich die Verzweiflung, die die ganze Zeit in ihm geschlummert hatte und nun mit voller Wucht ausbrach. Das Beben, das durch seinen Körper fuhr, erfasste auch mich.

„Komm mit, Schwester, ich bitte dich. Vielleicht glaubst du, Gnade zu finden, weil du nun eine Frau Gottes bist, doch glaub mir, für sie bist und bleibst du Egya und dafür wirst du bluten.“

Ich senkte den Kopf. „Mein Leben ist in Gottes Hand.“

„Hör doch auf mit diesem Geschwätz.“ Seine Hände fassten meine Schultern und er schüttelte mich, beinahe grob. „Wir haben deinen Blödsinn lange genug geduldet, haben akzeptiert, dass du uns alle im Stich lässt und dich ins Kloster verziehst. Wir haben immer geglaubt, du würdest wieder zur Vernunft kommen, doch augenscheinlich haben wir vergebens gehofft. Wach auf, Schwester, zu gehörst nicht mehr hierher. Du gehörst zu uns.“

„Ich bin nicht mehr deine Schwester“ wiederholte ich stur. „Wenn sie meinen, mich wegen meines vergangenen Lebens töten zu müssen—so sei es. Nur Gott kennt meinen Weg.“

„Hörst du dich eigentlich reden?“ rief mein Bruder verzweifelt und ließ mich los. Seine Hände sanken an seine Seiten, hilflos, kraftlos. „Glaubst du wirklich, Gott rettet dich, wenn sie dich holen kommen? Er schert sich sicher einen Dreck um…“

„Genug!“

Die Stimme der ersten Priesterin klang mit einem Mal gar nicht mehr dünn und krächzend, sondern polterte durch den Saal wie Donner. Sie hatte sich erhoben und all ihre Zerbrechlichkeit war von ihr abgefallen. Obwohl sie immer noch klein war, so überwältigte mich ihre Präsenz so sehr, dass ich unwillkürlich den Atem anhielt. Beinahe hätte ich mich auf die Knie geworfen.

„Ich habe euch gestattet, 354 zu sehen, wider besseren Wissens und dem Rat meiner Priesterinnen. Es war ein höchst ungewöhnliches Anliegen, Hoheit, das unter normalen Umständen niemals meine Zustimmung erhalten hätte. Nun missbraucht unser Wohlwollen nicht mit blasphemischen Äußerungen! 354 hat eure Worte gehört und ihre Entscheidung getroffen. Nun geht bitte.“

Rilion war blass geworden und die Hilflosigkeit umschwirrte ihn wie ein Geist. „Ich befehle euch, meine Schwester auszuhändigen“ sagte er schlicht, doch jegliche Autorität war aus seiner Stimme verschwunden. Die Priesterin lächelte ihr zerfurchtes Lächeln.

„Sie wird nicht gegen ihren Willen festgehalten, Hoheit. Es wird lediglich ihr Wunsch respektiert, hier zu bleiben. Abgesehen davon fällt es mir schwer zu glauben, dass ihr noch die Macht habt, eure Befehle umzusetzen—da ihr ja bald damit beschäftigt sein werdet, euer Leben zu retten.“

Mein Bruder war nun kreidebleich und in seine Hilflosigkeit mischte sich blinde Wut, deren Ausbruch ich in der Vergangenheit zur Genüge erlebt hatte.
„Vorsicht, Priesterin—man sieht sich immer zweimal im Leben. Und ich vergesse nicht.“

Er wandte sich wieder mir zu, schnaubend wie ein gereizter Stier. „Und du, Schwester… wenn du meinst, dich heroisch in den Tod zu stürzen, von mir aus. Ich habe alles versucht, obwohl Mutter dich schon als hoffnungslos betrachtet hat, bevor ich gekommen bin. Um deiner Willen hoffe ich, dass sie dich schnell und schmerzlos töten—obwohl die Meute sicher Blut sehen will. Du wirst dir wünschen, mitgekommen zu sein, das verspreche ich dir.“

Der Gedanke, so mit meinem Bruder auseinanderzugehen schmerzte mehr, als die Furcht vor dem, was vielleicht kommen mochte. Ich wollte ihm um den Hals fallen und ihm liebevolle, tröstende Worte ins Ohr murmeln, wollte durch seine dichten Locken streichen und seinen vertrauten Geruch einatmen, der mich immer so beruhigt hatte. Mein Bruder. Mein geliebter Bruder.

„Ich wünsche Euch das Beste, Hoheit“ sagte ich und senkte den Kopf, damit er nicht erkannte, dass ich mit den Tränen kämpfte. „Und eurer Familie. Sagt… sagt eurer Mutter, dass…“

„Spar dir deine Worte“ sagte er bitter und am Zittern seine Unterlippe erkannte ich, dass auch er nur mühsam seine Fassung bewahrte. „Gott sei mit dir.“
Das waren seine letzten Worte, bevor er mit eiligen Schritten den Saal verließ. Ich spürte das kühle Nass auf meinen Wangen. Der Blick der Priesterin ruhte auf mir als ich den Kopf hob, die Haut feucht von den Spuren meiner Tränen.

