Tatmotiv: Angst

Delirium

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Tatmotiv: Angst

Die letzten Sonnenstrahlen des Jahres blendeten ihn, als er das große, weißgestrichene Stahltor durchschritt. Es quietschte beim Öffnen, als wolle es sagen: „Glückwunsch, hier haben sie seit Jahren keinen mehr rausgelassen!“. Und weiß Gott, das hatten sie nicht.
Die staatliche Nervenheilanstalt sah aus, wie der Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses für Lebenslängliche. Fast 30 Meter hoch ragten die kahlen, makellos weißen Wände in den spätsommerlichen Himmel, geziert allein von den symmetrischen Fenstergittern. Der asphaltierte Hof wurde von einem fast vier Meter hohen Stahlzaun gesäumt, über den zusätzlich mehrere Reihen Stacheldraht gespannt waren. In jeder Himmelsrichtung stand ein Wachturm, auf dem sich zu jeder Tages- und Nachtzeit fünf bis sechs schwerbewaffnete Wärter befanden, die mit ihren Scheinwerfern auch der kleinsten Bewegung nachgingen.

Zu seiner Linken ging ein Wärter, der seine wenigen Habseligkeiten in einer Sporttasche trug. Es war ein gedrungener, kahlköpfiger Mann mit stählernem Gesicht; ein Vietnamveteran, wie er im Buche steht. "Viel Glück da draußen!“, grunzte er, ließ die Tasche auf den Bürgersteig fallen und schloss das Tor hinter sich.
Nun war er allein. Unschlüssig blieb er neben der Sporttasche stehen. Ein Wagen hielt und eine aufgedonnerte Frau Mitte 50 stieg aus. "Hank! Huhu! Ich bin's! Deine Tante Marge!”. Sie stürzte auf ihn zu, erschrocken wich er zurück. Ihr lockiges, blondes Haar fiel offen unter einem mit Blumen verziertem Strohhut hervor und ihre Nägel waren grellrot lackiert. Auf Kinder musste sie wie die böse Hexe aus dem Märchen wirken. Doch was eine Hexe war, wusste er nicht.

Ihr Lippenstift war etwas verwischt, aber er bemerkte es nicht. Er hatte ja noch nie zuvor Lippenstift gesehen. Obwohl er Angst vor ihr hatte, stieg er in ihr Auto. Sie hatten ihm gesagt, sie würde sich um ihn kümmern und er solle nett und höflich zu ihr sein. Wenn er tat, was sie sagte, würde sie ihm nichts tun. Das Auto fuhr los. Jeder konnte ihn von draußen sehen, überall waren Glasscheiben. Er versuchte, sich unter den Sitzen zu verstecken, doch dann wurde die Frau böse, sie schrie ihn an und dann setzte er sich wieder auf die Rückbank.
Er hatte immer versucht, sich zu verstecken. Er hatte Angst gehabt, vor den Männern in den weißen Anzügen, die ihn manchmal nächtelang in einem hellerleuchteten Raum an eine senkrechte Matratze gebunden hatten. Nie hatte er geschrieen oder sich gewehrt. Er hatte nur versucht, sich zu verstecken, wenn sie nicht da waren. In seinem kleinen Raum, in den er meist gesperrt war, hatte er sich sicher gefühlt. Niemand war zu ihm hereingekommen und er musste nicht nach draußen.

Das seltsame Gefährt, in dem er jetzt saß, machte ihm wieder Angst. Er konnte sich hier nicht verstecken, weil überall Scheiben waren. Scheiben, durch die sie ihn sehen konnten und wenn sie ihn sehen konnten, konnten sie mit ihm machen, was sie wollten.
Das war schon immer so gewesen. Nur in der Dunkelheit war er sicher gewesen, Licht war böse, Dunkelheit war gut. Er wollte gern zurück in seine kleine Zelle, doch das hatten sie ihm nicht erlaubt. Er war unartig gewesen. Obwohl sie ihn nie geschlagen hatten, wusste er, dass er böse gewesen war. Warum sonst hätten sie all die Dinge mit ihm gemacht, deren Sinn und Zweck ihm immer unklar geblieben war? Spritzen hatten sie ihm gegeben, und Elektroschocks. Und manchmal musste er sich stundenlang seltsame Filme ansehen und sollte dann darüber erzählen. Er hatte gesagt, dass er Angst vor diesen Filmen hatte und dass die Dinge, die er sah, sehr neu und unbekannt für ihn waren. Meist war er sehr stolz, den Männern mit den weißen Jacken sagen zu können, was er gesehen hatte, obwohl ihm für viele Dinge in diesen Filmen die Worte fehlten. Als er neu in dem großen weißen Haus am Rande der Stadt war, hatte er kaum sprechen gekonnt. Jetzt aber hatte er viel gelernt.

