The Big Blue

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achill

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Die Küche war ein einziger Sündenpfuhl der Verführung.
Im Kühlschrank lagerte auf einer Platte im mittleren Ablagefach dreiviertel einer zart-cremigen Schokoladentorte, mit glänzendem Glasurguss überzogen und mit schwarzbraunen Kaffeebohnen verziert. Auf einer erkalteten Herdplatte - nur notdürftig mit einem Deckel gegen die Blicke anfälliger Seelen abgeschirmt - stand ein Topf köstlicher Kohlrouladen. In einer Pfanne daneben lagen - zwischen dünnen, saftigen Zwiebelscheibchen - die Frikadellen. In einem anderen Topf räkelte sich eine dralle Zucchini, mit Hackfleisch gefüllt.
Überall lauerten kleine Teufelchen, Joghurts, Fruchtdrinks und Cola, bunte Bonbons in einem Glas über der Spüle, im Schubfach des Küchenschranks lagerten zwei Tafeln Erdbeer-Schokolade. Es gab Chips und kleine Knabbereien im Überfluss. Backpulverpäckchen für Sandkuchen und Käsetorten verbreiteten einen schwachen Duft von Vanille. Milch und Eier waren reichlich vorhanden. Frischer Kaffee füllte eine kleine braune Dose.
Am schlimmsten, am allerschlimmsten aber war die Zigarettenpackung auf dem Esszimmertisch (Esszimmer, allein schon das Wort!). Neben der Packung lag ein orangenes Feuerzeug. Schon die Farbe schien jedem Versuch der Enthaltsamkeit zu spotten. Der Anzünder lag dort gleich einem Starter, einem Schlüssel im Zündschloss eines Sportwagens, der nur darauf wartete, umgedreht zu werden und die PS- starke Engine in Gang zu setzen, um alle Geschwindigkeitsbeschränkungen zu brechen.
Ramadan 2003.
Aylins Mutter stand am Fenster, zupfte an der Gardine und schaute den vorbeifahrenden Autos hinterher, als erwarte sie jemanden zum Abendessen. Draußen brachte das flache Licht der untergehenden Sonne die roten und gelben Blätter der Bäume zum Glühen.
Gestalten drückten sich an den Häuserwänden entlang wie verlorene Seelen, mit beiden Händen ihren Hut oder den Kragen haltend, weil der Wind so heftig blies. Straßenlaternen, die zögerlich angingen, spendeten nur spärliches Licht.
Aylin saß im Sessel und blätterte sich durch die Fernsehzeitschrift. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, ihr rechter Fuß wippte auf und ab. Sie las abwechselnd das Fernsehprogramm und beobachtete ihre Mutter. Die Uhr an der Wand sortierte unablässig die Zeit nach Stunden, Minuten und Sekunden.
Über den Rand der Fernsehzeitschrift hinweg betrachtete Aylin den breiten Rücken ihrer Mutter, die, mit einer Hand die Gardine hochhaltend, mit der anderen die vertrockneten Blätter der Gewächse aussortierte.
Mama hatte sich nach der Arbeit nicht umgezogen, trug immer noch das gestreifte Hemd und die dunklen Hosen der Wachgesellschaft. Mit ihren kurzen Haaren und ihren muskulösen Armen sah sie fast aus wie ein Mann.
„Heute Abend kommt The Big Blue. Du weißt schon, der Taucherfilm mit Jean Reno.“ Aylin sprach türkisch.
Ihr Mutter schien sie nicht zu hören. Dann drehte sie sich doch um, legte das Gesicht in Falten, nickte gleichgültig, schaute besorgt auf die Uhr. Ihr Körper war in all den Jahren zu einer Festung gegen die Beschwerlichkeiten des Lebens geworden, ein Kompromiss zwischen der Lust auf herzhaftes Essen und den Anforderungen, die ER und die Wachgesellschaft und das Leben an und für sich an sie stellten.
Das Sonnenlicht drückte sich weiter nach unten, die Straßenlaternen leuchteten heller, langsam wurde klar, worauf es mit ihnen hinauslaufen sollte.
Dunkelheit zog ein. Sie drückte sich in die Luft wie das Wasser aus einem Schwamm. Als sei sie die ganze Zeit schon da gewesen und habe nur auf den richtigen Augenblick gewartet.
