Temperaturwechsel

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Matsu

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Temperaturwechsel

Das üppige Grün im Park konnte die Hitze dieses sonnigen Nachmittags kaum abhalten. Ich war auf dem Weg vom Arzt nach Hause – mit einem Fieberinfekt bei fast 27 Grad im Schatten. Mit einem Gefühl, als läge ich am Südseestrand auf einem Heizkissen. Absurd. Auch in den Genesungswünschen meines Kollegen, bei dem ich mich am Morgen krankgemeldet hatte, schwang etwas Unverständnis mit. Jetzt, das war doch die kurze Zeit im Jahr, da alles leicht wurde. Ein Frühsommer, der keine Garantie auf Fortsetzung geben wollte.
„Das haben zurzeit viele“, hatte mir der Arzt mit auf den Weg gegeben – professioneller Trost. Wer waren die vielen? Hier waren sie nicht. Hier wirkten alle gelöst. Mütter mit Kinderwagen, Kinder mit Hunden, Hunde ohne Mütter oder Kinder. Männer mit Schmerbäuchen und offenen Bierdosen lagen ausgestreckt im Gras. Arbeitslos. Sorglos, wie es schien. Mir steckte Blei in den Gliedern. Jeder Schritt fiel schwer, als ginge ich nach einem langen Aufenthalt im Wasser gerade wieder ans Ufer. Ich hatte nichts gegen eine arbeitsfreie Woche, aber es schien sicher, dass die Zeit quälend lang und langweilig würde. Schon jetzt hatte ich genug von dem Park, dem Grün, der Sonne und den unbeschwerten Menschen. Nur noch kurz in die Apotheke, in den Supermarkt und dann nach Hause ...
Das letzte Stück der Grünanlage führte am Kanal entlang. Und ganz am Ende, nahe am Ufer, stand dieses kleine Häuschen. Es stand im Schatten einer Trauerweide und duckte sich tief in die feuchte Erde. Umzäunt war es von grünem Maschendraht, der an einigen Stellen eher lag als stand. Den Eingang markierte ein schmiedeeisernes kleines Tor, über das jeder Normalwüchsige einfach hinwegsteigen könnte und das doch so eindeutig und abweisend eine Grenze bildete, dass ich noch nie jemanden dort gesehen hatte, nicht einmal herumstolpernde Jugendliche. Ein, zwei Mal, als ich nachts hier entlanggegangen war, um den Heimweg abzukürzen, war in einem der beiden Fenster des Häuschens tatsächlich Licht zu sehen gewesen. Es kam wohl von einer schwachen Glühbirne, die den Raum nicht ausleuchten konnte, denn es war nichts weiter zu sehen als ein Lichtkegel mit ausgefransten Konturen.
Eine Zeit lang hatte ich heftig überlegt, wer darin wohnen mochte. Ob ich mir einen Mann oder eine Frau besser darin vorstellen konnte. Irgendwann hatte ich mit dann eine alte Einsiedlerin ausphantasiert, in allen Einzelheiten, bis ich sie schemenhaft hinter dem Fenster zu sehen glaubte, jedes Mal, wenn ich dort vorbeiging. Nach einer Weile aber ließ meine Neugier nach. Jetzt, unter dem grellen Mittagslicht, wirkte die Hütte wie ein Stück nutzlos gewordene Kulisse, die hinter der Bühne verstaubt.
***
Mit der buchstäblichen letzten Kraft schloss ich die Wohnungstür auf und ließ die Melone auf den Sessel im Flur fallen. Warum hatte ich die größte von allen nehmen müssen? Mir war schwindelig vom Treppensteigen und auch, weil sich in meiner Nase noch immer die Gerüche aus Apotheke und Supermarkt mischten. Der eine war ein erst Heilung versprechender, dann nur noch widerlich süßer Geruch von verbotenen Drogen und Lockstoffen.
„Das haben zurzeit viele“, fühlte sich der Apotheker noch bemüßigt zu sagen. „Danke“, sagte ich, nicht ganz folgerichtig, und sah flüchtig in seine trüben, verkniffenen Augen. („Und was nehmen Sie, um morgens munter zu werden?“, fragte ich nicht.)
Der andere Geruch war gleich ehrlich eklig, vor allem schimmlig, und hatte mich schon am Eingang in der Gemüseabteilung empfangen. Wenigstens waren beide Geschäfte kühl gewesen; meine Wohnung war es nicht. Die Mittagssonne hatte das nach Südosten liegende Zimmer kräftig mit Hitze betankt. Ich zog das Sofa in die Zimmermitte, um es aus dem letzten Lichtkegel in der Ecke zu nehmen – und auch, weil so Telefon, Radio und Fernseher in Griffweite waren.
Dann tat ich, ich weiß nicht wie lange, gar nichts mehr. Die brennenden Augen geschlossen, verfolgte ich die Umdrehungen in meinem Kopf. Alles, was ich noch registrierte, war ein kühlerer Wind, der von Zeit zu Zeit durch das geöffnete Fenster hereinwehte.