„Geh nun, Tochter. Das Wetter ist schön, die Sonne scheint. Lass seine Seele nicht schwer werden“, sagte sie leise und ohne dass ich wusste warum, bemerkte ich auf einmal die riesige Gottesstatue hinter ihr, die so sehr im Schatten verborgen war, dass ich sie kaum bemerkt hatte. Sie reichte bis zur Decke, das gekrönte Haupt des Schöpfers verschmolz beinahe mit ihr. Der unergründliche Blick des holzgeschnitzten Gesichtes reichte weit in die Ferne, während Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand zum Gruß geschlossen waren.

„Ich danke dir, Mutter“ schluchzte ich, all meine Würde vergessen. Der fremde Riese hinter ihr sollte mein neuer Vater sein, das hatte ich geschworen bei meiner Ankunft hier. Doch ich konnte sie nicht vergessen, die, die mich geboren und erzogen hatten, so sehr ich es auch versuchte.

Als ich aus dem kühlen, dunklen Raum in die warme Herbstluft trat und der sanfte Wind mich umspielte, erblickte ich den schwarzen Schatten, der neben einem kleinen Busch voller roter Beeren auf mich wartete.
 
A

Architheutis

Gast
Hallo und Willkommen,

ein ordentliches Debut. Du hast einen leichten Schreibsstil, fern von allzu unnötigem Infoballast. Ich sehe hier Züge von Fantasy und Schizophrenie - interessant!

Einzelkritik:

Ich erinnerte mich an meine Tante Alia, die immer so ruhig gewirkt hatte wie ein stiller Bergsee,
Ein schöner Vergleich. Vielleicht könnte man noch "still" streichen, denn mit Bergsee wird allgemein Stille assoziiert, besonders, wenn Du zu "ruhig" einen Vergleich ziehst. Das sind so Feinheiten.

„Meist wünsche ich mir weniger Feuer und mehr Ruhe, [blue]Priesterin[/blue] 63“, entgegnete ich und senkte respektvoll meinen Kopf.
Ich kenne die Gepflogenheiten dieser Welt nicht, aber es ist in fast allen Hierarchien so, dass die höhere Instanz mit ihrem Titel angeredet wird (Herr Doktor, Frau Königin etc). So verfährst Du ja auch sonst hier.

Mich irritierte hier die blanke 63, es klingt für mich wie ein Dutzen der Priesterin durch die Novizin und passt daher nicht so ganz.

etwas Respektheischendes
Dieses "etwas" hängt mir hier zu sehr in der Luft. Ich will erfahren: Was ist dieses gewisse Etwas? Was genau nötigt einem Respekt ab?

Hier solltest Du vielleicht eine kurze Szene, eine Geste schildern, aus der der Leser diesen Respekt ableiten und nachvollziehen kann. "Nur" Priesterin reicht hier nicht.

„Dennoch ist es schade. Glaubst du, Gott gefällt es, in so ein grimmiges Gesicht zu schauen? Er freut sich doch auch, wenn du lächelst.“
Mit "Gott" ist meist einer der drei großen monotheistischen Religionen gemeint. In einer Fantasy-Welt sollte man eher eine andere Bezeichnung wählen. "Gott" ist leider belegt. ;-)

Ich bemühte mich um einen freundlichen Gesichtsausdruck und die Priesterin brach in schallendes Gelächter aus.
Ich kapiere nicht, warum die Priesterin schallend lacht.

der mir an meiner Geburt gegeben worden war, so fühlte ich ihn dennoch an mir haften wie ein dunkler Schatten.
einen dunklen Schatten (Grammatik)

Ich war dankbar für den guten Umgangston im Kloster, auch wenn mir bewusst war, dass er lediglich eine Farce war, die um der Harmonie Willen aufrecht erhalten wurde.
Es geht kürzer, klarer, und die Harmonie hat keinen Willen:

"...eine Farce war, um die Harmonie zu erhalten."

Bis du eine Priesterin [strike]bist[/strike] [blue]wirst[/blue]
Zusammen mit dem Schweiß rieb die raue Wolle mir die Haut wund, aber ich kümmerte mich nicht darum. Im Gegenteil, solche Unannehmlichkeiten sammelte ich wie früher kleine Muscheln am Strand; sie bewiesen mir, dass ich mich verändert hatte.
Schöne Bilder! Gerne mehr davon. ;-)

Ich mache hier einen Schnitt.

Mein Fazit:

Ich schaffte es ja noch nicht einmal, mit meinen inneren Geistern umzugehen. Ob ich je an den Punkt kommen würde, mit den richtigen Geistern sprechen zu können, war fraglich.
Mir wabert der Text ein wenig zu sehr im Nebulösen. Es ist unklar, ob es nun Richtung Beschwörung der eigenen Geister oder um eine klassische Novizen-Klosterproblematik geht. Die Sätze schwanken, ich hatte Mühe, zu folgen.

Der Text wirkt auf mich unfertig. Das zeigen auch die kleinen Flüchtigkeitsfehler in der Grammatik, denn eigentlich beherrschst Du klar die Grammatik.

Ich empfehle, weniger zwischen den Handlungen zu springen. Sprünge innerhalb einer Handlung sind so ziemlich das Schwerste.

Das Feuer Deiner Protagonistin ist mir auch nicht klar. Ich finde das auch nicht nötig.

Kein schlechtes Debut, aber ausbaufähig.

Lieben Gruß,
Archi
 



 
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