Das Auto hielt vor einem kleinen Haus in der Vorstadt. Es war rot gekachelt und von einem kleinen Garten umgeben. Ein solches Haus hatte er in einem der Filme einmal gesehen.
Seine Tante stieg aus und öffnete seine Tür. Vorsichtig und leicht geduckt verließ er das Auto. Die Sonne blendete ihn und er klammerte sich an seine alte Sporttasche. Sie war grün und hatte deutliche Gebrauchsspuren und an einer Seite war ein Bild von Donald Duck aufgedruckt.
„Komm, Hank, ich zeige dir dein neues Zuhause!“, sagte Tante Marge mit einem Lächeln, das irgendwie künstlich wirkte. Doch so wirkte eigentlich alles an ihr. Ihm fiel es nicht auf. Vorsichtig, ganz vorsichtig folgte er ihr zur Tür und schließlich ins Haus. Er wurde eine Treppe hinaufgeführt und in ein kleines Zimmer gebracht. Darin stand ein rustikaler Kleiderschrank, der mit Schnitzereien verzierte Türen hatte, ein ebenso rustikaler Tisch mit zwei Stühlen und einer Vase voll mit Blumen in allen nur erdenklichen Farben. Gegenüber des Schrankes war ein Bett nebst einem kleinen Nachttisch, auf dem eine schlichte, kleine Lampe stand. An den hellgelb gestrichenen Wänden hingen hier und da gerahmte Gemälde von Sonnenblumen und Landschaften. „Mach es dir gemütlich, Hank, dies ist jetzt dein Zimmer. Weißt du, es stand lange leer, seit meine älteste Tochter ausgezogen ist. Sie wohnt jetzt in der Stadt, da studiert sie nämlich. Sie ist in deinem Alter, vielleicht kann ich sie ja anrufen, dass sie dir die Gegend zeigt“, beendete die Tante ihren Redeschwall. Er hatte zwar nicht alles verstanden, aber er wusste, dass dieses Zimmer jetzt ihm gehörte und dass er sich hier verstecken konnte. Das beruhigte ihn. „Ich geh mal fix in die Küche runter und zaubere uns was leckeres zum Mittagessen“, flötete sie, „du hast sicher lange nichts anständiges zu essen bekommen, da drin!“. Das „da drin“ betonte sie mit einer seltsamen Mischung aus Mitleid und Verachtung. Tänzelnd bewegte sie ihren voluminösen Körper die Treppe hinunter.

Immer noch an seine alte Sporttasche geklammert blieb er kurz unschlüssig in der Mitte des kleinen Zimmers stehen. Dann entschloss er sich, sich das Zimmer näher anzusehen, was für ihn großen Mut bedeutete. Denn wer wusste schon, was sich hinter den Schranktüren oder unter dem Bett verbarg? Er kniete sich auf den Boden und guckte gespannt, aber auch angstvoll unter das Bett. Ein paar Schuhkartons, sonst nichts. Sie schienen nicht gefährlich zu sein. Vorsichtig stieß er einen Karton mit der Hand an, doch nichts passierte. Geradezu erleichtert richtete er sich wieder auf, um den Kleiderschrank zu inspizieren. Mit einem Arm drückte er die Tasche eng an sich, mit der anderen Hand öffnete er die linke Schranktür und wich etwas zurück. Der Geruch eines Raumdufters schlug ihn entgegen. Im Schrank hingen ein paar Kleidungsstücke; ein schwarzer Anzug, einige Hemden und Hosen, ein Bademantel. Neugierig und mit genügender Vorsicht schlich er sich wieder näher an den Schrank, berührte das eine oder andere Hemd, so als wolle er sich davon überzeugen, dass sie echt und keine Einbildung sein.

„Ha-Hank!“, trällerte es von der Treppe, „das Essen ist gleich fertig!“. Erschrocken blickte er sich um und warf den Schrank schnell wieder zu. Mit beiden Armen umklammerte er die Tasche, als Marge Mason ins Zimmer kam. „Hank, das Essen wird kalt! Komm runter! Und die Tasche kannst du gleich ausräumen. Jetzt komm schon!“.
Doch er rührte sich nicht. Er starrte sie an, verkrampft an die Tasche geklammert, als wolle er sich mit ihr schützen. Marge wurde ungeduldig. Sie nahm ihm die Tasche mit einem Ruck weg und warf sie aufs Bett, dann zog sie ihn zur Tür. Er wehrte sich nicht, denn in der Klinik hatten die Männer in den weißen Anzügen ihm gesagt, er solle tun, was sie sagte, dann würde ihm nichts passieren.
Sonnenstrahlen fielen auf den Küchentisch, an den er sich unten setzte. Marge stellte einen Teller Suppe vor ihm hin. Erwartungsvoll sah er seine Tante an, die mit einem aufmunternden „Iß schon!“ auf den Teller deutete. Neugierig steckte er einen Finger hinein und zog ihn schnell wieder zurück, denn die Flüssigkeit war heiß. Marge verdrehte die Augen. Nicht genug damit, dass sie vier Kinder großgezogen hatte und das auch fast ganz allein, nein, sie war auch noch Hanks Patentante und musste sich nach dem Tod seiner Eltern um ihn kümmern. Sie verfluchte es insgeheim, keine Geschwister zu haben, an die sie diese lästige Aufgabe hätte abtreten können. Zwar war Hank einige Jahre in der Psychiatrie gewesen und sie hatte ihre Ruhe gehabt, aber von „geheilt“ konnte keine Rede sein. Der Junge war ein Psychopath und würde scheinbar auch immer einer bleiben.
Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und begann, ihre Suppe zu löffeln. Interessiert beäugte er sie über den Tisch und begann schließlich, ebenfalls zu essen. Gequält lächelte Marge. Vielleicht würde er sich ja entwickeln.

Nachdem sie die Teller und Löffel in die Spülmaschine geräumt hatte, sagte sie, sie würde kurz einkaufen gehen und Hank solle schon mal seine Tasche ausräumen, sie wäre in einer knappen Stunde wieder da. Was „einkaufen“ war, wusste er zwar nicht, doch er verstand, dass er zurück zu seiner Tasche gehen sollte. Und das tat er. Er setzte sich in dem kleinen Zimmer aufs Bett und öffnete sie. Ein speckiger Teddy kam zum Vorschein, ein grauer Pullover und eine blaue Jeans. Aus der Seitentasche holte er schließlich noch ein kleines, blaues Modellauto. Der Lack war schon sehr zerkratzt und stellenweise ganz abgeblättert. Er versteckte alles unter dem Bett, eilig, als dürfe nie jemand herausfinden, was dort ruhte. Dabei stieß er auch wieder auf die Schuhkartons. Da er sie für ungefährlich befunden hatte, zog er einen hervor und hob den Deckel ab.
Im Karton war ein Stapel Fotos, teilweise recht neu, teilweise aber auch schon vergilbt und zerknittert. Verwundert über diese seltsamen bunten Zettel griff er mit einer Hand hinein und nahm ein paar heraus. Auf den Bildern waren Menschen abgebildet und sie alle waren so furchtbar bunt, wie die Frau in deren Haus er war. Kein einziger hatte weiße Kleidung, wie die Männer in der Klinik am Stadtrand. Mit einem Finger strich er über die glatte Oberfläche eines Fotos. Die Frau erkannte er, sie hatte ihn heute morgen aus der Klinik geholt. Aber das Bild zeigte noch eine andere Person, die deutlich jünger war und ein rotes Kleid trug. Sie hatte lange, kastanienbraune Haare und lachte. Ihr Gesicht sah seltsam verzerrt aus. Panisch warf er die Bilder auf den Boden und griff nach seinem Teddy.

