Tante Mia strickt

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DocSchneider

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Tante Mia strickt, sie strickt immerzu, sie strickt ihr ganzes Leben in bunte Wolle, sie strickt ihr ganzes Leben lang schon, das Knäuel ruht auf ihrem grauen Rock, von den Schenkeln weit gespreizt. Tante Mia ist ledig, wird es auch bleiben, aber sie weiß viel und sie erzählt viel.

Bevorzugt am Sonntagnachmittag, wenn die Familie zusammentritt, vor dem Montag, der immer so pflichterfüllt ist, aber notwendig, um den nachmittäglichen Kaffee überhaupt zu überstehen. Tante Mia strickt und redet dabei, zeigt ihr Gebiss mit dem entzündeten Zahnfleisch, greift zwischendurch zu Kaffeetasse und selbstgebackenem Streuselkuchen.

Tante Mia strickt für Mutter eine neue Jacke, jetzt ist Hochsommer, aber der nächste Winter kommt ja bestimmt, und Mutter lässt sie gewähren, ist sie doch noch selig benommen vom sonntäglichen Schäferstündchen mit Vattern, der ihr die Hand tätschelt und Tante Mia nicht zuhört. Ebensowenig wie die Tochter, welche für 90 Minuten ihr Handy ausgestellt hat, damit die heilige Ruhe des Sonntagnachmittagskaffees nicht gestört wird. Es gibt für die Tochter nichts Spießigeres als eine derartige Runde, aber als Einzelkind hat sie keine Chance, ihre Generation nicht zu vertreten.

Stattdessen lauschen alle Tante Mias Erzählungen, die sie unaufhörlich strickend von sich gibt, frei nach dem Motto: Eine Frau hat immer Arbeit zwischen den Fingern! Sie erzählt vom Krieg, immer wieder, natürlich, die anderen Generationen haben ja keine Ahnung vom Krieg und damit auch nicht vom Leben, von dem selbst auferlegten Zölibat, weil der damals Angebetete den Krieg nicht überlebte. Ja, so etwas macht hart, stahlhart, und nur die vielen Stricksachen erzählen von einem ungelebten Leben, das nicht mehr stattfand. Dieses verdammte Totschlagsargument, dass "ihr ja den Krieg nicht erlebt habt und gar nicht wisst, wie gut es euch geht", das kann niemand mehr hören, aber jeder hört es jeden Sonntag geduldig an.

Mutter isst viel zu viel Streuselkuchen, muss verlorene Kalorien ersetzen, kann sie sich das leisten, nein, kann sie nicht, aber Vattern ist ja selbst kein Adonis und schlägt ebenso erbarmunglos beim Kuchen zu, in Gedanken schon beim Schnaps, den er danach zur Verdauung braucht. Die Tochter behält die Uhr im Auge und zählt die Minuten. Noch 30.

Dann Freiheit. Für alle.

Nur nicht für Tante Mia. Sie wird weiterstricken, bis ins Grab, und was macht die Familie dann am Sonntagnachmittag?
 

jon

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Tante Mia strickt, sie strickt immerzu, sie strickt ihr ganzes Leben in bunte Wolle, sie strickt ihr ganzes Leben lang schon, das Knäuel ruht auf ihrem grauen Rock, von den Schenkeln weit gespreizt. Tante Mia ist ledig, wird es auch bleiben, aber sie weiß viel und sie erzählt viel.
Der Rock ist (auf)gespannt, die Schenkel gespreizt
Das mit beides dem Leben ist klanglich doppelt und inhaltlich ein ungeschickter Ebenenwechsel. Erst kommt ganz kronkret, dass sie immer strickt, dann eher übertragen, dass sie offenbar alles strickend verarbeitet (oder dich eher alles in Gestrickets einhüllt"?), dann rutscht es wieder zum konkreten "sie strickt schon immer".
Was hat "ledig sein" mit "wissen" so zu tun, dass es mit "aber" gekoppelt werden kann?