Aylins Mutter ließ sich voller Erschöpfung auf die Couch sinken. Das Fasten schien ihr mehr zuzusetzen als früher. Sie schnappte nach der Fernbedienung, zappte sich durch die Programme und blieb bei einer Quizsendung hängen.
„Du hast doch eine dieser Tabellen. Die mit den Uhrzeiten.“
Aylin schüttelte den Kopf. „Ich habe schon seit Jahren keine Tabelle mehr.“
“Ach ja, natürlich, du machst ja keinen Ramadan“, sagte ihre Mutter. Dabei klang sie nicht wie eine resignierte Frau, die es versäumt hatte, ihre Tochter zu mehr Religiosität zu erziehen. Es klang auch nicht wie ein Vorwurf. Sie klang eher amüsiert. Gerade so, als befände sich Aylin auf einem Irrweg, von dem sie früher oder später einmal abkommen müsste. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als du dir träumen lässt, mein Töchterchen, schien sie zu sagen.
„Aber ich kann im Internet nachschauen, wenn du willst.“
Ihre Mutter blieb auf der Couch sitzen und schaute sich das Quiz an. Aylin hörte die fünfhundert Millionen Lira Frage, während sie auf ihrem Bett saß und den Laptop hochfuhr.
Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, rauchte ihre Mutter schon eine Zigarette und spielte mit dem orangenen Feuerzeug.
„Zisterne der tausend Säulen“ murmelte sie als Antwort auf die eine Milliarde Lira Frage, die der Showmaster gerade einem bärtigen Kandidaten stellte. Gefragt war nach den 224 Säulen im Sultanahmet. Mama schüttelte den Kopf, wohl aus Verachtung über die Leichtigkeit der gestellten Frage und der damit einhergehenden Leichtigkeit, sich eine Milliarde Lira zu verdienen.
„Eine Milliarde Lira, das sind knapp 6250 Euro.“ Sie war immer noch schnell im Kopfrechnen, stellte sie zufrieden fest. Trotz der Beschwerlichkeiten, die sie IHM zuliebe und für ihren Job ertrug. Und für das Leben an und für sich.
„Dafür muss ich vier Monate lang arbeiten“, klagte sie, und das schien sie mehr zu verbittern als die mangelnde Religiosität ihrer Tochter.
„Sonnenuntergang ist um fünf nach halb sechs“, sagte Aylin und schaute auf die Uhr. Es war Viertel vor sechs. Mama nickte, ohne vom Bildschirm aufzusehen, als habe sie es schon die ganze Zeit über gewusst.
Kaum hatte sie die zweite Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt, stand das Essen an. Eilig wurden die Frikadellen aufgewärmt und mit Erbsen verkocht, die Zucchini in der Pfanne gebrutzelt, der Salat angemischt und aufgetragen. Im Kasernenton gab sie Aylin punktgenaue Anweisungen.
„Den Teller dahin. Jetzt der Salat. Vergiss die Servietten nicht.“ Aylin kannte den Ton. Sie war damit aufgewachsen. Als Mädchen hatte sie ihn gehasst. Jetzt, wo ihre Mutter sichtbar älter und schwächer wurde, betrachtete sie ihn mit einer nostalgischen Rührung, die sie überraschte. Ihre Kommandos weckten tausend Erinnerungen. Fast hätte sie gelächelt und gefragt: Weißt du noch, damals, als...
Zum ersten Gang gab es Bohnen, Reis und Rosenkohl. Dazu Frikadellen. Danach mit Hackfleisch gefüllte Zucchini. Wie zu Ramadan üblich, waren die Teller bis zum Rand gefüllt.
Die Nahrungskurve des frommen Muslimen zu Ramadan lief auf und ab wie eine Berg- und Talbahn, dachte Aylin bei sich.
In der ersten Woche kämpfte man noch mit dem Hunger, aber das ließ bald nach. Viel schlimmer war der Durst. Aber am schlimmsten, am allerschlimmsten waren die Zigaretten. Keine Zigaretten, von morgens bis abends.
Das war der Punkt, an dem Aylin vor Jahren ausgestiegen war. Damals hatte sie sich schon am zweiten Tag eine Zigarette angezündet.