Als Marge vom Einkaufen zurückkam, fand sie Hank zusammengekauert unter dem Tisch in seinem Zimmer. Er hielt seinen Teddy im Arm und starrte sie entsetzt an. Marge blickte sich um und sah die auf dem Boden liegenden Bilder und den Karton auf dem Bett. Genervt schüttelte sie den Kopf, so als glaube sie, sie könne das Szenario von sich schütteln. Dann hob sie wortlos die Fotos auf, legte sie zurück in den Karton und schob ihn unters Bett. Wieder schüttelte sie den Kopf, dann setzte sie sich auf die Bettkante und sah Hank an.
„Hör zu,“ begann sie, „in der Klinik hat man gesagt, du wärst wieder halbwegs bei dir. Vielleicht könntest du dich auch so benehmen, als wärst du es. Mach nicht so ein Chaos hier, seit die Kinder aus dem Haus sind, habe ich mich gefreut, mal wieder etwas Zeit für mich zu haben und so einen wie dich kann ich hier wirklich nicht brauchen. Verstanden?“. Hank sah sie noch immer mit entsetztem Gesicht an. Sie machte eine fahrige Handbewegung, stand auf und ging die Treppe hinunter.
Kurz darauf hörte er sie mit jemandem reden und kroch unter dem Tisch hervor zur Tür. Vielleicht sprach sie mit einem von den Männern aus der Klinik und vielleicht war er gekommen, um ihn wieder zurückzubringen. Doch unten konnte er niemanden sehen. Marge kam wieder nach oben. „Ich habe mit deiner Cousine Jessy telefoniert. Sie wird gleich vorbeikommen und dir dann die Stadt zeigen. Vielleicht ist es ganz gut, wenn du mal unter Menschen kommst. Jessy hat ein paar reizende Studienfreunde, denen sie dich vorstellen kann.“ Damit verschwand sie wieder und er blieb verwirrt in der Tür sitzen.
„Zieh dir was ordentliches an, Junge!“, rief Marge von unten und verschwand im Bad. Er stand auf, umklammerte noch immer den Teddy und ging zu seiner Tasche, die noch offen und halb voll auf dem Bett stand. Ein kurzer Blick hinein, dann holte er einem zerknitterten Block und einen Bleistift heraus und setzte sich an den Tisch. Er begann, die Blumen auf dem Tisch zu zeichnen Als er unten ein Klingeln hörte, unterbrach er seine Arbeit. Unten waren jetzt zwei Stimmen. Sie kamen langsam näher und schließlich trat Marge in sein Zimmer, gefolgt von einer jungen Frau, die ihm bekannt vorkam. Es war die Frau von dem Foto, die so verzerrt ausgesehen hatte. Jetzt sah sie nicht verzerrt aus, eigentlich ganz normal.
„Das ist Jessy, deine Cousine,“ erklärte sie.

Ängstlich musterte er die Frau. „Hallo, Hank. Mensch, ich wusste gar nicht, wie du aussiehst!“ Sie lächelte. Noch immer misstrauisch hob er die Hand. Das hieß „Begrüßung“ und er hatte es aus den Filmen in der Klinik gelernt. „Warum fahrt ihr nicht in die Stadt und guckt euch die Gegend an?“, fragte Marge, „Ich hab nämlich noch einiges zu erledigen.“ Jessy guckte Hank auffordernd an. „Hey, das ist doch eine gute Idee! Wir könnten irgendwo was trinken und uns kennenlernen! Ich kenn da ein nettes Café in der Innenstadt.“

„Ja.“

Das war das erste Wort, das Hank sagte, nachdem er die Klinik verlassen hatte. Und es war das letzte Wort, das er gesagt hatte, bevor er in die Klinik gekommen war. Es war eines der wenigen Worte gewesen, die er sagen konnte. Damals hatten sie ihn gefragt, ob er zwei Menschen getötet habe. Er hatte „ja“ gesagt. Doch „ja“ hatte keine Bedeutung für ihn gehabt. Er wusste nicht, was oder warum er es sagte. Er hatte doch nur kommunizieren wollen. Später wurde er in einen Raum gebracht, in dem es furchtbar hell war – er kannte ja nichts anderes, als die Dunkelheit seines Kellers. Dunkelheit. So viele Jahre Dunkelheit, nur ein winziger Lichtstrahl. Und selbst den hatte er immer gemieden, so lange er sich zurückerinnern konnte.

