Tauben in der Bäckerei

4,00 Stern(e) 4 Bewertungen
Die Bäckerei liegt im Untergeschoss eines Berliner Bahnhofs - wenn ich in der Stadt bin, frühstücke ich dort manchmal oder trinke nachmittags Kaffee – und auf der gleichen Ebene die Kunden-Center von Deutscher Bahn und S-Bahn, eine Snack-Verkaufsstelle, das WC-Center, die Aufgänge zu den Bahnsteigen. Da unten ist nur Beton, Glas und Metall, eine blank polierte Welt unter Neonlicht, die man in Eile aufsucht und wieder verlässt. Doch eine andere Gattung hat sich auf Dauer niedergelassen – Tauben. Nicht der Hund ist der treueste Begleiter des Stadtmenschen, es ist die Stadttaube.

Zwei Exemplare von columba livia forma domestica trippeln im Durchgang vor der Bäckerei auf und ab. Straßentauben bevorzugen lebenslange Monogamie. Ihr Leben währt nur kurz – zwei bis drei Jahre – und ist entbehrungsreich und allzeit gefährdet. Die beiden hier finden den Anblick der Backwaren in der Auslage sehr verlockend. Solange die Geschäftszeit andauert, versuchen sie, ins Innere des Ladens zu gelangen. Man gönnt es ihnen nicht. Die Angestellten haben einen schwarzen Keramikraben neben der offen stehenden Eingangstür postiert. Die Vögel behalten ihn im Auge, während sie trippelnd vormarschieren, sich an ihm vorbeidrücken. Eines Tages ist der Rabe fort, vielleicht gestohlen, und das Taubenpaar passiert die Tür nun rascher.

Die Verkäuferin versucht eine Zeitlang, die Tauben auf dem Fußboden zu ignorieren. Sie hat viel zu tun. Ein älterer Gast, der gleich hinter der Tür sitzt, zerkrümelt sein Brötchen und wirft Bröckchen vor die Vögel hin. Sie picken hurtig. Andere Gäste schauen unmutig drein. Einer ruft laut: „Jetzt sind die Scheißtauben auch hier schon!“ Die Verkäuferin kommt vor den Tresen und fängt routiniert an, die Tauben aufzuscheuchen: „Ksch, ksch …!“ Dazu maßvolle Armbewegungen, wie bei einer Eurythmie-Vorführung. Die Tiere sollen nur hinauskomplimentiert, nicht in Panik versetzt werden - nicht dass sie im Laden herumflattern, auf die Ware koten oder sich im Lagerraum verirren. Die Tauben wissen Bescheid, man kennt sich. Sie picken noch zweimal und verlassen dann trippelnd das Lokal, den Hunger kaum gestillt. Hart ist das Taubenleben.

Wochen später kommt nur noch eine Taube herein, inzwischen wohl verwitwet. Ich bin der einzige Gast und ich zerkrümele keine Brötchen. Ich mache gleich: „Ksch, ksch …!“ Und ahme jene eurythmischen Armbewegungen im Sitzen nach. Die vereinsamte Taube scheint ein wenig erstaunt, sie sieht mich kurz an und trippelt weiter suchend auf dem Boden herum. Neulich habe ich in der Zeitung gelesen, Tauben merkten sich die Gesichter der Menschen, die sie verjagen. Wäre mir unangenehm. Ach ja, Morgenstern und das Huhn in der Bahnhofshalle: ... dass ihm unsere Sympathie gehört, selbst an dieser Stätte, wo es - „stört“ … Man sollte nicht so viel durcheinander lesen.

Ich sehe noch mal hin. Was ist das? Die Taube trippelt hinkend. Ihr fehlen rechts sämtliche Zehen. Später werde ich bei Wikipedia lesen: „Der Fuß ist als Sitzfuß ausgebildet und anisodaktyl, drei Zehen weisen nach vorn, eine nach hinten.“ Hier weist keine irgendwohin, es ist wie bei einer Uhr ohne Zeiger. Meine Taube hat sich nach der Radikaloperation – Stachelmanschetten sind grausam – einfach umgestellt und setzt den Torso als Stelzfuß ein. In mir regt sich etwas. Ich mache nicht mehr „Ksch, ksch …!“ Aber Brosamen werfe ich ihr doch lieber nicht hin - nicht in der Bäckerei.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo,

ich mag deine Geschichte, obwohl ich diese Tauben auch nicht mag, habe noch nie erlebt, dass sie in ein Geschäft kommen. Gut hast du Fachwissen mit Erlebten verknüpft. Am Ende tat auch mir die Taube leid.
Gern gelesen.