„Ich schaff das nicht“, hatte sie gesagt, „wenn ich wenigstens zwischendurch rauchen dürfte, aber so.“
Nach zwei Wochen Fasten war der Körper geschwächt, aber gleichzeitig auch federleicht. Man schien an Gewicht, auch an seelischem, zu verlieren. Der Geist befand sich in einer Art seliger Ruhe. Alles schien leiser und entfernter zu sein, und man hatte das Gefühl, die Dinge aus dieser Distanz klarer zu sehen. Prioritäten schienen plötzlich erkennbar. Was nutzte ein fettes Bankkonto oder ein dicker Wagen, wenn der Körper nicht in der Lage war, diese Dinge zu genießen? Oder der Mensch von einem ruhelosen Geist gepeinigt war?
In der dritten Woche schien man drauf und dran, sich aufzulösen. Jede Bewegung kostete viel Kraft. Man prüfte jedes Mal vorher ganz genau, ob es wirklich nötig war, sich zu bewegen. Der Körper lief auf Sparflamme.
Der Geist aber wurde immer ruhiger und gelassener. Man näherte sich dem Punkt der Befreiung.

Ihre Mutter lehnte sich in der Couch zurück, legte eine Pause ein und kämpfte gegen einen Rülpser. Und verlor.
Wenn man den ganzen Tag nichts gegessen hatte, durfte der Magen nicht in einem Rutsch mit Nahrung gefüllt werden, sonst würde man alles gleich wieder erbrechen.
Aylin erinnerte sich an ihren ersten Ramadan. Es gab so etwas wie einen Ramadan für Kinder. Sie und ein paar andere Sprösslinge muslimischer Eltern standen im Laden eines Bekannten, der türkische Lebensmittel verkaufte. Sie beobachteten die Deutschen, die in den Laden schlenderten und sich bedenkenlos den Einkaufswagen mit Lebensmitteln füllten. Sie selbst mieden die Regale mit den Süßigkeiten. Das Warten auf den Sonnenuntergang war ihnen besonders schwer gefallen.
Aylin hatte neben der Registrierkasse auf einem Stuhl neben dem Eingang Platz genommen und sah den Deutschen zu, wie sie die Ware mit den Händen betasteten, manches wieder zurücklegten und anderes in ihren Korb legten. Ihr Magen knurrte, sie hatte Hunger, und sie fragte sich, was wohl mit ihr passieren würde, wenn sie etwas aß. Wie würde ER den Regelverstoß ahnden? Zählte es, dass sie noch ein Kind war?
Hunger zu haben war schlimm genug, aber noch schlimmer war es, wenn die deutschen Klassenkameraden um sie herum soviel essen und trinken konnten, wie sie wollten. Auf dem Heimweg von der Schule sah sie die Leute an Imbissbuden und Cola-Automaten und Getränkekisten. Wenn man fastete, dann schien alles um einen herum am essen zu sein. Ob das immer so war? Aylin beschloss, ihre Beobachtungen während Ramadan mit der Zeit danach zu vergleichen. So wollte sie feststellen, ob der Mensch sich veränderte, während er fastete.
Manchmal, wenn es mit dem Hunger allzu heftig wurde, griff sie heimlich in eine Keksdose und fischte sich Schokoladenkekse heraus, in der Hoffnung, dass Gott ihr die kleine Sünde vergeben werde. Sie hoffte auf einen barmherzigen Gott, der bereit war, kleine Sünden von kleinen Menschen zu verzeihen. Als sie vor dem Zubettgehen ihrer Mutter die kleine Sünde gestand und fragte, ob Gott sie dafür bestrafen würde, lachte ihre Mutter und versicherte ihr, dass für Kinder der Ramadan keine so strenge Sache sei wie für die Erwachsenen. Außerdem war das Fasten eine freiwillige Sache, so wie das Spenden. Jeder musste wissen, wie viel er geben wollte. Ohne sich dazu zwingen zu müssen. Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn und lächelte immer noch, als sie das Licht ausmachte. „Was habe ich für eine tapfere Tochter“, hatte sie noch gesagt, bevor der Türspalt sich ganz schloss.