Jetzt wusste er, was „ja“ bedeutete. Es hieß „zustimmen“. Da die junge Frau harmlos schien, sagte er „ja“. Er benutzte „ja“ auch als Befürwortung für Dinge, die er mochte. „Na, dann komm, wir fahren direkt los. Ich lade dich ein!“, sagte Jessy und wandte sich zum Gehen. Für einen kurzen Moment stutzte er, dann folgte er ihr die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Draußen bedeutete sie ihm, in ihr Auto zu steigen. Er guckte es vorsichtig von allen Seiten an, bevor er sich hineinsetzte. Als sie losfuhren, hatte er kaum Angst, obwohl man ihn von draußen sehen konnte. Die Frau neben ihm würde aufpassen. Diese Gewissheit nahm er allein aus ihrer Stimme. Sie hatte freundlich geklungen. Und sie erklang bald wieder. Schon nach ein paar Minuten fragte Jessy ihn: „Und? Was hältst du von deiner Tante?“. Sie sah ihn kurz durch den Rückspiegel an. „Nein“, sagte er nur. „Nein“ benutzte er nicht nur als Ausdruck der Ablehnung, sondern auch für Dinge, die ihm Angst machten. Und diese Frau, die ‚Marge’ zu heißen schien, machte ihm Angst. Ihre donnernde Stimme, ihr grelles Auftreten, außerdem hatte sie ihn schlecht behandelt. Sie hatte ihm seine Tasche weggenommen.. „Wie meinst du das? Nein?“ fragte Jessy nach. Er guckte verständnislos. Jessy lachte kurz. „Warum sagst du nein? Willst du nichts über sie sagen?“. Er grübelte kurz. Er bemerkte, dass sie nicht zu verstehen schien, was er sagen wollte. Die Männer in der Klinik hatten ihn verstanden, aber jetzt war alles anders. Bedächtig formulierte er einen kurzen Satz: „Hat Angst.“
Jessys Miene verzog sich. Mit besorgtem Unterton hakte sie nach: „Wer hat Angst vor wem?“. Angestrengt überlegte er wieder. Er musste sich irgendwie verständlich machen. Diese Frau hörte ihm zu. Sie war nicht so hektisch, wie Marge. Sie würde ihm helfen können, wenn er es schaffte, sich mit ihr zu verständigen. „Hank.“
„Du?“ Jessy klang irritiert. Langsam wiederholte er: „Hank hat Angst.“ Sie sah erschrocken aus: „Du hast Angst vor Marge?“. Der Wagen hielt vor einem kleinen Café. Er nickte auf dem Rücksitz vor sich hin und murmelte: „Ja, Hank hat Angst, Angst, Hank,...“, während Jessy ausstieg, um ihm die Tür zu öffnen.

Das Haus, das sie betraten, war recht klein und nur ein schummeriges Licht durchflutete den Raum. Hanks Miene hellte sich merklich auf. „Kein Licht!“, flüsterte er erfreut. „Du magst es im Dunkeln, hm?“, stellte Jessy fest, während sie auf einen Tisch zusteuerte. „Setz dich!“, forderte sie ihn auf und rückte einen Stuhl etwas vom Tisch ab. Hank verstand und setzte sich hin. „Kein Licht. Ja.“, sagte er und betonte es, wie etwas sehr wichtiges. Jessy nahm die Getränkekarte, die in der Mitte des Tisches lag und schlug sie auf. „Was möchtest du trinken?“. Sie erwartete eine weitere undeutliche Antwort und bereitete sich innerlich schon darauf vor, die ganze Karte zu bestellen, damit Hank herausfinden konnte, was er mochte und was nicht. Er tat ihr unendlich leid. Kaum fähig, sich zu verständigen und so fürchterlich verängstigt! Sie wusste, wie ihre Mutter auf ihn wirken musste, schließlich hatte sie jahrelang mit ihr unter einem Dach gewohnt und hatte alle ihre Launen mitgemacht. Hank schien ihr so schüchtern und so naiv, dass diese Frau ihm einfach Angst machen musste. Dass er – der kleine Junge im Körper eines Mannes Mitte Zwanzig – seine Eltern getötet haben sollte, konnte sie einfach nicht glauben. Sicher, das war damals, vor knapp fünf Jahren, keine besonders schöne Geschichte gewesen und man konnte sie in jeder Zeitung lesen, aber selbst wenn Hank ein Mörder sein sollte, hätte sie es verstehen können. Mein Gott! Wenn sie daran zurückdachte, wie sie ihn gefunden hatten! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht gewusst, dass sie einen zweiten Cousin hatte. Und dann hatte ihn die Polizei gefunden – völlig verwahrlost, in zerrissener Kinderkleidung, im Keller seines Elternhauses! Verwirrt, in einer Art Trauma und vor der Tür zu seinem Kellerraum die blutüberströmten Leichen ihrer Tante und ihres Onkels.
Im Grunde waren sie doch die Täter, sie, die Hank dort hineingesperrt hatten! Sie konnte kaum glauben, dass das die gleichen Menschen sein sollten, die mit ihr in den Zoo gegangen waren, als sie noch ein Kind war, die selben Menschen, mit deren Sohn sie im Sandkasten gespielt hatte und die selben, die ihr jedes Jahr zum Geburtstag eine riesige Torte mit Zuckergussfiguren mitgebracht hatten, die sie als Kind so geliebt hatte. Ihr anderer Cousin, Hanks Bruder Jake, war seit dem Tod seiner Eltern nicht mehr gesehen worden. Natürlich hatte man nach ihm gesucht, weil die Polizei befürchtete, er sei ebenfalls ermordet worden, doch man fand weder ihn, noch seine Leiche. Irgendwann hatte man sich eben damit abgefunden und schließlich war er alt genug, um allein klarzukommen.