Bevorzugt am Sonntagnachmittag, wenn die Familie zusammentritt, vor dem Montag, der immer so pflichterfüllt ist, aber notwendig, um den nachmittäglichen Kaffee überhaupt zu überstehen. Tante Mia strickt …
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Der erste "Satz" hängt in der Luft. Er täte es nicht, wenn er ohne Absatz am "erzählt viel" dranhängen würde.
Ein Rat oder Gremium tritt zusammen (um etwas zu klären oder zu beschließen oder zu besprechen), eine Familie trifft sich meist nur. Falls du wirklich zusammentreten meinst, dann: Wenn Mia die ganze Zeit plappert, ist das kein Familienrat (weil nichts geklärt wird oder so).

Tante Mia strickt für Mutter eine neue Jacke, jetzt ist Hochsommer, aber der nächste Winter kommt ja bestimmt, und Mutter lässt sie gewähren, ist sie doch noch selig benommen vom sonntäglichen Schäferstündchen mit Vattern, der ihr die Hand tätschelt und Tante Mia nicht zuhört. Ebensowenig wie die Tochter, welche für 90 Minuten ihr Handy ausgestellt hat, damit die heilige Ruhe des Sonntagnachmittagskaffees nicht gestört wird. Es gibt für die Tochter nichts Spießigeres als eine derartige Runde, aber als Einzelkind hat sie keine Chance, ihre Generation nicht zu vertreten.
Wie: "Ruhe"? Ich denke Mia plappert?
Und zumindest die Eltern scheinen nicht - wie oben behauptet – auf den Montag angewiesen zu sein, um die Kaffeerunde zu überstehen.

Stattdessen lauschen alle Tante Mias Erzählungen, die sie unaufhörlich strickend von sich gibt, frei nach dem Motto: Eine Frau hat immer Arbeit zwischen den Fingern! Sie erzählt … Ja, so etwas macht hart, stahlhart, und nur die vielen Stricksachen erzählen von einem ungelebten Leben, das nicht mehr stattfand. Dieses verdammte Totschlagsargument, dass "ihr ja den Krieg nicht erlebt habt und gar nicht wisst, wie gut es euch geht", das kann niemand mehr hören, aber jeder hört es jeden Sonntag geduldig an.
Am Anfang: MOOOMENT! Sagtest du nicht gerade, die hören alle nicht zu? Jetzt lauschen sie sogar??
„Stahlhart“ und „Stricksachen“ beißt sich. Das ist ok, wenn Mia "stahlhart" sagt und strickt. Aber sie wird wohl nicht zugleich sagen, dass ihre Stricksachen von einem ungelebten Leben erzählen.
Todschlagargument wofür oder wogegen? Mia erzählt nur – keine Rede von Forderungen oder Ähnlichem.

Mutter isst viel zu … Minuten. Noch 30.

Dann Freiheit. Für alle.

Nur nicht für Tante Mia. Sie wird weiterstricken, bis ins Grab, und was macht die Familie dann am Sonntagnachmittag?
Die Idee "nur nicht für Mia" finde ich gut. Die Frage, was die Familie dann macht, passt aber nicht dazu. Auch als Konstruktion ist die Klammer von "Mia strickt" bis "Mia stickt bis ins Grab" kraftvoller als die von „Mia strickt" nach "Mia strickt bis ins Grab. Und was macht die Familie dann?". Diese Frage stellt sich ohnehin von selbst ein, oder?


Alles in allem trotzdem locker-flockig, nur sollte bei so kurzen, "lakonischen" Texten jedes Detail exakt sitzen. Das Geschichtchen ist nicht zum Lachen und auch nicht wirklich heiter. Eher melancholisch. Mein Grundeindruck: Ich mag diesen „Entwurf“.
 

