Süße Leichen des Herzens

NakedLunch

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Süße Leichen des Herzens

Gordon Freefall stand in der Mitte der alten Holzbrücke des örtlichen Stadtparks und blickte über die Brüstung hinunter zum Wasser. Gedankenversunken beobachtete er ein einzelnes Eichenblatt, wie es in kreisenden Bahnen herab schwebte und sanft in die gespannte Haut des Teiches drang. Es war eine dunkle zähe Flüssigkeit, die diesen Weiher füllte, ein Trog voller klebriger Erinnerungen.
Ringsum war es still. Gordon stand alleine auf den Planken, die sich aneinandergereiht in flachem Bogen über den Teich spannten. Nur der frostige Hauch des Herbstes hing am Ufer zwischen den Bäumen und wartete auf den Beginn des Winters. Doch ungeachtet der Kälte war dieser Ort für Gordon ein Platz, an dem die Romantik pulsierte - an dem der Herzschmerz spürbar war.
Gordon Freefall war ein Mann mittleren Alters, eine stattliche Erscheinung, groß mit einem herben kantigen Gesicht. Trotz der kühlen Temperaturen trug er seinen dunkelbraunen Ledermantel offen. Seine nackten Hände hielten das hölzerne Geländer fest gepackt, gebieterisch, als müsste er der Brücke seine menschliche Überlegenheit beweisen. Sein Geist dagegen versank in alter zarter Verliebtheit.
„Bleib noch ein bisschen, süße Erinnerung, bleib und erzähl mir von uns“, flüsterte er in den spätenabendlichen Herbstwind hinein, der bereits den Geruch von Schnee mit sich trug.
Gedankenverloren scharrte er mit seinem Fuß in dem Haufen vergilbten Laubes, das sich an einem der massiven Pfeiler gesammelt hatte. Und wieder segelte ein Blatt trocken und grau davon und mit ihm Gordons Erinnerung.

Er reiste zurück in die Vergangenheit. In eine Zeit, als im Radio Peter Schilling und Nena gespielt wurden, als Frauen Leggings trugen, Alf das Fernsehen eroberte, ein Schauspieler die USA regierte, die Öko-Bewegung anfing die Politik zu entdecken und Gordon als Sechzehnjähriger das erste Mal in seinem Leben, die Glut wahrer Liebe spürte.
Sie war siebzehn, hatte lange braune Haare, die ihr wie zarte Schokoladenfäden den schmalen Kopf entlang bis über ihre knochigen Schultern flossen. Ihre grünen Augen blickten ihn herausfordernd an, lockten ihn, bis er sich wie hypnotisiert auf sie zu bewegte. Er, der Außenseiter der Jugendgruppe und sie, die unerreichbare Prinzessin, ein undenkbares Paar und doch musste er es versuchen. An diesem Tag auf der Brücke wollte er sie zu seiner Göttin erheben, ihr seine Seele schenken. Doch noch bevor er ihr seine brennende Leidenschaft gestehen konnte, verzog sie ihr liebliches Gesicht zu einer höhnischen Fratze.
„Geh und küss deine Mama, Affengesicht!“, spöttelte sie unter dem Gejohle der Anderen.
Benommen schwankte Gordon zurück und klammerte sich an das Brückengeländer. Ihre Worte wirkten wie eine rasiermesserscharfe Klinge, die quer durch seinen Körper fuhr. In diesem Moment löste sich die junge Liebe aus seinem Herzen, plumpste als verkrüppelte Leiche in den Teich und versank unwiderruflich.

Bei der Erinnerung rannen Gordon Freefall, wie damals, die Tränen über die Wangen. Doch dann lächelte er.

„Die Zeit heilt alle Wunden“, hatte seine Mutter gesagt, als er nach dieser Schmähung zuhause auf dem Sofa schluchzend sein Gesicht an ihre Brust gedrückt hatte.
Damals hatten diese Worte ihn nicht trösten können, doch je älter er wurde, umso klarer erkannte er den geheimen Sinn der sich dahinter verbarg. Er reifte zu einem stattlichen Mann heran. Frauen drehten sich nach ihm um, und es kam die Zeit, da spielte er ein umgedrehtes Spiel, mit seinen ganz eigenen Regeln.
Immer dann, wenn eine dieser langhaarigen, grünäugigen Schlangen es geschafft hatte, sein Herz zum Erglühen zu bringen, führte er sie zu der alten Holzbrücke. Er zeigt ihr den Mond, wie er seine zitternden Grimassen in den Teich malte, strich seinem Spielzeug mit den Fingern zärtlich die Lippen entlang und presse schließlich seine Hand unnachgiebig auf ihren Mund, während er mit der anderen die stählerne Klinge mit einem kräftigen Ruck von hinten in ihr Herz stieß.
„Du suchst Liebe, suchst Leidenschaft?“, flüstere Gordon den Frauen dann ins Ohr, „dort unten am Grund des Teichs wirst du die meine finden!“

Die Polizei hatte in den letzten dreißig Jahren im Teich einige Opfer dieser Liebe gefunden, ohne Gordon auf die Schliche zu kommen. Doch das alles sollte bald vorbei sein. Denn seine Prinzessin war nach langer, langer Zeit aus der Großstadt in die alte Heimat zurückgekehrt. Und sie sah aus, als könnte sie eine starke Schulter gebrauchen.
 



 
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