„Milch!“
Jessy schreckte aus ihren Gedanken hoch, als Hank eindringlich wiederholte: „Milch!“ Dabei sah er sie fast lächelnd an. Er lächelt beinahe, dachte sie sich, oder nein, er lächelt zum ersten Mal... Der Gedanke betrübte sie wieder für einen Moment, bis er wieder sagte: „Hank Milch!“. Jetzt lächelte sie auch, winkte der Kellnerin zu und gab die Bestellung auf. Hank guckte sie fragend an, dann begann er zu reden: „Hank kennt Milch. Hank nicht dumm.“ „Oh, nein, nein“, wehrte sie ab, „ich dachte nur... dass... na ja, du eventuell nicht weißt, wie die Getränke heißen, die man hier bestellen kann...“. „Hank das gesehen,“ erklärte er mit etwas Stolz in der Stimme. „Wo?“ Jessy konnte sich nicht vorstellen, dass Hank je in einem Restaurant oder Café gewesen war. „Film,“ kam die knappe Antwort. Sie erinnerte sich, was Marge ihr erzählt hatte, dass man ihm in der Klinik Filme vorgeführt hatte, um ihm das Sprechen beizubringen und ihm Gegenstände zu erklären. Über die Klinik wollte sie nicht sprechen. Es erinnerte sie zu sehr an Hanks trauriges Schicksal. „Anderes Thema!“ schlug sie vor. Etwas verschreckt und recht verwirrt sah er sie aus großen Augen an. Verlegen lachte sie kurz, dann erklärte sie: „Lass uns besser über etwas anderes sprechen! Wir sind doch nicht hier, um an die Klinik zu denken, oder? Wir wollten uns die Stadt angucken und rausfinden, was du so alles verpasst hast... bisher...“. Ihre Stimme wurde wieder leiser und die Fröhlichkeit war gewichen. Sie hatte wieder das Bild eines zitternden jungen Mannes in Kinderkleidung vor Augen, der seinen Teddy fest im Arm haltend in einem dunklen Kellerloch kauerte. Doch Hank schien der Gedanke an die Klinik und sein bisheriges Leben – wenn man es so nennen konnte – nicht zu beunruhigen. „Stadt.“ Er sah zufrieden aus, als er dieses Wort aussprach. Jessy lächelte wieder. Die Kellnerin kam mit den Getränken und stellte die Gläser auf den Tisch. Hank musterte sie von oben bis unten. Sie trug ein schwarzes langes Kleid, darüber eine weiße Schürze. Etwas befremdet erwiderte sie seinen Blick, dann verschwand sie in Richtung Theke. „Freund?“ fragte Hank seine Cousine, die an ihrem Kaffee nippte. Sie nickte. „Ja, sie hat uns doch die Getränke gebracht!“ Sie überlegte kurz, wie sie den Faden wieder aufnehmen könnte, dann sagte sie: „Weißt du was? Wenn wir ausgetrunken haben, zeige ich dir die Stadt! Es gibt hier vieles zu sehen. Wir haben hier einen kleinen Park, wo man spazieren gehen kann und dort ist ein Museum, vielleicht möchtest du es ja sehen.“ Hank starrte sie verwirrt, aber auch neugierig an. Da er keine Antwort gab, sprach sie weiter. „Möchtest du nicht die Milch trinken?“ Hank stutzte. Dann hellte sein Gesicht sich auf: „Milch! Ja!“ Er nahm das Glas und trank es in einem Zug aus. Jessy lachte kurz, dann schluckte sie und fragte: „Möchtest du noch mehr trinken?“ Hank schüttelte den Kopf. „Park.“ Park – das kannte er. In den Filmen, die man ihm in der Klinik gezeigt hatte, hatte er Parks gesehen. Ruhige Orte. Wenige Menschen. Er hatte oft Motive gezeichnet, die er in diesen Filmen gesehen hatte.

Hastig trank Jessy ihren Kaffee aus. Er wollte scheinbar tatsächlich in den Park gehen, so wie sie es vorgeschlagen hatte. „Na dann komm, wir fahren rüber zum Park!“ Sie stand auf und kramte in ihrer Handtasche herum, um das Geld zu suchen. Ihre Mutter hatte ihr etwas zugesteckt, damit sie Hank bloß lange und gut unterhielt und sie ihre Ruhe vor ihm hätte. Hank schien aufgeregt, als er aufsprang. „Park?“ fragte er begeistert und Jessy nickte. „Ja, sofort, ich muss nur eben bezahlen!“ Sie ging zur Theke, doch die Kellnerin war gerade an einem anderen Tisch und so musste Jessy warten. Sie drehte sich zu Hank um, doch er saß nicht mehr am Tisch. Ihr Blick streifte suchend durchs Café. Er war zur Tür gegangen und guckte vorsichtig zu beiden Seiten nach draußen. Ihm drohte hier keine Gefahr, denn die Frau, die seine Tante „Jessy“ nannte, würde aufpassen. Sie war gut zu ihm gewesen. Sie hatte ihn wieder in die Dunkelheit gebracht und sie hatte ihm Milch gegeben. Hank liebte Milch. Sie war ihm vertraut. Er hatte in der Klinik Milch bekommen, jeden Tag. Die Männer in den weißen Anzügen hatten ihm erklärt, er müsse sich sehr gesund ernähren, damit er kräftiger würde. Das verstand Hank.

Jessy wandte sich wieder zur Theke. Die Kellnerin schien ihren Plausch am anderen Tisch noch nicht beendet zu haben. Obwohl sie sich um Hank scheinbar nicht sorgen musste, wurde Jessy langsam, aber sicher ungeduldig. Ein paar Minuten vergingen. Jessy wollte gerade zum Tisch gehen, an dem die Kellnerin noch immer in ein angeregtes Gespräch vertieft war. Doch lautes Lachen, das aus Richtung Tür kam, ließ sie aufschrecken. Sie drehte sich um und sah Hank zusammengekauert vor der Tür auf der Fußmatte sitzen. Eilig warf sie einen Geldschein auf die Theke und lief die paar Schritte herüber, um zu sehen, woher das Lachen kam.
Auf der anderen Straßenseite erblickte sie eine Gruppe Jugendlicher, die mit den Fingern auf Hank zeigten und sich vor Lachen bogen. „Guckt euch den an, das ist zu komisch!“ Jessy stellte sich demonstrativ hinter ihren am Boden zusammengekauerten Cousin und stemmte die Arme in die Seite. Wütend rief sie herüber: „Was ist denn so komisch, ihr Wichte?“ Für einen Moment erstarb das Lachen, dann fand einer der Jugendlichen die Sprache wieder. „Bist du der Babysitter, Schnecki?“ Wieder schallendes Gelächter. Erst jetzt fiel Jessy wieder ein, dass Hank einen Pullover mit Donald-Duck-Motiv trug, der zudem recht ausgewaschen war. Auch seine Jeans hatte sicherlich bessere Zeiten erlebt. „Guckt euch doch erstmal selber an!“ gab Jessy ärgerlich zurück, dann zog sie Hank an einem Arm hoch. Zögernd richtete er sich auf. Die Welt außerhalb seiner kleinen Zelle war böse, soviel wusste er. Aber die Frau war gut zu ihm. Sie half ihm. Sie lachte nicht. Sie machte ihm keine Angst. Während die Jugendlichen weiter ihre Witze machten, schob Jessy Hank sanft, aber bestimmt in Richtung Auto.