Irgendwann hast du angerufen. Deine Stimme war mitleidig, aber auch fern. Ob ich etwas brauchte? Nein, ich dachte an meine Melone, die groß war und rot und nicht weniger wurde, danke, ich habe alles. Sehr fern klang deine Stimme. Im letzten Jahr, wir wanderten am Strand, hast du dich irgendwann nicht mehr zu mir umgedreht. Du warst immer weiter gegangen, als zöge dich der Wind an einem hellen Band in Richtung Horizont.
Vielleicht war es der Alten in dem Häuschen am Kanal auch so gegangen: Alles trieb von ihr weg, und sie blieb allein zurück.
„Ich habe mich nicht zurückgezogen“, hörte ich sie sagen. „Es war nur so, dass sich alles um mich herum entfernt hat. Es ist einfach passiert.“
Nicht dass ich so enden wollte, aber sie hatte ein kühles Häuschen, das war ihres. Ich hingegen saß in einer aufgeheizten, angemieteten Wohnung. Das Fieber begann, mir meine Wünsche zu diktieren. Dagegen war ich machtlos. Ein Stück süßes Obst sollte mich ablenken. Nach drei Anläufen kam ich hoch und torkelte wie besoffen in die Küche. Vielleicht dachten alle, die sich von ihr abwandten, dass sie trinkt, dabei schwindelte ihr nur vom Leben um sie herum? Mühsam säbelte ich eine Ecke aus der Melone. Auf dem Weg zurück ins Zimmer rutschte mein Hosenbund bis zu den Knien. Ich wurde weniger; wenn das Fieber nicht bald zurückginge, würde ich als verschmorte Hülle enden. Würdest du mich dann noch erkennen? Ja. („Hier, das muss sie sein“, hörte ich dich sagen. – „Danke, Sie waren uns eine große Hilfe“, antwortete dir der Polizist und gab den wartenden breitschultrigen Herren ein Zeichen.)

Die Zeit verging also, wie ich befürchtet hatte – quälend langsam. Das Radio nutzte gar nichts, weil jeder Ton in den Ohren wehtat, und beim Fernsehen begannen meine brennenden Augen zu tränen. So tat ich eigentlich gar nichts. Wenn es Abend wurde, gingen im gegenüberliegenden Haus die ersten Lichter an, immer in der gleichen Reihenfolge. Dann sah ich die Alte wieder vor mir, von Mal zu Mal wurde sie deutlicher. In der Art, sich zu kleiden, unterschied sie sich eigentlich kaum von einigen der Schülerinnen, die morgens mit mir im Bus fuhren. Auch sie trugen manchmal Strickjacken, deren Ärmel ein bisschen zu lang waren, dazu halblange, klassische Röcke, die sie ernsthafter wirken lassen sollten, und die Haare zu einem Zopf gebunden. Nur die Schuhe – etwa rot gestreifte Sneakers – waren meist sehr auffällig, ein Kontrast zum übrigen Auftritt. Wenn diese Mädchen sähen könnten, was ich an diesen Abenden sah, würden sie sich augenblicklich die Kleider herunterreißen. Ich sah eine grüne Strickjacke mit ausgeleierten, löchrigen Ärmeln, die einen verzogenen Leib nur halb verhüllte. Ich sah einen staubigen grauen Rock – sicher ihr einziger –, aus dem Beine in grausam fleischfarbenen Strumpfhosen herausstaken. Und, gut, das war ein Unterschied, die Füße verkrochen sich in Filzpantoffeln. Über meine alte Frau war einfach die Zeit hinweggegangen. Einmal fragte ich sie in Gedanken, ob sie denn keine Familie gewollt habe, oder Kinder? Sie sah mich sehr erstaunt an. „Dreißig Jahre“, sagte sie, „bin ich verheiratet gewesen.“
Ich begriff, dass sie alles bis zum Ende gelebt hatte. Und danach einfach immer noch da war.
***
Gegen Ende der Woche rief der Kollege wieder an. Seine Stimme war verfremdet durch viele Kilometer Kabel, die zwischen uns lagen. Ich sagte, es ginge mir schon besser; am Wochenende würde das Fieber wohl ganz verschwinden. Das wäre gut, meinte er, wenn ich nächste Woche wiederkäme, die Arbeit wachse zurzeit allen über den Kopf. Nach dem Gespräch stand ich auf und lief versuchsweise ein bisschen im Zimmer herum. Danach aß ich einen Joghurt, ohne Appetit. Er lag lange kühl im Magen, wie ein Fremdkörper. (War ich ohne es zu merken ins Reich der Untoten gelangt, denen solche Nahrung ja bekanntermaßen nicht zuträglich ist?)