DocSchneider

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Jon: Sehr gut beobachtet resp. gelesen. ;-) Ich werde einiges ändern. Der Grundton ist zwischen ironisch-melancholisch-heiter, wobei das Ganze nicht wirklich zur gewählten Kategorie passt. Ich glaube, ich muss es zur Prosa verschieben - nach der Änderung. (weiß aber nicht, wie das geht.)
LG Doc
 

jon

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Sag mir einfach Bescheid, wenn du den Text verschiebbereit hast! (Verschieben können nur die Redakteure und Admins.) Ich würde den Text aber auch hier „ertragen“ - auch ohne Schenkelklopfer. Trotz Melancholie ist der Text ja nicht düster oder traurig. Dieses ungeschönte Erzählen aus der Distanz heraus ist nicht untypisch für „leichte" Texte. Loriot hat das auch gemacht, wobei er natürlich mehr oder weniger stark überzeichnete und Sit-Com-Elemente verwendete.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
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Tante Mia strickt, sie strickt immerzu, sie strickt ihr ganzes Leben in bunte Wolle, das Knäuel ruht auf ihrem grauen Rock, von den Schenkeln weit gespreizt. Tante Mia ist ledig, wird es auch bleiben. Sie erzählt viel.

Bevorzugt am Sonntagnachmittag, wenn die Familie zusammentritt, vor dem Montag, der immer so pflichterfüllt ist. Tante Mia strickt an diesen Nachmittagen und redet dabei, zeigt ihr Gebiss mit dem entzündeten Zahnfleisch, greift zwischendurch zu Kaffeetasse und selbstgebackenem Streuselkuchen.

Tante Mia strickt für Mutter eine neue Jacke, jetzt ist Hochsommer, aber der nächste Winter kommt ja bestimmt, und Mutter lässt sie gewähren, ist sie doch noch selig benommen vom sonntäglichen Schäferstündchen mit Vattern, der ihr die Hand tätschelt und Tante Mia nicht zuhört. Ebensowenig wie die Tochter, welche für 90 Minuten ihr Handy ausgestellt hat, damit die heilige Ruhe des Sonntagnachmittagskaffees nicht gestört wird. Es gibt für die Tochter nichts Spießigeres als eine derartige Runde, aber als Einzelkind hat sie keine Chance, ihre Generation nicht zu vertreten.

Stattdessen tun alle so, als ob sie Tante Mias Erzählungen lauschen, die sie unaufhörlich strickend von sich gibt, frei nach dem Motto: Eine Frau hat immer Arbeit zwischen den Fingern! Sie erzählt vom Krieg, immer wieder, natürlich, die anderen Generationen haben ja keine Ahnung vom Krieg und damit auch nicht vom Leben, von dem selbst auferlegten Zölibat, weil der damals Angebetete den Krieg nicht überlebte. Ja, so etwas macht hart und nur die vielen Stricksachen erzählen von einem ungelebten Leben, das nicht mehr stattfand. Dieses verdammte Totschlagsargument, dass "ihr ja den Krieg nicht erlebt habt und gar nicht wisst, wie gut es euch geht", das kann niemand mehr hören.

Mutter isst viel zu viel Streuselkuchen, muss verlorene Kalorien ersetzen, kann sie sich das leisten, nein, kann sie nicht, aber Vattern ist ja selbst kein Adonis und schlägt ebenso erbarmunglos beim Kuchen zu, in Gedanken schon beim Schnaps, den er danach zur Verdauung braucht. Die Tochter behält die Uhr im Auge und zählt die Minuten. Noch 30.

Dann Freiheit. Für alle.

Nur nicht für Tante Mia. Sie wird weiterstricken, bis in ihr Grab.
 
Hallo DocSchneider,

mich hat dieser Beitrag tief berührt. Geballte Tragikomik! Ich habe die Tante Mia ins Herz geschlossen.
Wenn Du die Einwände von jon (von Amts wegen ein strenger Richter) berücksichtigst, kann daraus was ganz Gutes werden.
Lieben Gruß
Eberhard Schikora
 

jon

Mitglied
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Hab es, ohne in die Anmerkungen oder den alten Text zu schauen, nochmal gelesen. Und finde es gut. Es ist etwas kompakter geworden, "härter", oder? Hat der Wirkung gutgetan, denk ich.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
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Eberhard S.: Dankeschön! Ich sehe Tante Mia eher negativ. Aber das ist ja gerade das Gute, wenn ein Text völlig verschieden wirkt ;-)
Jon: Ja genau, ist härter und das sollte er auch sein. Deine Anmerkungen sind immer hilfreich. Das ist für mich vernünftige Textanalyse und Kritik - fern jeglicher persönlicher Ebene.
So, das musste endlich mal gesagt werden!
;-)
 



 
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