Störtebekers Schatz

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Renee Hawk

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Störtebekers Schatz



Freitag, 20. September 2002

05:50 Uhr, der Wecker rappelte und riss mich aus dem Schlaf. Ich tastete mit der Hand nach dem Ausschaltknopf und eine herrliche Stille trat ein. Allerdings fing um 06:00 Uhr Stefans Wecker an zu piepen, und dieser wollte irgendwie nicht aufhören.
Das Piepen drang in meinen Schlaf, zog mich von der weichen Dunkelheit in ein grelles Bewusstsein und neben mir raschelte das Bettzeug. Stefan stand auf.
Mit einem Gedankenblitz wurde mir klar: Heute – Urlaub – Rügen.

Und so ließ ich mich von meinem kleinen, schwarzen Kater wach schmusen, während im Badezimmer verräterische Wassergeräusche zu mir ins Schlafzimmer drangen.
Nach einigen Minuten hörte ich aus der Küche die typischen „wachmach“-Geräusche. Wasserhahn, Kaffeedose, Kaffeemaschine.
Die Vorbereitungszeremonie für das Frühstück war voll im Gange.

Vom Schlafzimmer bis zum Bad öffneten sich meine Augenlider nur soweit wie es nötig war, und im Spiegel schaute mich eine verschlafene, augenzukneifende, schwarzhaarige und mürrisch drein blickende Frau an. Ihr streckte ich die Zunge raus, worauf sie anfing zu lachen.
Wir lagen gut in der Zeit. Es war 07:15 Uhr und wir auf den Weg zum Bahnhof Berlin-Lichtenberg, wo unser Nachtzug in Richtung Binz/Rügen auf uns wartete. Pünktlich wie die Maurer setzte sich der Zug um 07:28 Uhr in Bewegung.

Zum erstenmal seit dem Aufstehen wurde mir bewusst, dass wir uns auf Kurzurlaubsanfahrtsreise befanden.

Nach einer halben Stunde erreichten wir Eberswalde und die Thermoskanne mit Milchkaffee wurde ausgepackt. In meiner Handtasche kramte ich nach Block und Bleistift und Stefan reichte mir Walkman und Christas Kassette herüber.

In Greifswald machte ich mir zu Christas Kassette einige Notizen. Ich möchte ihr nächste Woche meine Eindrücke von ihrem selbstgestalteten Hörbuch unverfälscht übermitteln.

Im Bahnhof Stralsund trank ich den letzten Milchkaffee und in der Frischhaltedose waren auch nur noch zwei von ehemals sechs belegten Brötchen.

War der Himmel über Berlin trüb und mit grauen Wolken verhangen so strahlte hier „Klärchen“ in ihrer vollen Pracht.
Mit diesem azurblauen Himmel konnte das Wetter auf Rügen nur wunderbar werden.
Ich schob das Abteilfenster herunter und eine Brise Ostsee wehte hinein, Salz, Sand und ein leichter Wind.
Nachdem der Nachtzug den Rügendamm hinter sich gelassen hatte, strahlte die Sonne mit mir um die Wette.

12:00 Uhr: Haus Dieckmann, Putbuser Strasse 5, Binz/Rügen
Wir sind angekommen!

Unsere FeWo (Ferienwohnung) hatte sogar zwei Fernsehapparate.
Stefan hingegen interessierte sich zuerst für die Toilette, während ich in der Küche auf der Rattanbank Platz nahm und davon schwärmte, wie gut eine solche Bank in unsere Berliner Wohnung passen würde.

Das Thermometer auf der Terrasse zeigte 23°C.

Nach dem Taschenauspacken und Bettenbeziehen machten wir uns auf den Weg zur örtlichen Kurverwaltung. Im „Haus des Gastes“ zahlten wir unsere Kurtaxe von 12,60 €.
Beim ansässigen „Edeka Neukauf“ wurde mir wieder schmerzlich vor Augen geführt, wie galant die Touristen doch sein konnten. Schubsen, schieben, meckern und grimmig kucken konnten sie alle perfekt, doch „Bitte“ und „Danke“ konnte keiner sagen.