Der Park lag nur ein paar Autominuten vom Café entfernt. Einige kleine Bäche durchzogen die Wiesen und im Zentrum des Parks lag ein Spielplatz. Auf der Wiese daneben stand an warmen Tagen ein Eiswagen.
Jessy steuerte einen freien Parkplatz an. Sie hatte Glück, denn er lag im Schatten einiger großer Bäume. Sie stieg aus und öffnete die Tür für ihren Cousin, der mit großen Augen die Umgebung musterte. „Na komm, wir gucken, ob der Eiswagen heute da ist, dann können wir ein Eis essen!“ sagte sie fröhlich. Hank stieg langsam aus dem Auto und deutete staunend auf die Baumgruppe, die dem Parkplatz Schatten spendete. „Baum...“ stieß er ehrfürchtig hervor. Jessy lächelte. „Ja, sogar mehrere!“ Langsam ging Hank auf die Bäume zu, Schritt für Schritt, ganz vorsichtig, so als fürchte er, sie würden ihn jeden Augenblick anfallen können. Als er sein Ziel erreicht hatte, blieb er andächtig stehen, zögerte einen Moment, dann streckte er die Hand aus und legte sie an die Rinde. Sein Blick fuhr staunend den Stamm hinauf. Mehrere Minuten lang verharrte er dort, eine Hand am Stamm des mächtigen Baumes, der Blick verloren im endlosen Grün der Krone.
Jessy wartete geduldig, bis Hank vom Baum abließ und zu ihr zurückkehrte. Seine Augen leuchteten, als er fragte: „Blume?“ „Weiter hinten im Park gibt es Blumen. Sollen wir hingehen?“ erwiderte Jessy und Hank nickte. „Ja.“

Gefolgt von ihrem verblüfften Cousin schlenderte Jessy über den breiten Kiesweg auf das Zentrum des Parks zu. Plötzlich blieb Hank stehen. Jessy drehte sich um und ging zu ihm zurück. Neugierig beäugte er ein paar Blumen in einem der Beete am Rand des Weges. „Gefallen dir die Blumen?“ fragte Jessy, als sie sah, wie interessiert Hank diese musterte. „Ja,“ gab er knapp zurück, kniete sich ins Beet und streckte vorsichtig die Hand nach den Blumen aus. Ganz vorsichtig tippte er eine rote Blüte mit dem Finger an. Er sah zu Jessy auf. „Sehr schön!“ erklärte er und deutete auf die leicht hin und her wippende Blume. Jessy nickte nur stumm. Auf irgendeine Art und Weise beneidete sie Hank. Er hatte die Fähigkeit, auch die kleinen Dinge zu schätzen, die Schönheit zu erkennen, an der andere Tag für Tag in ihrer alltäglichen Hast vorbeieilten. Er kannte noch andere Werte, nein, er erkannte den Wert der Dinge, die der ‚moderne Mensch’ nicht zu schätzen wusste.
Hanks ruckartige Bewegung riss Jessy ebenso ruckartig aus ihren Gedanken. Er hatte die Blume gepackt und abgerissen. „Hank mag Blume,“ strahlte er sie an. „Warum reißt du sie dann ab?“ fragte Jessy leicht erschrocken. Hank setzte eine wichtige Miene auf. „Licht!“ sagte er dann kurz. Als er bemerkte, dass Jessy nicht verstanden hatte, was er meinte, erklärte er: „Licht nicht gut. Schutz für Blume. Mitnehmen. Verstecken.“ Jetzt begriff Jessy. Er wollte die Blume irgendwo im Dunkeln verstecken, damit ihr nichts passieren würde! „Oh nein nein! Blumen brauchen Licht, um zu wachsen! Es geht ihnen sehr gut hier draußen!“ sagte sie hastig. Hank richtete sich auf, betrachtete nachdenklich die Blume in seiner Hand und fragte ängstlich: „Stirbt?“ Mitleidig sah Jessy ihn an. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass die halb zerquetschte Blume tatsächlich keine allzu hohe Lebenserwartung mehr hatte. „Nein. Wir nehmen sie mit nach Hause und stellen sie ins Wasser, ok?“ Hanks besorgte Miene hellte sich auf. „Ja.“

