Strafzettel

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Lio

Mitglied
Ich kenne sie.
Man muss nur aufmerksam sein, beobachten. Dann kennt man sie. Laufen erst über die Bahrensberger, die Neubrücker und nehmen dann die ganze Breitestraße. Jeden Tag von beiden Seiten, in Geschwadern von vier bis sechs Mann. Ich kenne sie und grüße jeden Tag. Ziehe den Hut, nicke, halte sogar manchmal ein Schwätzchen. Nichts Ernstes natürlich, über das Wetter oder einen spektakulären Mordfall. Nach ihrer Route frage ich nie. Das wäre zu auffällig und außerdem fangen sie ja doch immer an zu erzählen. Dass sie den Kerl ´mal in die Finger kriegen wollen, dass er dann ´mal etwas erleben könne. Ahnen nicht, dass ich es bin, sehen in mir ja einen Verbündeten. Und, dass ich ihnen jeden Tag über den Weg laufe, wundert sie nicht, weil sie mich nicht ernst nehmen, weil sie mich für einen armen Kauz halten, der auf der Straße lebt, doppelter Doktor, Oppenheimer, dem das Schicksal übel mitgespielt hat. Aber nach dem Grund fragen sie nicht, wenn wir in der Sonne auf dem Bürgersteig stehen. Dann kneifen sie die Augen zusammen und mustern jeden der vorbeikommt, während ich mit meinem Kleingeld in der Jackentasche klimpere. Und bevor es zu ernst wird, verabschiede ich mich, schüchtern, ziehe wohlerzogen den Hut, der arme Kauz. Dabei kenne ich ihre Route, besser als meine Jackentasche mit dem Kleingeld drin. Und 15 Minuten einer Parkuhr kosten mich nicht viel, aber ein Strafzettel, der ist teuer. 45 Euro wiegt er schwer, mal zehn macht 450 Euro, mal 100 macht 4500 Euro. Das reicht, um jemanden in den Ruin zu treiben, um mich in den Ruin zu treiben. Und jetzt beklagen sie sich, dass kein Geld mehr in die Gemeindekasse fließt und dass sie den Kerl ganz bestimmt einmal in die Finger kriegen werden, dabei tappen sie immer noch in stockdüsterer Finsternis, die tugendhaften Miesepeter.
 

Lio

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Ich kenne sie.
Man muss nur aufmerksam sein, beobachten. Dann kennt man sie. Laufen erst über die Bahrensberger, die Neubrücker und nehmen dann die ganze Breitestraße. Jeden Tag von beiden Seiten, in Geschwadern von vier bis sechs Mann. Ich kenne sie und grüße. Ziehe den Hut, nicke, halte sogar manchmal ein Schwätzchen. Nichts Ernstes natürlich, über das Wetter oder einen spektakulären Mordfall. Nach ihrer Route frage ich nicht. Das wäre zu auffällig und außerdem fangen sie ja doch immer an zu erzählen. Dass sie den Kerl ´mal in die Finger kriegen wollen, dass sie ihn dann ganz schön zusammenfalten werden. Ahnen nicht, dass ich es bin, sehen in mir ja einen Verbündeten. Und, dass ich ihnen jeden Tag über den Weg laufe, wundert sie nicht, weil sie mich nicht ernst nehmen, weil sie mich für einen armen Kauz halten, der auf der Straße lebt, doppelter Doktor, Oppenheimer, dem das Schicksal übel mitgespielt hat. Aber für den Grund interessieren sie sich nicht, wenn wir in der Sonne auf dem Bürgersteig stehen. Dann kneifen sie die Augen zusammen und mustern jeden der vorbeikommt, während ich mit meinem Kleingeld in der Jackentasche klimpere. Und bevor es zu ernst wird, verabschiede ich mich, schüchtern, ziehe wohlerzogen den Hut, der arme Kauz. Weiß um ihre Route und gehe sie weiter ab, denn 15 Minuten einer Parkuhr kosten mich nicht viel, aber ein Strafzettel, der ist teuer. 45 Euro wiegt er schwer, mal zehn macht 450 Euro, mal 100 macht 4500 Euro. Das reicht, um jemanden in den Ruin zu treiben, um mich in den Ruin zu treiben. Und während sie noch zusammenstehen, sich darüber auslassen, dass kein Geld mehr in die Gemeindekasse fließt, dass die Tage dieses Kerls gezäht seien, löse ich schon das erste Ticket, klemme es hinter den Scheibenwischer und gehe kurz vor ihrer Ankunft weiter. In die Ulreichstraße und danach in die Kettlergasse.
 

Ofterdingen

Mitglied
Dieser kleine Text beginnt rätselhaft, spannend, löst die Spannung erst am Ende auf, wie es sich gehört. Nichts Großes, deine Aufmerksamkeit gehört dem Alltag, dem täglichen Überleben - und du bringst dein Thema in eine gelungene Form. Kompliment!
 



 
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