In unserem „Viertages – Domizil“ machten wir uns einen Kaffee und etwas zu essen, danach drängte ich Stefan hinaus an den Strand.
Wir gingen die „Putbuser Strasse“ hinauf, bis zum „Kempinski Ressort“, bogen direkt links in die Strandpromenade, um sofort leicht rechts den ersten Strandabgang zu nehmen.
Weißer, weicher und sehr feinkörniger Sand sowie blaues Wasser mit leichtem Wellengang lagen vor uns.

Der Strand war stellenweise mit Algen bedeckt. Scheinbar gab es in der Nacht zuvor einen Sturm. Viele Möwen versammelten sich um diese Plätze. Sie kreischten wie wild, flatterten in die Luft, landeten im Algenteppich, pickten hinein und flatterten wieder in die Lüfte, um das Spiel der Nahrungssuche fortzusetzen.
Ich allerdings hielt meine mitgebrachte Frühstückstüte in der Hand, meinen Kopf auf den Boden gerichtet und meine Augen tasteten eben diesen gleichmäßig ab, als seien meine Pupillen Röntgenstrahlen. In immer kürzern Abständen griff meine Hand in den Sand und packte die gefundene Muschel in die Tüte.

Wir waren noch ein gutes Stück von der „Binzer Seebrücke“ entfernt, als ich mich wieder bückte und einen ovalen, dunkelbraunen, flachen Stein erst erblickte und dann nach ihm griff. In dem Augenblick, als meine Finger ihn berührte wusste ich, dass ich einen Bernstein gefunden hatte.
Sofort zeigte ich meinen Fund Stefan. Auch er war der Meinung, dass es ein echter Bernstein sein musste. Ich ließ den Stein in meine Anoraktasche verschwinden und versuchte, nicht mehr an ihn zu denken da ich angst hatte, es könnte vielleicht doch nur ein alter Kaugummi sein.

Wir gingen weiter in Richtung Prora.

Auf Höhe des „Bundeswehr Campingplatz“ rasteten wir für einige Minuten. Wir zogen unsere Schuhe und Strümpfe aus, krempelten unsere Hosenbeine hoch und spazierten weiter am Ufer der Ostsee entlang. Das Wasser war in den ersten Augenblicken kalt, doch schnell gewöhnten wir uns daran und so waren die fünf Kilometer nach Prora ein Katzensprung.

Vor dem großen Seeplateau gingen wir vom Strand hinauf zu der alten Kaserne. Andreas (Stefans großer Bruder) hatte hier zu DDR-Zeiten gedient.

1936 begann die nationalsozialistische Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) mit dem Bau des gigantischen „Seebad der Zwanzigtausend“. Mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges ließ Hitler die Arbeiten einstellen. Danach bezog die NVA (Nationale Volksarmee der DDR) das 7 Kilometer lange und 500 Meter breite Areal.
Heute beherbergt es viele Museen wie das „Technik Museum“, das „NVA-Museum“, eine Bildergalerie von Rügener Künstlern und ein 18 Meter langes Modell der unvollständigen „KdF“-Anlage.

In eben einer dieser alten Kaserne entdeckten wir einen Laden, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Cafe“ hing. Als wir es betraten, standen wir in einem Antiquariat.
Schallplatten, Bücher, alte Radios standen in den Regalen und von der Decke hingen Dinge wie alte Mopeds, Milchkannen, Näh- und Schreibmaschinen, Suppenkellen und noch viele solcher nostalgischen Zeitzeugen herunter.
Stefan entdeckte im hinteren Teil des Ladens einen weiterführenden Gang, dort waren unzählige Bücher einer Welt, die mir bis dahin verschlossen blieb.
„Lenins Werke“, „Marx“, „Honeckers Reden und Aufsätze“, „Jahresberichte“ und so weiter und so weiter.

Gegenüber dem seltsamen Laden mit Namen „Blickwinkel“ packte der Thüringerwurstverkäufer seinen Stand zusammen.
Da wir Durst und Hunger hatten, gingen wir hinüber und bestellten zwei kleine Flaschen Wasser und zwei megalange und megadicke Thüringer Bratwürste. Der Mann war großzügig und gab uns einen guten Feierabendrabatt; wir zahlten insgesamt nur 5,50 €.