So fuhren die beiden zwar ohne Eis, dafür aber mit der Blume zurück zum Haus von Hanks Tante. Marge war noch nicht wieder zurück. „Wir werden die Blume zu den anderen in die Vase stellen, ok?“ fragte Jessy, als sie die Treppen hochstiegen. „Ja.“ Hank war wieder in seine Einsilbigkeit verfallen. Die Blume hielt er noch immer fest umklammert. Erst in seinem Zimmer reichte er sie seiner Cousine. „Heilt.“ Jessy nickte. „Ja, sie wird wieder heile. Wir stellen sie hier in die Vase...“ begann sie und versuchte, die Blume zu den anderen ins Gefäß zu quetschen. „...dann wird es ihr bald wieder gut gehen.“ Sie bemerkte Hanks misstrauischen Blick und ergänzte: „Es wird ihr besser gehen, als je zuvor! Du wirst ja jetzt auf sie auspassen, nicht wahr?“ Sie hatte es geschafft, die Blume in der Vase unterzubringen und schob diese wieder in die Mitte des Tisches. Hank nickte eifrig.
Jessys Blick fiel auf die angefangene Zeichnung. „Hey, hast du das gemacht?“ erkundigte sie sich. Unsicher erwiderte Hank ihren Blick, gab aber keine Antwort. „Das ist wirklich schön geworden! Du kannst gut zeichnen!“ Jetzt lächelte Hank vorsichtig. Jessy hatte milde untertrieben. Die Zeichnung beeindruckte sie, sie war ein nahezu perfektes Abbild der Blumenvase auf dem Tisch. Fast wie eine Schwarzweißfotographie. Hank hatte jede noch so kleine Schattierung übernommen, jedes Detail gezeichnet. Bewundernd hob Jessy die Zeichnung auf und setzte sich auf den Stuhl. Noch immer lächelnd und nicht ohne einen gewissen Stolz beobachtete Hank sie, wie sie das Bild ansah. „Hank malt gern,“ erklärte er. Nun sah Jessy auf. Malen war nun wirklich das falsche Wort, dachte sie, sagte aber: „Du bist ein richtiger Künstler, das ist wirklich toll!“ Sie überlegte kurz. „Würdest du mich auch mal... malen?“
Das Lächeln aus Hanks Gesicht wich der Verwirrung. Man sah, dass es in seinem Kopf arbeitete. Jessy wartete auf eine Antwort. Fast rechnete sie damit, er würde keine mehr geben. Doch dann sagte er nur knapp: „Ja.“ „Prima!“ Jessy sprang auf und legte die Zeichnung zurück auf den Tisch. “Wo soll ich mich hinsetzen?” Wieder starrte Hank sie eine Weile fragend an, dann sagte er: „Bett.“ Jessy wartete einen Moment, ob eine Erklärung folgen würde. Da diese ausblieb, ging sie langsam zum Bett und setzte sich darauf. Wortlos zog Hank den Stuhl zu sich heran und griff mit der anderen Hand nach seinem Block. Er setzte sich auf den Stuhl, hob den Bleistift auf und legte den Block umständlich auf seine Beine. Langsam kamen Jessy Zweifel, ob wirklich ein Genie in ihm steckte, denn seine Sitzhaltung sah nicht so aus, als würde er irgendetwas zu Papier bringen können, ohne dabei abzurutschen. Doch sie sagte nichts, setzte ein strahlendes Lächeln auf und hielt still. Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen. Jessy wartete, ob Hank etwas sagen würde, doch er blieb stumm. Es gab keine Uhr in seinem kleinen Zimmer, so konnte Jessy nicht sagen, wie lange er gezeichnet hatte. Doch plötzlich sprang er auf und reichte ihr mit einer ruckartigen Bewegung den Block.

Jessy blieb fast das Herz stehen. Diese Zeichnung sah nicht aus, als habe sie jemand mit Bleistift auf einen alten Block gekritzelt. Waren die Blumen nahezu perfekt gewesen, dieses Bild war es. Ihr war, als blicke sie in einen Spiegel. Unsicher sah Hank sie an. „Gut gemalt?“ erkundigte er sich schließlich. Jessy sah auf. „Hank, das ist perfekt! Das ist wirklich wunderschön geworden!“ Gerade wollte sie fragen, ob sie die Zeichnung haben dürfe, da hörte sie die Haustür. Ihre Mutter kam zurück.

„Jessy!“ ertönte noch vor dem Zufallen der Tür Marges schrille Stimme von unten. „Komm mal her!“ Sie klang wütend. „Ich bin gleich wieder da!“ lächelte die Angesprochene und eilte aus dem Zimmer. Hank blieb verwirrt zurück. Er betrachtete seine Zeichnung prüfend und sagte zu sich selbst: „Hank zufrieden. Jessy gut.“ Sie würde wiederkommen, keine Frage. Er glaubte ihr. Sie war gut zu ihm.
Von unten drangen Stimmen, laute Stimmen. Marge und Jessy stritten. Einige Satzfetzen fanden ihren Weg in Hanks Zimmer. „...warum so früh... zurückbringen in das Irrenhaus...“ waren Worte von Marge, „...hab Verständnis... ...wie ein Kind...“ kam von Jessy. Einerseits machten die lauten Stimmen ihm Angst, doch auf der anderen Seite fürchtete er auch, dass Jessy nicht zurückkommen würde. Das durfte er nicht zulassen. Sie war der einzige Mensch, der ihn verstand. Sie war überhaupt der einzige Mensch, der wirklich mit ihm kommunizierte, seine Verbindung zu all den anderen Menschen! Er fasste einen Entschluss. Er würde Jessy retten!
Noch zögernd, aber mit der Kraft der Angst griff er nach der großen Vase auf dem Tisch. Vorsichtig schlich er aus dem Zimmer. Am Treppengeländer blieb er stehen. Unten konnte er Marge und Jessy sehen, ihre Gesichter waren seltsam verzerrt und sie schrieen noch immer. Hanks Herz raste, doch wenn er jetzt nichts tat, würde die grelle Frau Jessy etwas antun. Er atmete tief durch, dann schleuderte er mit aller Kraft die Vase nach unten. Blumen regneten auf die Stufen der Treppe und auf den Boden. Wasser spritzte an die Wände und hinterließ dunkle Flecken. Ein Schrei. Erschrocken über seine eigene Tat taumelte Hank nach hinten, stolperte über eine Teppichkante und fiel zu Boden. Noch ein Schrei, lauter, panischer. Schriller. Die Tür wurde aufgerissen und sofort wieder zugeschlagen. Stille.

