Tanz der Seelen (Prolog)

cara

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Prolog

Sie hatten es immer schon gespürt, dieses Band zwischen ihnen, dass seit Urzeiten zu existieren schien. Schon Äonen vor ihrer Geburt in dieser Welt, weit über ihr bloßes Dasein hinausgehend. Nichts konnte sie trennen, und nichts durfte sie jemals trennen. Und so zweifelten sie nicht mehr, dass sie eingehen durften in das dunkle Haus, auch vor ihrer Zeit, selbstgewählt. Gemeinsam würden sie durch das Tor treten und hinüber gehen auf die andere Seite. Auf diese Weise wäre es nicht mehr möglich, die eine von der anderen Seele zu scheiden. Sie würden eins sein und bleiben auf ewig, durch alle noch kommenden Zeitalter hindurch, und nie wieder würde etwas zwischen sie treten können.
Sie wussten, was sie taten. Sie waren sich vollkommen klar darüber, dass diese Welt sie als Sünder sehen würde. Ihre Körper, oder was von ihnen übrig bliebe, würden auf ungeweihtem Boden bestattet werden. Doch das waren nur ihre sterblichen Hüllen; vergängliche, fragile Schleier ihrer Seelen, luftige Hütten, die schon innerhalb eines einzigen, kurzen Menschenlebens fadenscheinig wurden und ihrer unsterblichen Essenz nur noch ungenügenden Schutz boten. Die sie am Boden hielten, ihnen das Fliegen zu verweigern und sie zu beschweren. Ihre Seelen würden frei werden von diesem Zwang, sobald sie den letzten Schritt getan hätten. Und ihre brutalen Verfolger würden zu spät kommen, ihre Aufgabe noch erfüllen zu können. Denn sie würden schon für immer vereint sein, wenn diese sie eingeholt haben würden. Nur noch eine kurze Weile...
Sie hielten sich bei den Händen, schon die ganze Zeit über auf ihrem Weg, und langsam hatten sie sich selbst und gegenseitig überzeugt, dass sie keine Wahl hatten. Da sie zusammen gehörten, ein Jeder Teil des Anderen war, mussten sie nun mutig sein, ihre Angst besiegen, die ihnen die Kehle zuschnürte, und mussten die bange Frage zum Verstummen bringen, die ihre Gedanken quälte. Nein, sie durften nicht wankend werden. Sie taten das Richtige, das Einzige. Ihre Hände fassten sich fester in dem festen Vorsatz, sich nicht mehr voneinander lösen zu wollen.
So gelangten sie schließlich an das Ziel ihrer Reise. Mit pochenden Herzen, die im Gleichtakt schlugen wie ein gemeinsames, standen sie da und sahen sich nicht mehr um. Langsam wandten sich ihre Köpfe einander zu, und sie blickten sich noch ein letztes Mal in die Augen. Stumm, denn der Worte waren keine mehr zwischen ihnen; schon lange waren sie über diese hinaus. Noch einmal versenkten sich ihre Blicke, verschränkten sich innig. Und ein letztes Mal sanken sie so ineinander, zogen den anderen in sich hinein, wurden zu einem Wesen, einem Leib, einer Doppelseele.
Nur eine Bewegung, und sie fielen. Endlos schien die Zeit sich zu dehnen, und dennoch ließen sich ihre Hände nicht los. Ein letztes Mal drehte sich der rechte Kopf dem Linken zu, sah im letzten Bruchteil der allerletzten Sekunde noch einmal das Antlitz des Partners. Die Lider locker über den unglaublichsten blauen Augen geschlossen, das marmorblasse, fein gemeißelte Profil entspannt und von einem überirdischen Leuchten erhellt. Die langen, blonden Locken flatterten im Wind...
Sie spürten den Aufprall nicht, der ihre Körper auf den gezackten Felsen zerschmetterte. Das Einzige, was sie fühlten in der lichtlosen Dunkelheit, war, wie sie immer leichter wurden und stetig immer höher stiegen. Und als sie ihre wahren Augen öffneten - nicht die, welche sie so bereitwillig zurück gelassen hatten - sahen sie dieses warme, tiefblaue Strahlen, erkannten sich gegenseitig und ließen sich ineinander fließen; wurden für einen kurzen Moment wahrhaft eins.
Bis etwas schief zu laufen begann. Plötzlich und ohne Vorwarnung zog es die Beiden, die nun eins waren, in zwei verschiedene Richtungen auseinander. Verzweifelt klammerten sie sich ineinander fest und spürten doch schon die fürchterliche Unausweichlichkeit der Ereignisse. Sie hatten einen schändlichen Fehler begangen. Niemals, unter keinen Umständen, hätten sie tun dürfen, was sie vollbracht hatten, niemals hätten sie ihre sterblichen Hüllen auf diese Weise entweihen dürfen! Das schreckliche Unrecht ihrer Tat wurde ihnen schlagartig bewusst, bevor sie mit einem letzten Ruck schmerzhaft und qualvoll getrennt wurden.
Und da sie sich so beharrlich und mit aller Kraft aneinander festgehalten hatten, rissen sie sich gegenseitig Teile ihrer Seele fort, fühlten den grausamen Schmerz des gespalten werdens und des zerteilt seins. Immer weiter wurden sie voneinander entfernt, spürten die andere Hälfte ihrer selbst kaum noch, um so peinigender aber die eigene Amputiertheit. Die Seele, deren sterbliche Hülle im letzten Moment noch einen Blick auf ihre Geliebte geworfen hatte, stellte schließlich mit namenlosem Schrecken fest, dass sie allein zurück geblieben war. Ihr Gegenstück, das allein sie vollständig machen konnte, war verschwunden. In die bodenlose Verzweiflung hinein, in der die Seele sich daraufhin erging, sprach eine Stimme zu ihr, wie aus ihr heraus und gleichzeitig in sie hinein:

"Du wirst zurück geschickt, jetzt sofort, und du wirst selbst sehen müssen, wohin du gelangst. Ich kann dir sagen, es wird nur eines von vielen Malen sein, die du wirst zurückkehren müssen. Das Eine aber höre, und merke es dir wohl, auf dass du es niemals mehr vergessen sollst, wie viele Leben dir auch noch beschieden sein werden:
Frevle niemals mehr deinem Seelenhort auf die Art, wie du daran getan!"

Und noch während die strenge und doch liebevolle Stimme verklang, spürte die von verzweifelter Ausweglosigkeit erfüllte Seele einen starken, stetigen Zug und bemerkte schließlich ein grelles, kaltes Licht, dass ihr durch und durch ging, stetig allumfassender wurde und sie schließlich überflutete. Kälte war rings um sie, so plötzlich und schmerzhaft, dass sie gequält aufschrie, bevor sich eine alt bekannte und doch gänzlich neue Nacht um sie schloss und alle Erinnerung mit sich nahm.
 



 
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