Gemütlich (und mit Socken und Schuhen an den Füssen) machten wir uns auf den Rückweg.
Die Uhr zeigte 18:30 Uhr, der Himmel über Prora schwarze Wolken und in der Ferne Binz.
Stefan wollte noch zur Plattform, ich jedoch setzte mich an den Strand und wartete auf seine Rückkehr.

Als wir die Seebrücke von Binz erreichten war es 20:00 Uhr und über der „Granitz“ ging ein leuchtend gelber Vollmond auf.
Auf der Brücke hörte ich einen Jungen sagen: »Voll geil, der Vollmond!«
Ich konnte mich nicht beherrschen und musste anfangen laut zu lachen.

Die „Granitz“, eine bewaldete Hügelkette, ähnelt ein wenig dem Mittelgebirge. Auf der höchsten Erhebung Südostrügens, dem 107 Meter hohen Tempelberg, ließ Fürst Wilhelm Malte I. von Putbus 1836 für seine Gäste das Jagdschloss Granitz errichten. Nachträglich wurde von dem preußischen Baumeister Karl Friedrich Schinkel ein 38 Meter hoher Aussichtsturm in den Innenhof gesetzt. Mit 154 Stufen schraubt sich die gusseiserne Treppe in dem Turm empor. Von deren Plattform reicht der Blick bis Stralsund und Hiddensee.
Ein weiteres Erlebnis ist die Anfahrt zum Jagdschloss mit dem „Rasenden Roland“.
Mit einer Spurweite von 750 Millimeter dampft die Schmalspurbahn über 24,2 Kilometer (ursprünglich 104,8 Kilometer) Schienennetz. Am 22. Juli 1895 schnaufte die Bahn erstmals in Putbus los, zunächst war in Binz Endstation, 1899 schließlich in Göhren.

In unserer FeWo angekommen, zog ich mir sofort Jacke und Schuhe aus, stellte die Tasche in irgendeine Ecke und legte meinen Fund vom Mittag auf den Küchentisch.
Ich wartete auf Stefan der noch eben die Toilette kontrollierte.

Der ultimative Bernsteintest!

Es gibt drei Arten Bernstein auf seine Echtheit zu überprüfen:
1.) Den Stein an einem Kleidungsstück reiben, er lädt sich statisch auf.
2.) Bernstein brennt mit einer hellen, sehr stark rußenden Flamme.
3.) Der Salztest.

Und genau diesen bereitete Stefan sorgfältig vor.
In ein Glas, gefüllt mit Wasser, verrührte er zwei Teelöffel Salz.
Gespannt ließ ich den Fund hinein „plumpsen“. Er versank und landete auf dem Boden des Wasserglases.
Ich war enttäuscht.
Das konnte nicht sein. Der Fund sah aus wie Bernstein, war so leicht wie Bernstein, hatte die Farbe von Berstein und hörte sich beim „Klopftest“ an wie Bernstein. Ich bat Stefan, etwas mehr Salz ins Wasser zu gießen.
Als ich den Fund erneut ins Wasser gleiten ließ, schwamm er tatsächlich an der Oberfläche.
Ich jubelte, ich war glücklich.
Ein echter Bernstein hatte mich gefunden.

Und so ließen wir den ersten Tag auf Rügen mit einem Abendbrot und Fernsehschauend langsam ausklingen.
Unsere Muskelschmerzen und unsere Blasen an den Zehen störten uns nicht mehr, wo doch ein echter Schatz uns am Strand fand.

***

Samstag, 21. September 2002

Nach dem wir, wie im Vertrag vorgesehen, in das Dachgeschoss gezogen waren, spazierten wir zur Seebrücke.

Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, allerdings hingen dicke, dunkle Wolken über der See und die Wellen kräuselten sich mit weißen Schaumkrönchen heftiger als gestern. Doch es schien noch weit von einem Sturm entfernt.

