Teodora Rübenwinkel

Rainer Lieser

Mitglied
Teodora Rübenwinkel

Bevor sie an die Reihe kam, würde es wohl noch ein Weilchen dauern, verriet Theodora der Blick auf die Menschenmenge vor ihr. Aber wenn es eines gab, woran sich Theodora im Laufe ihres Lebens gewöhnt hatte, dann war es zu warten. Bei der Geburt schon hatte das angefangen. Der Leib ihrer Mutter hatte sie einfach nicht freigeben wollen. Der Oberarzt bereitete die Mutter damals sogar darauf vor, dass sie ihre Tochter womöglich bis zum eigenen Lebensende würde mit sich herumschleppen müssen. So etwas sei zwar nahezu unmöglich, durch eine Laune der Natur, wäre genau dies bei ihr nun aber der Fall. Zum Glück machte die Medizin innerhalb der kommenden Jahre jedoch riesengroße Fortschritte – und so wurde Theodora vier Jahre später dann letztendlich doch noch entbunden.
Da nun schon ihr Start ins Leben so ungewöhnlich verlaufen war, hielt es das Schicksal wohl für angebracht, den einmal eingeschlagenen Weg einfach beizubehalten: also vollzog sich auch das weitere Leben von Theodora nahezu vollständig unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Beinahe niemand nahm sie bewusst wahr. Theodora schien es, als vermuteten sie die Menschen immer noch im Leib ihrer Mutter und man müsse sie deshalb nicht weiter beachten. Mutter und Vater verhielten sich nicht anders. So liessen sie Theodora zum Beispiel regelmässig am Ende eines Urlaubs im Hotel zurück – oder vergassen bereits im Vorfeld sie mitzunehmen. In der Schule wurde sie nach dem Unterricht oft im Klassensaal eingesperrt, weil die Lehrer Theodora übersahen, wenn sie als letzte noch auf dem Platz saß.
Heute nun stand Theodora als erwachsene Frau in der Warteschlange. Geduldig und ohne die geringste Erwartungshaltung, so wie sie es der Verlauf ihres bisherigen Lebens gelehrt hatte.
Schließlich kam sie an die Reihe und die Wurstverkäuferin erkundigte sich nach ihren Wünschen.
»Einen Ring Fleischwurst bitte. Vier von den Weißwürsten und 350 Gramm von der Lyoner. Von der Lyoner kann es ruhig auch ein bisschen mehr sein.«
»Ja, das kann ich mir denken.« Grollte es Theodora mit Grabesstimme entgegen. »Ich weiß wie erbarmungswürdig ihr bisheriges Leben verlaufen ist und darum möchte ich ihnen heute ein ganz besonderes Angebot machen.«
Theodora sah die junge Frau mit großen Augen an. Obwohl Theodora bereits seit einigen Jahren in der Metzgerei einkaufte, hatte sie diese Wurstverkäuferin hier noch nie gesehen. Und die Stimme. Die passte so gar nicht, zu dieser zierlichen Person. Doch außer Theodora schien die seltsame Verkäuferin niemandem aufzufallen. Um Theodora herum nahm alles den gewohnten Lauf: sie wurde von allen komplett übersehen. Das konnte sie ja noch nachvollziehen. Aber wie war es zu erklären, dass sich niemand an den Worten und der Stimme der Wurstverkäuferin auch nur im geringsten störte? Seltsam, dachte Theodora. Habe ich mich womöglich verhört?
»In Zukunft erhalten sie von allem – und zwar überall – IMMER mehr als sie verlangen. Sie erhalten allerorts beständig einen ordentlichen Zuschlag, auf Lebenszeit! Ohne dafür mehr zahlen zu müssen. Ist das nichts?«
Theodora hatte also doch richtig gehört. »Wer sind sie, dass sie mir solch einen Vorschlag machen können?«
»Luzifer!«
»Sie lügen!«
»Wie kommen sie denn darauf?«
»Weil sie eine Wurstverkäuferin sind.«
»Reine Tarnung.«
»Luzifer ist ein Mann. Nicht einmal das sind sie. Ich sage es also nochmals, sie lügen!«
»Tue ich nicht! ICH BIN LUZIFER! Sehen sie sich doch nur um. Die Menschen nehmen uns gar nicht wahr. Wir befinden uns nämlich gar nicht mehr in deren Wirklichkeit. Ich habe uns da raus geholt.«