Vorsichtig kroch Hank wieder ans Geländer und wagte einen Blick nach unten. Nein! Das durfte nicht sein! Unten auf dem Läufer im Korridor lag Jessy, um sie herum Blut und Blumen und die Scherben der zersprungenen Vase. Hastig rappelte Hank sich auf, stürzte mehrfach fast, als er die Treppe hinuntereilte. Er warf sich neben Jessy auf den Boden und rüttelte an ihr, versuchte, etwas zu ihr zu sagen, doch brachte nur einzelne Silben hervor.
Plötzlich fiel sein Blick auf die halb geöffnete Kellertür. Er würde Jessy verstecken. Ja, er würde auf sie aufpassen und sie wieder heile machen. Er kniete sich hin und hob die schwach atmende Jessy umständlich auf. Mit schwankendem Gang trug er sie zur Tür, die er erspäht hatte. Eine feine Blutspur zeichnete seinen Weg. Vorsichtig schob er mit dem Fuß die Tür auf. Ja. Hier war es dunkel. Hier würde sie niemand finden. Hier würde ihr niemand etwas tun! Die schrille Frau würde sie hier nie entdecken und ihr noch schlimmere Dinge antun können! Wankend ging er Stufe für Stufe die Treppe hinunter, immer tiefer ins vertraute Halbdunkel. Er würde sie gut verstecken, er würde sie wieder heile machen und er würde auf sie aufpassen.
Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Lichtverhältnisse. Unschlüssig blieb er am Ende der Treppe stehen und sah sich um. Noch immer lief Blut aus Jessys Hinterkopf. Hank bemerkte es nicht. Die Tür zu seiner Linken stand offen, dahinter erkannte er gekachelte Wände. Langsam trug er Jessy in diesen Raum hinein. Es war ein altes Badezimmer, seit Jahren unbenutzt, dreckig und dunkel. Sicher. Vorsichtig legte er Jessy in die Badewanne und drehte den Wasserhahn auf. Sie würde wieder gesund werden, so wie die Blume. Er registrierte nicht, dass Jessys Atem verstummt war.

Nachdem die Wanne halb voll war, ging Hank zurück zur Treppe, stieg sie langsam hoch und schloss die Kellertür. Dann kehrte er zu Jessy zurück. Er fühlte sich so wohl, wie schon seit Jahren nicht mehr. Hier in der Dunkelheit würden er und Jessy für immer sicher sein. Er würde nie wieder Angst um sie haben müssen. Von nun an konnte er sie beschützen, so wie seine Eltern ihn beschützt hatten. Zufrieden legte er sich neben die fast überlaufende Badewanne und schlief ein.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
wow,

was für ein Unterschied zu "Gestrandet"! Diese Story ist dir wirklich gelungen. O.k. - ein paar sprachliche Stolpersteine lagen im Weg, aber ich verkneife mir jetzt jegliche Krümelkackerei, denn ich bin viel zu beeindruckt. Kompliment!

Gruß Ralph
 

Delirium

Mitglied
was für ein Unterschied zu "Gestrandet"! Diese Story ist dir wirklich gelungen. O.k. - ein paar sprachliche Stolpersteine lagen im Weg, aber ich verkneife mir jetzt jegliche Krümelkackerei, denn ich bin viel zu beeindruckt. Kompliment!
Danke, mag dran liegen, dass mir Kurzgeschichten in dem Sinne nicht wirklich liegen. Ich brauch schon ein paar Seiten, um mich auszutoben...

Del
 

Zefira

Mitglied
Geht mir genauso...

Tolle Geschichte, spannend von der ersten bis zur letzten Zeile. Die Perspektive Hanks gekonnt und konsequent durchgehalten, einschließlich so sprechender Formulierungen wie "er würde sie wieder heile machen", das gefällt mir besonders!
Zwei Kleinigkeiten: einmal wüßte ich gerne - ich kenne sonst keine Texte von Dir, vielleicht gibt es ja einen einfachen Grund dafür -, warum Du all Deinen Personen englischsprachige Namen gibst?
Dann verstehe ich die Sache mit dem Bruder nicht - ich hatte eigentlich erwartet, daß er sich am Ende als der wahre Täter entpuppt, und dann taucht er gar nicht mehr auf (oder habe ich da was übersehen?).
Aber das nur am Rande; mir gefällt es sehr, wie alles ganz langsam und liebevoll aufgebaut wird bis zum Höhepunkt, wie sich der Text Zeit nimmt, Atmosphäre herzustellen, ohne gleich mit der ganzen Vorgeschichte ins Haus zu fallen. Prima!
:) Zefira
 

Delirium

Mitglied
Re: Geht mir genauso...

Ursprünglich veröffentlicht von Zefira
Tolle Geschichte, spannend von der ersten bis zur letzten Zeile. Die Perspektive Hanks gekonnt und konsequent durchgehalten, einschließlich so sprechender Formulierungen wie "er würde sie wieder heile machen", das gefällt mir besonders!


Danke, danke. :)

Zwei Kleinigkeiten: einmal wüßte ich gerne - ich kenne sonst keine Texte von Dir, vielleicht gibt es ja einen einfachen Grund dafür -, warum Du all Deinen Personen englischsprachige Namen gibst?
Den gibt es, wenn er auch recht banal klingt. Wenn ich schreibe, habe ich eine Figur natürlich vor Augen und gebe ihr entsprechend einen Namen, der zu ihr passt. Das waren in diesem Fall halt englische Namen, da ich mir das Szenario in einer typisch amerikanischen Vorstadt vorgestellt habe.
Hier bei Leselupe ist noch "Gestrandet" von mir, darin verwende ich nur deutsche Namen.

Dann verstehe ich die Sache mit dem Bruder nicht - ich hatte eigentlich erwartet, daß er sich am Ende als der wahre Täter entpuppt, und dann taucht er gar nicht mehr auf (oder habe ich da was übersehen?).
Mein Vorbild für diese Geschichte war die Legende um Kaspar Hauser. Daher habe ich auch hier einen Teil der "Wahrheit" (sofern diese in der Fiktion existiert) im Unklaren gelassen. Mehr als die Andeutung wollte ich darum nicht machen.

Aber das nur am Rande; mir gefällt es sehr, wie alles ganz langsam und liebevoll aufgebaut wird bis zum Höhepunkt, wie sich der Text Zeit nimmt, Atmosphäre herzustellen, ohne gleich mit der ganzen Vorgeschichte ins Haus zu fallen. Prima!
Nochmal: danke. :)

Del
 



 
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