Links neben der Seebrücke befindet sich ein Bernsteinjuwelier.
Mit meinem Stein in der Hand erklärte ich der Verkäuferin so umständlich wie mir nur irgend möglich war mein Anliegen, in den Stein ein Loch hinein gebohrt zu bekommen.
Da die Chefin sehr plötzlich weg musste und sie nicht weiß wann sie wieder kommt, so erklärte mir die Verkäuferin, könne sie mir nicht sagen, was das Bohren kostet und ob es überhaupt geht, doch der Stein sei ein Echter, bestätigte sie mir.
In der „Hauptstrasse“ nur einige Häuser abwärts, kehrten wir beim nächsten Juwelier ein. Hier sagte uns die Verkäuferin, dass ihr Chef voraussichtlich erst ab 15:00 Uhr im Geschäft sei und er den Stein dann begutachten könne.
Mit diesen Informationen gingen wir zur Post, kauften Briefmarken und kehrten dann im „Cafe Peters“ auf der „Hauptstrasse“ ein.

Wieder begann es zu regnen, spontan beschlossen wir einen Regenschirm zu kaufen und gingen dann wieder nach Hause, um etwas zu essen.

Gegen 16:00 Uhr machten wir uns wieder auf den Weg. Ich wollte unbedingt zu diesem Juwelier, in der Hoffnung, er könne ein Loch in den Bernstein bohren und es wäre nicht zu teuer.
Mit unserem neu erworbenen „Knirps“-Imitationsregenschirm, den Fotoapparaten und zwei Flaschen Wasser im Rucksack machten wir uns auf.

Beim Juwelier erfuhren wir, dass die Bohrung 5,- € kosten würde, und dass er mir keine Garantie geben könne, dass der Stein nicht brechen würde. Das Risiko war uns zu groß und so beschlossen wir, unseren Fund „natürlich“ zu belassen, immerhin könnte er etwa 40 Millionen Jahre alt sein.

Am Strand entlang sind wir in Richtung „Granitz“ gegangen. Nach etwa 2 Kilometern setzten wir uns auf einen Findling und beobachten einige Schwäne, wie sie am seichten Steinufer nach Nahrung suchten.
Da der Sandstrand in Steinstrand wechselte, hoffte ich auf einen neuen Fund eines Bernsteines und suchte den Boden systematisch nach dunkelbraunen Steinchen ab.
Ich fand einige sehr schöne Kieselsteine, Feuersteine und farbendurchzogene Sandsteine. Manche, dieser Feuersteine waren auch mit Kalkablagerungen besetzt, doch ich konnte keinen mit Loch entdecken.

Einem alten keltischen Glauben nach legt man diese Steine in Hühnernester, was dem Federvieh Gesundheit bringt. Daher ihr Name „Hühnergott“.

Und wieder begann es zu regnen, diesmal nur leicht und es störte uns nur dahingehend, dass wir beschlossen wieder zurück zu gehen.

Dann endlich betraten wir die „Binzer Seebrücke“.

Auf einem kleinen Findling, am Ende der „Hauptstrasse“, wurde eine Tafel zur Erinnerung an eine Katastrophe angebracht.
Am 28. Juli 1912 stürzte ein Teil der Seebrücke ein, und dabei ertranken 17 Menschen in den Fluten der Ostsee, woraufhin am 19. Oktober 1913 die DLRG (Deutsche Lebens Rettungsgesellschaft) in Leipzig gegründet wurde.

Wir flanierten die 370 Meter lange Brücke in die Ostsee hinaus. Wir waren müde und unsere Füße taten weh, doch ich wollte noch einige Fotos schießen. Stefan zeigte sich von seiner Schokoladenseite und machte Fratzen und Späße. Ich freue mich auf die Bilder.

Den Abend verbrachten wir ruhig vor dem Fernsehgerät; im Prinzip, wenn da nicht die Dusche und die getrennten Betten gewesen wäre.

Zu dem Abenteuer Dusche kann ich nur sagen: Dachboden, 2 Zimmer, Sonderanfertigung für die Toilettenspülung und eine Duschkabine mit Pumpe auf dem Flur.
Und was die getrennten Betten angeht, so stand eines eine Zeitlang leer.

***

Sonntag, 22. September 2002

08:30 Uhr und er klingelte nicht, der Wecker.
Stefan machte Frühstück; was nicht so einfach war, denn die Kaffeemaschine benötigte etwa 30 Minuten um Wasser zu erhitzen, durch den Filter mit Kaffeepulver zu pumpen, um dann in der Kanne als braune Brühe zu enden.