LG Franka
 
Tauben hier und da

Danke, Franka, für die freundliche Reaktion. Tauben habe ich auch anderswo schon in unterirdischen Passagen neben Imbissständen angetroffen. Dass sie dann irgenwann das Innere von Läden erkunden, ist ganz natürlich - sie trippeln ja auch gelegentlich von Balkonen durch offen stehende Türen in die Wohnungen.

Arno Abendschön
 

Ofterdingen

Mitglied
Hübsche Geschichte.

Für meinen Geschmack könnte sie gern ein bisschen weniger gelehrt sein. An dieser Stelle würde ich z. B. irgendwie mehr erwarten, da sollte noch etwas an Handlung nachkommen:
"Neulich habe ich in der Zeitung gelesen, Tauben merkten sich die Gesichter der Menschen, die sie verjagen."

Stattdessen stellt der Erzähler/Autor seine literarische Bildung aus: "Ach ja, Morgenstern und das Huhn in der Bahnhofshalle: ... dass ihm unsere Sympathie gehört, selbst an dieser Stätte, wo es - „stört“ … Man sollte nicht so viel durcheinander lesen."
 
Danke, Ofterdingen, für deine Hinweise, die ich überdacht habe. Im Rahmen eines Kurzprosatextes würde ich es für problematisch halten, etwas an Geschichte hinzuzuerfinden, das ich nicht beobachtet habe. Ich kann ja mal abwarten, was bei meinem nächsten Besuch in jener Bäckerei passiert ...

Soll man denn eine literarische Assoziation unbedingt unterdrücken und weshalb eigentlich? Immerhin habe ich sie ein bisschen ironisiert.

Arno Abendschön
 

Ofterdingen

Mitglied
Ja, ich weiß, du bist ein Schöngeist, jedoch vielleicht manchmal ein bisschen zuviel Geist und zu wenig auf Schönheit bedacht, und gerade die nährt sich meist aus einem Wenig-aber-Richtig und nicht aus einem Möglichst-Viel. Mit der Kürze des Textes hat das eher wenig zu tun.
 

Nina K

Mitglied
Hallo Arno,

es war im Frühsommer, als ich meine einbeinige Taube getroffen habe; oder sie mich, nämlich als sich einbrennendes Bild.

An dem Markt, an dem ich jeden Tag den Bus wechsele, tippeln unzählige von ihnen herum. Den Autos weichen sie nur noch zögerlich störrisch aus, weil sie wissen, dass sie kurz nach der Durchfahrt wieder an den Pickplatz zurückkehren werden - und müssen. Man schenkt ihnen keine Blicke mehr, stampft höchstens mal mit einem Bein, wenn sie gar zu aufdringlich um die Füsse scharren.
Ich guck jeden Tag nach ihr und sehe plötzlich alle anderen - die unterschiedliche Färbung der Federn, die Augen mal dunkel und manchmal auch fast aufdringlich rot; manche scheinen einen Lieblingsplatz zu haben, andere streifen eher wahllos über das Gelände...

Die eine aber hab ich nicht wiedergesehen und es macht mich traurig, dass sie es wohl nicht schaffte, nachdem sie sich lieber den Fuß abriss, als gleich zu sterben.

Ich mag Deine Geschichte, grad weil sie sich gegen gefühlvolle Melancholie zu sperren scheint.

Gruß
Nina
 
Danke, Nina, für diese Abrundung. Ja, wenn man genau hinschaut, kann ein solcher Anblick "sich einbrennen". Mir ist heute noch der herrenlos herumstreunende Hund mit drei Beinen im Gedächtnis, der sich uns vor Jahrzehnten bei einem Besuch der Ruinen von Ostia antica unbedingt anschließen wollte. Mit vier gesunden Beinen wäre er längst von mir vergessen.

Arno Abenschön
 



 
Oben Unten