»Quatsch! Sie sind nur eine ebenso unauffällige Person, wie ich es bin. Anders kann es nicht sein.«
»Sprechen sie doch mal jemanden an oder versuchen sie jemanden zu berühren.«
»Nichts dergleichen werde ich tun. Ich lasse mich von ihnen doch nicht für dumm verkaufen. Und falls sie tatsächlich Luzifer sein sollten, dann wäre es wohl erst recht kaum ratsam für mich, ihr Angebot anzunehmen.«
»Sie lehnen also ab?«
»Ja!«
Mit einem „Plop“ verschwand die Wurstverkäuferin und Theodora fand sich am Ende der Warteschlange wieder. War das Erlebnis eben vielleicht nur ein Tagtraum gewesen? Sie kratzte sich am Hinterkopf. »Hm ist es am Ende nicht das Schicksal, welches die Schuld an meinen erbarmungswürdigen Leben trägt, sondern sind es womöglich meine eigenen Entscheidungen.« Theodora ging in ihre Wohnung und dachte den Rest des Tages darüber nach.
Am nächsten Tag, es war Sonntag, beschloss sie einige erste kleine Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen. Sie entfernte das „h“ aus ihrem Vornamen an dem Briefkasten und der Türklingel. Danach zog sie sich Strapse an und fing einen Haselnusskuchen zu backen.
Fünf Minuten später klingelte es an der Tür. Teodora, wie sie jetzt ja mit Vornamen hieß, sah einen bärtigen fetten kleinen Mann vor ihrer Wohnung stehen, der ihr leicht vertraut erschien.
»Sind sie Teodora Rübenwinkel?«
»So nennt man mich und ich stehe Sonntags immer in Strapsen vor dem Ofen und backe Haselnusskuchen, das ist gewissermaßen mein Markenzeichen.« Das war zwar gelogen, doch aus irgendeinem Grund hielt Teodora es für Angebracht sich diesem Mann so vorzustellen.
»Vortrefflich. Sie müssen nämlich wissen, dass ich ein italienischer Filmproduzent bin. Ich brauche noch eine Hauptdarstellerin für meinen neuen Film. Deshalb bin ich auf dem Weg nach Berlin. Dort soll ich mir morgen ein paar Frauen ansehen. Leider ist mein Flugzeug gerade kaputt gegangen und ich musste auf der Straße vor ihrer Wohnung notlanden. Eigentlich war ich nur auf der Suche nach jemandem, der mir sein Auto leihen würde, doch da las ich ihren ungewöhnlichen Namen. Teodora ohne „h“. Das fiel mir sofort ins Auge. Nun sehe ich sie und glaube die Hauptdarstellerin für meinen Film in ihnen gefunden zu haben. Hätten sie Interesse?«
»Ihr Gesicht – und sie sagen sie sind ein italienischer Filmproduzent … Sie sind doch nicht etwa Frederico Fleischer?«
»Genau der bin ich!«
»Ich liebe ihre Filme. Allein „Gemetzel im Glockenturm“ habe ich bestimmt 200 Mal gesehen und „Leiche ohne Fingernägel“ ist mein absoluter Lieblingsfilm.«
»Können sie gleich nach Italien mitkommen? Umziehen müssen sie sich nicht.«
»Ich habe noch den Haselnusskuchen im Ofen …«
»Nun, mein Kind, sie wissen ja. Manchmal verlangt das Leben harte Entscheidungen von uns.«
Teodora erinnerte sich an ihre Begegnung mit der seltsamen Wurstverkäuferin und an die vielen Gedanken, die sie sich hernach über das Leben und getroffene Entscheidungen gemacht hatte. »Lassen sie uns sofort aufbrechen!«
Und so veränderte sich das Leben von Teodora Rübenwinkel innerhalb kürzester Zeit auf wundersame Weise. Glücklich und zufrieden verbrachte sie den Rest ihres Lebens als eine international angesehene Hauptdarstellerin italienischer Horrorfilme. Niemals wieder wurde sie von irgend jemandem übersehen.

Und die Moral von der Geschichte: Mit ein wenig Mut und einem großen Batzen Glück lässt sich auch dem tristesten Schicksal noch ein Schnippchen schlagen.
 



 
Oben Unten