Ich schaute mir noch einmal den Fund von gestern abend an. Ein Stein kam mir etwas verdächtig vor und siehe da! Ein kleiner, unscheinbarer Hühnergott, dessen Loch mit Sand verstopft war.

Der Himmel war zwar bewölkt, jedoch die Strassen trocken und so packten wir unseren Rucksack und nahmen den Bus um 11:08 Uhr in Richtung Sassnitz.

Heute wollten wir die Stubbenkammer und den Königsstuhl erobern, und in der Piratenschlucht nach Störtebekers Schatz suchen.

Der Königsstuhl liegt als Aussichtspunkt an der Küste im „Nationalpark Jasmund“. Vom Strand aus kann man die 117 Meter hohe Kreidefelswand am besten bewundern, und ihre ganze Pracht ist am schönsten in einem milden Morgenlicht von hoher See aus.
Die einen erzählen, wer König von Rügen werden wollte, musste Stärke, Mut und Schnelligkeit beweisen. Die Königskrone bekam aufgesetzt, wer als erster den mächtigen Kreidefelsen der Stubbenkammer vom Strand aus erkletterte. Andere erzählen über die Namensgebung folgendes: Schwedenkönig Carl XII. habe 1715 von dem Felsen aus ein Seegefecht zwischen Dänen und Schweden beobachtet.

Wie dem auch sei, ich wollte wissen, was an der Sache dran ist und Störtebekers Schatz lag da genau auf unserem Weg; in der Piratenschlucht.

Klaus Störtebeker, einst der gefürchtetste Freibeuter der Nord- und Ostsee, wird auch gern „Robin Hood der Ostsee“ genannt. Zwölf Städte und Dörfer beanspruchte er für sich. Während der Belagerung Stockholms durch die Dänen versorgte er die Eingeschlossenen mit Lebensmitteln. Man sagt ihm allein auf Rügen 18 Schlupfwinkel zu, unter anderen soll er einen großen Schatz in der Sassnitzer Piratenschlucht versteckt haben.
1401 wurde der junge Pirat in Hamburg vor Gericht gestellt und geköpft. Der Sage nach lief er noch einige Minuten mit abgetrenntem Kopf umher!

Mit dem Bus ging es vorbei an Prora und Mukran und 45 Minuten später stiegen wir im strömenden Regen am Sassnitzer Bahnhof aus. Ich spannte den 2,99 € teuren Regenschirm auf und selbst war ich gespannt, ob und wie lange er diesem Regen und Wind die Stirn bot.

Wir schafften es bis zum Kurhotel, welches die Strasse vom Bahnhof gut 500 Meter entfernt lag. Sehr spontan entschieden wir uns für eine Regenrast in der „Pommern Stube“.

Beim Gastwirt bestellten wir zunächst Kaffee.
Diesen Mann hatte ich sofort ins Herz geschlossen. Seine Art und Weise des Auftretens ließen mich fantasieren und ich sah ihn im Geiste als betagte Dragqueen im roten Ballkleid und hochgesteckten Haaren.

Da es unentwegt regnete, bestellten wir nach rund 1 ½ Stunden zwei mal Currywurst. Als das Essen auf dem Tisch stand, hörte es plötzlich auf zu regnen. Ebenso spontan wie das Wetter aßen wir auf, bezahlten und traten vor die „Pommern Stube“ in den soeben wieder einsetzenden Regen.

Zuvor hatten wir vom Wirt in Erfahrung gebracht, dass am Ende der nächsten Querstrasse eine Steintreppe zum Hafen hinunter führt. So war es dann auch. Ich hörte noch die Ermahnung vorsichtig zu sein und nach vielen langgezogenen Stufen endete die kurvenreiche Strecke auf der Rückseite des Fischereihafens.

Links ging es zum Kurplatz und zu unserem ausgesuchten Wanderweg Richtung Königsstuhl, rechts hingegen führte der Weg zum Hafenmuseum und zum Stadthafen „Neu Mukran“, der erst 1986 fertiggestellt wurde, er besaß für die wirtschaftliche Verflechtung zwischen der DDR und der Sowjetunion enorme Bedeutung.