An diesem Abend stellte die Alte zum einzigen Mal eine Frage an mich. Ich lag im Halbschlaf auf dem Sofa, als die Lichter gegenüber angingen. Diesmal sah ich die Umrisse des Häuschens vor mir auftauchen. Ich erhob mich und ging darauf zu. Über das Eingangstor musste ich hinwegsteigen, denn das Schloss war eingerostet. Die alte Frau öffnete die Tür, und wir gingen in einen Raum, der wohl die Küche war. In der Mitte stand ein Tisch, an den ich mich setzte. In einem Kessel begann gerade Wasser zu kochen; sie hängte einen Teebeutel in eine angestoßene Tasse. Leises Knacken war zu hören, als sie das Wasser eingoss, doch die Tasse schien dicht zu halten. Ich fragte mich gerade, ob sie vergessen hatte, dass ich da war, da sah sie zu mir auf und fragte:
„Was tust du eigentlich, wenn du nicht krank bist?“
Mir fiel keine Antwort ein. Ich lebte halt, ich war beschäftigt. Ich arbeitete irgendwie. Irgendwas. In einem Dingsbums-Büro. Nach kaum einer Woche Abwesenheit vom Alltag konnte ich ihn nicht mehr beschreiben. War es mir so unwichtig? Oder hatte mich die Hitze von innen und außen davon entfernt? Alles mit einer grauen Schicht überzogen wie nach einem Wohnungsbrand? Und warum bist du mir nicht eingefallen? Als sich meine Lippen öffneten, um eine Antwort zu formulieren, donnerte draußen etwas gegen die Hauswand. Ich wollte hinaussehen, aber die Alte zog mich zur Seite und löschte mit der freien Hand das Licht. Dann war sie verschwunden.
***
Als das Fieber weg war, fühlte ich mich leicht. Leichter noch als vor dem Infekt. Die Hose band ich mit einem dieser Seidenschals enger, die man in der gerade beginnenden Saison um alle möglichen Körperteile gewickelt tragen sollte. Seit ich wieder die ärztlich empfohlene Temperatur hatte, hatte es kein Gespräch mit der Alten mehr gegeben. Aber ich musste sie unbedingt noch etwas fragen. Ich musste wissen, wie es bei ihr anfing. Wann sich die letzten Leinen gelöst hatten. Oder ob doch sie es war, die losließ.
Ich ging – obwohl ich wusste, dass es unnütz war – am Vormittag in den Park. Gerade kam auch die Dosenbiermänner dazu; waren es dieselben wie letzte Woche? Zum ersten Mal sah ich mir ihre Gesichter an. Als ich dem Schlenker zum schattigen Flussufer folgte, war etwas verändert. Für einen Moment spürte ich wieder einen Schwindel im Kopf. Da war kein Schatten mehr, und da war kein Häuschen mehr. Es war wie weggespült. Aber es gab einen Haufen Schutt und schweres Gerät, auch eine Abrissbirne, vom Weg getrennt durch ein weiß-rotes Band. Ich setzte mich auf eine Bank, die nahe der Baustelle direkt am Flussufer stand. Saß da und starrte auf das Wasser, auf die kleinen Blätter und Zweige, die der Strömung folgten. Ich würde sie nicht wiedersehen. Sie hatte „wie im Fieber“ gelebt, und ich wusste jetzt, was das heißt. Das war kein intensives Leben, das war eines, das wie im Traum an ihr vorüberzog, sie ein Stück mitriss, bis sie, wie die Zweige im Fluss, wieder irgendwo hängen blieb. Das war eines, in dem sie sich vor der Hitze zu schützen versuchte, am Ende in ihrer Zuflucht am schattig-modrigen Ufer. Eines, in dem die Hitze ihr doch Träume aufzwang, aus denen sie viel zu spät wieder erwachte.
Meine Zehen krallten sich ins junge, kühle Gras. Ich war jetzt fieberfrei. Würde es so bleiben?
 