Wir bogen rechts ein und entdeckten hinter dem großen Fischereilager die 1500 Meter lange Mole. Im Hafenbecken lagen die Fischkutter fest vertäut und das Wasser in Becken war ruhig, doch draußen auf der offenen See brauste der Sturm. Meterhohe Wellen brachen an der Kaimauer und die Gicht spritzte uns mit voller Wucht entgegen; wenn da nicht unserer kleiner Freund der Regenschirm gewesen wäre, wären wir bis auf die Haut durchnässt worden.

Immer wieder schmeckte ich Salz auf meinen Lippen.

Ich fragte Stefan, was er wohl glaubt warum die Ostsee so aufbrausend sei, was sie wohl verärgert hätte und weshalb der Hafen an Gi(s)cht leiden würde. Wir lachten über diese Wortklauberei und machten, nein wir versuchten einige Fotos von diesem Naturschauspiel zu machen.

Als wir dann wieder zurück gingen, verabschiedeten wir uns von unserem Freund Regenschirm, er war völlig geknickt und verschwand in einer Mülltonne.

Auf der Rad- und Wanderkarte sahen wir, dass ein Wanderweg direkt am Ufer entlang vorbei an „Klein Helgoland“, der „Piratenschlucht“, bis hinauf zum „Königsstuhl“ führte.
Da der Regen wieder nachließ und wir noch etwas spazieren gehen wollten, gingen wir in Richtung Norden am Ufer entlang.

Vor dem kleinen Landungssteg am Kurplatz bestand die Möglichkeit, etwas näher ans Wasser heran zu gehen. Diese Chance ließ ich mir nicht nehmen und stand in Mitten des heftiger werdenden Sturmes und sah gebannt auf die ankommenden weißen Schaumkronen der brechenden Wellen. Selbst die Möwen hatten Schwierigkeiten bei diesem Wind die Flugrichtung zu halten. Einige kippten förmlich nach hinten und trudelten vor sich her. Eine Möwe allerdings schwebte regelrecht über uns und Sekunden später hatte ich drei weiße Flecken Möwenkacke auf meinem roten Anorak. Ich lachte, denn das sollte ebenfalls Glück bringen.

Etwa 50 Meter hinter dem Kurplatz, der mit Orangerie und Orchesterbühne angelegt war, stießen wir auf ein kleines Feuersteinfeld.

Zwischen Prora und Neu Mukran befinden sich Europas einzigartige Feuersteinfelder. Als die Ostsee vor 3000 bis 4000 Jahren einen höheren Wasserspiegel hatte, wurden die Feuersteinfelder durch starke Sturmfluten herangetragen. Das „Steinerne Meer“ besteht aus vierzehn rund 25 Meter breiten und 3 Meter hohen Wällen. Zwischen den Steinen wachsen Heidekraut, Wacholder und am nördlichen Rand sogar Stechpalmen. Selbst die streng geschützte Kreuzotter fühlt sich hier heimisch.

Schnell lief ich über den Rasen auf das Feldchen zu und suchte sofort nach besonderen Steinen. Zuerst fand ich einen wunderschönen Feuerstein, der die Form einer Brücke oder eines Tores aufwies. Ich konnte meine Augen nicht von den vielen Urgesteinen abwenden und drehte beinahe jeden Stein zwei, drei mal um, und dann fand ich ihn – einen echten Hühnergott. Ich hüpfte wie ein kleines Kind, welches an Weihnachten seinen größten Wunsch erfüllt bekam und stopfte den Stein sogleich in meine Jackentasche.

Ich sammelte und sammelte. Stefan stopfte Stein um Stein in das Regenschirmstrümpfchen und verdrehte bei jedem neuen Fund die Augen, bemerkte jedoch meine bewundernswerte Ausdauer.

Je weiter wir in Richtung „Piratenschlucht“ kamen, umso spektakulärer wurden die Feuersteine. Große, massige Steine mit kuriosen Einschlüssen oder mit Kalkstreifen überzogen.

An „Klein Helgoland“ angekommen bemerkten wir zwei Fischkutter, die den sicheren Hafen ansteuerten. Und weiter draußen konnte ich noch ein weißes Segel ausmachen.

„Klein Helgoland“ ist ein 41 Kubikmeter großer Findling, der 15 Meter entfernt vom Ufer im Wasser liegt. Mit einem kleinen Steg ist es sogar möglich zu ihm zu gelangen. Doch bei Windstärke 7, wie heute, liegt der Steg sicher auf dem oberen Wanderweg.

Wir spazierten die etwa 500 – 700 Meter zum Hafen zurück. Anstelle der Treppe nahmen wir den kleinen Aufstieg durch die Altstadt.

Die vielen verfallenen Villen in der „Bäderarchitektur“ lassen nur mit sehr viel Fantasie erahnen, welch ein Prunk um die Jahrhundertwende im zweitgrößten Ort auf Rügen herrschte.
Es wird wahrscheinlich noch etliche Jahre dauern, bis all die traditionsreichen Häuser restauriert sein werden.

Unsere Blicke wurden von den kleinen Kopfsteinpflastergassen und den vielen zierlichen Häusern regelrecht angezogen. Kleine Läden und Bistros begleiteten uns hinauf zur Hauptstrasse und weil es noch sehr früh war und mir der Wirt von der „Pommern Stube“ gefallen hatte, kehrten wir ein zweites mal bei ihm ein.

Da heute unser Tag war, bestellten wir Eisbecher, wie das Jahr zuvor in der Gaststätte auf dem Zeltplatz.

Noch einmal holte ich alle Feuersteine und die Hühnergötter aus der Jackentasche heraus, betrachtete sie mir wieder ganz genau und packte sie schließlich in den Rücksack.

Dem Wirt erzählte ich von unserem Fund und vom geknickten Regenschirm. Als Ersatzregenschirm bekam ich ein kleines, gelbes „Langnese“ Eisbecherschirmchen und zum Fund meinte er, dass er Glück bringen würde. (Die Möwenkacke hatte ich nicht erwähnt.)

Mit dem Bus um 16:45 Uhr fuhren wir nach Binz zurück.
Und wieder regnete es.

Der kleine Radiator hatte seine Dienste voll erbracht. Meine Jacke und meine Schuhe waren trocken und mir war es warm. Als ich aus dem Dachkammerfenster schaute, war auch die Strasse wieder trocken. Wir zogen uns noch einmal an und gegen 18:30 Uhr machten wir uns wiederum zum Strand auf.

In die mitgebrachte Frischhaltedose füllte Stefan Ostseesand und packte sie in den Rucksack zurück. Eine Stunde später begann es zu dämmern und wir hatten Hunger. Zurück in der Dachkammer machte Stefan Bohnensuppe in der Mikrowelle warm und ich verfolgte die ersten Hochrechnungen der Bundestagswahl.

***

Montag, 23. September 2002

Heute ist der Urlaub zu Ende.
8:00 – 8:30 Uhr bereitete Stefan zum letzten mal Frühstück.

Im Schlafzimmer zog ich schon mal die getrennten Betten ab, dass heißt die Bettwäsche, und packte alles was nicht mehr benötigt wurde in unsere Reisetasche.
Im Toilettenraum sammelte ich unsere Zahnbürsten, Handtücher und Haarbürsten zusammen, dann frühstückten wir.

Im Schlafzimmer hatte ich alles fertig aufgeräumt und Stefan trug die schwere Tasche ins Wohnzimmer, wo wir den Rest unserer Sachen noch einpacken wollten. Unter anderem schmuggelte ich meinen „Schatz“ in die Reisetasche.

Pünktlich um 11:00 Uhr warf Stefan den Haustürschlüssel vom „Haus Dieckmann“ in den dafür vorgesehenen Briefkasten.

Auf dem Weg zum Bahnhof, wo wir unser Gepäck unterbringen wollten, begann es wieder zu regnen.

Da unser Zug erst um 17:50 Uhr abfuhr, hatten wir noch reichlich Zeit kleine Souvenirs zu besorgen.
Vom Bahnhof aus gingen wir die Strandpromenade entlang Richtung Post, dort warfen wir unsere Ansichtskarten ein und stellten uns unter, da es wieder regnete.