Hallo, matsu!

Mir gefällt diese Geschichte. Um ehrlich zu sein, kann ich sie bislang nicht vollständig greifen, aber ich finde sie ansprechend.

Einzig den Teil, in dem du den Leser per "du" ansprichst, würde ich komplett weglassen. Zumindest aus meiner Sicht steht dieses Stück völlig losgelöst von der restlichen Geschichte und wirkt auf mich somit ein wenig überflüssig. Auch sonst sind einige kleinere Fülltexte darin, die zumindest gekürzt werden könnten (z.B. Apotheker).

Irritiert hat mich der Seidenschal, der mir ein wenig mein bis dahin geschlechtsloses Ansehen der Hauptfigur genommen hat und dass deine Figur schon "weniger" wird und ihr die Hose rutscht, obwohl sie doch gerade erst vom Arzt kommt.

Ansonsten sind sehr schöne Bilder in der Geschichte und Beschreibungen, die einen selbst vieles aus der Geschichte sehen lassen, wirklich sehr ansprechend.

Gruß,
Tanja
 

Rainer

Mitglied
Hallo matsu,

da ich jetzt nicht weiß, ob ich eine überarbeitete oder die "originalversion" lese, fällt es mir schwer, auf den vorangegangenen kommentar mit einzugehen.

Dein text gefällt mir sehr, viele bilder sind sehr originell und trotzdem leise.

Aber: manchmal hast du etwas dick aufgetragen. ich denke, zur charakterisierung der allgemeinen stimmungslage deiner prot, den sich anbahnenden veränderungen in ihrem denken, (den auslösern ihrer beginnenden depression???) und den resultierenden folgen wäre weniger mehr.
Beispiele:
Der apotheker geht noch so, aber die beschreibung der trunkenbolde (deren funktion ich schon einsehe) führt zu einem zeitigen erkennen deiner textrichtung. Das gefühl nachdem sie den joghurt gegessen hat ist i.o. und nicht übertrieben, aber was soll der nachsatz mit den untoten?
Außerdem kommt auf grund der vielen nebenschauplätze eine so geballte ladung rüber, dass zwischenzeitlich deine intensionen nicht mehr klar sind, zuviel zeitkritik in einem solch kurzen text. Also: entweder du trennst dich von einigen sicher liebgewordenen stellen, oder der text muß länger werden, um nachvollziehbarer zu sein.

Wenn du möchtest, mache ich mich demnächst mal über den text her, denn er gefällt mir. ich denke, du kannst daraus etwas sehr interessantes machen.

Viele grüße + bitte mehr davon

rainer
 

Matsu

Mitglied
Hallo, Tanja und Rainer,

vielen Dank für eure Meinungen zum Temperaturwechsel.
Die Geschichte ist eine gekürzte Version einer früheren Fassung, die mir selbst zu uneindeutig in ihrer Aussage war. Und jetzt hängen da einige lose Enden heraus, die ihr gut erkannt habt ...
Ich bin mir nicht sicher, ob daraus noch eine richtig runde Sache werden kann (und ob weiteres Kürzen oder mehr Erläuterungen für den Text gut wären), aber weiteres "Darüberhermachen" würde ich begrüßen.
Interessant fand ich, Tanja, dass du die erzählende Figur als Neutrum empfunden hast. Ich hätte gedacht, dass schon das intensive Ausphantasieren der "Alten" als eine Art "alter ego" an eine Erzählerin denken lässt.
(Das Engerbinden des Seidenschals ist eigentlich schon logisch, wie ich meine: Zu diesem Zeitpunkt hat die Erzählerin die Krankheit ja bereits hinter sich. Wahrscheinlich müsste dem Leser hier erklärt werden, warum sie noch mal beim Arzt war.)

Gruß
Matsu
 



 
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