Ich meckerte über das Wetter und schließlich kehrten wir im „Cafe Peters“ ein.

Nach etwa zwei Stunden schlenderten wir ein letztes mal zur Seebrücke.
Die See brüllte uns entgegen, sie war aufbrausend, aufschäumend und wütend.
Stefans Fotoapparat hatte ich dabei und machte viele Bilder von den ankommenden Wellen. Auch eine kleine Gruppe Möwen schwebte über uns und ich musste lachen, machte jedoch ein Foto und hoffe, dass es was geworden ist.

Als Fischerdorf „Byntze“ erstmals urkundlich erwähnt, ist Binz das größte Seebad der Insel Rügen und liegt an einer der zauberhaftesten Buchten der Insel, dem „Prorer Wiek“.
Von den weitläufigen Waldgebieten „Schmale Heide“ und der „Granitz“ wird der Ort flankiert. Im Westen schmiegt sich das schilfumsäumte Ufer des „Schmachter Sees“ an das Städtchen, während es im Osten der Ostsee zugewandt ist. Binz hat ein mildes Reizklima mit 1841 Sonnenstunden im Jahr.

Rügen selbst ist die größte Insel Deutschlands und wurde vermutlich bereits vor 8000 Jahren von Kelten und Germanen besiedelt. Die ältesten Fundstellen sind aus der Zeit zwischen 6000 und 3000 vor unserer Zeitrechnung. Jungsteinzeitliche Megalithgräber und bronzezeitliche Hügelgräber sind in der „Granitz“ zu finden.

Nach der großen Völkerwanderung besiedelten Ranen die Insel. 1168 wurde Rügen von den Dänen erobert. Ranenfürst Jaromar musste dem dänischen König den Lehenseid leisten, die slawische Bevölkerung wurde christianisiert. 1325, mit dem Tod des letzten Slawenfürsten, kam Rügen zu Pommern, allerdings blieben die Kirchen bis ins 16. Jahrhundert im dänischen Bistum Roskilde.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde die Insel der schwedischen Krone unterstellt und 1815 fiel Rügen an Preußen.

Die einzige feste Verbindung zwischen Festland und Insel ist der 2540 Meter lange Rügendamm.
Da wir auch noch einen kleinen Abstecher zum „Schmachter See“ machen wollten, gingen wir die 800 Meter zur anderen Seite von Binz hinunter.

In einem kleinen Hotel mit Café tranken wir unseren letzten Kaffee, genossen die Windstille, die strahlende Sonne und machten bereits Pläne fürs nächste Jahr.

22:00 Uhr
Berlin-Lichtenberg
Wir sind zu Hause.
Es waren wundervolle, glückliche und traumhafte Ferien.

Ein Bernstein, drei Hühnergötter, ein Stück eines Donnerkeils und Möwenkacke auf dem Anorak, wenn das alles kein Glück bringt, dann weiß ich es auch nicht.

Störtebekers Schatz hatte ich zwar nicht gefunden, doch dafür mein Glück an einer stürmischen Ostsee.


********************
Anmerkung für Zeder:
Hallo Zeder,
diesen autobiographischen Reisebericht habe ich bereits einige Tage vor der Schreibaufgabe in 'Freizeit' gepostet. Würde ihn aber auch gern hier präsentieren.
Gerne darf er am Ende des Monats gelöscht werden.
liebe Grüße
Reneè
 

Aceta

Mitglied
Liebe Renee,

Schöne Erinnerung - bringt einiges 'rüber von dem Menschen Renee - das ist doch auch gewollt?! Ich habe es in diesem Sinne gut bewertet und wünsche noch 'nen schönen Sonntag!
*lächel*

Aceta
 

Renee Hawk

Mitglied
Hallo Aceta,

ich danke dir für das 'Mensch Renee'. Ja, es ist autobiographisch, wie fast alles was ich schreibe. Ein sehr guter Freund hat mir mal gesagt: Schreib über das was du kennst - auch wenn es noch so unglaublich klingt.
Das hat mir gefallen.
Meine intrinsische Motivation ist ungebrochen.

liebe Grüße
Reneè
 



 
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