Im nächsten Ramadan war Mama mit Gürkan schwanger. Trotzdem nahm sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang keinen Bissen zu sich und trank keinen Schluck. Das Rauchen hatte sie während der Schwangerschaft ohnehin aufgegeben. Aylin machte sich um ihren kleinen Bruder Sorgen (sie ahnte schon, dass es ein Junge werden würde, und sie äußerte diese Vermutung auch frei heraus vor den amüsierten Verwandten und Bekannten).
„Mama, wird es ihm darin gut gehen?“
„Aber ja, mein Schatz, warum denn nicht?“
„Aber Mama, schadet es ihm nicht, wenn du nichts isst und trinkst?“
„Aber ich esse und trinke doch, mein Schatz.“
“Aber doch nicht von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Was ist, wenn er zwischendurch Hunger hat? Muss er denn auch schon Ramadan machen, obwohl er noch nicht geboren ist?“
„Wir alle sind Gottes Geschöpfe, mein Herz. Auch das ungeborene Kind. Wenn er für Gott hungert, wird Gott auch auf ihn aufpassen.“
Aylin nickte. Das konnte sie verstehen. Ihre Mutter beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr ins Ohr.
„Und noch etwas, mein Schatz. Ich glaube auch, dass es ein Junge wird. Wir Frauen können das fühlen, nicht wahr?“
Aylin legte die Hand auf den dicken Bauch ihrer Mutter und konnte ihren kleinen Bruder fühlen, wie er im Fruchtwasser schwamm und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf Nahrung verzichtete, um IHN zu ehren.

Der Kandidat scheiterte an der vier Milliarden Lira Frage. Zwar nutzte er seinen Telefonjoker und rief seinen Schwager an; doch der druckste dreißig Sekunden lang herum und konnte seinem Bekannten nicht weiterhelfen. Er wusste nicht, welches Ereignis die Gründung von Byzanz auslöste. A) „Die Eroberung Trojas durch die Griechen“, b) „Ein Spruch des Orakels von Delphi“, c) „die Eroberung Kleinasiens durch die Römer“ oder d) „der erste Kreuzzug“.
„B“, sagte Aylins Mutter kauend. Sie kicherte über die anderen Antworten und rechnete aus, wie lange sie für das Geld, was sie mit der richtigen Antwort gewonnen hätte, arbeiten musste. Vor der nächsten Mahlzeit – mit Hackfleisch gefüllte Zucchini – rauchte sie noch eine Zigarette.

Bei Gürkans Geburt wäre Aylins Mutter fast gestorben.
Als Aylin von der Schule nach Hause kam, wurde sie von einer Nachbarin mit der Nachricht abgefangen, ihr Vater und ihre Mutter seien heute morgen ins Krankenhaus gefahren, um das Baby zur Welt zu bringen.
Aylin verbrachte den Nachmittag und den Abend bei ihrer Tante. Die Nachbarin war nicht wirklich ihre Tante, aber sie und ihre Mutter standen sich so nahe wie zwei Schwestern. Aylin schaute sich „Trio mit vier Fäusten“ an und musste immer wieder an ihre Mutter denken, wie sie gerade ihren jüngeren Bruder zur Welt brachte. Sie hatte keine genaue Vorstellung davon, wie ein Kind aus dem Leib der Frau geboren wurde, aber sie ahnte, dass Ärzte und blankgeputzte medizinische Instrumente mit Haken und Ösen und ein wenig Schmerz darin verwickelt waren. Sie sah Ärzte mit Mundschutz und Käppis und weiße Laken, die sich rot färbten. Sie überlegte sich, dass es doch möglich sein müsste, sich an die eigene Geburt zu erinnern. Die Antwort auf ihre Fragen waren also irgendwo in ihrem Kopf versteckt. Sie schloss die Augen und versuchte, sich an ihre eigene Geburt zu erinnern, kam aber nicht über ein Ereignis aus ihrer Kindergartenzeit hinaus, als sie im Kinderchor mit den Nonnen des Evangelischen Kindergartens ein Lied sang.
Aylin verbrachte auch die Nacht im Haus ihrer Tante. In der fremden Dunkelheit zog sie sich die fremde Bettdecke bis ans Kinn und horchte gespannt auf jedes fremde Geräusch, das an ihr Ohr kam. Es war nicht das erste Mal, dass sie woanders schlief als zu Hause in ihrem eigenen Bett. Wenn sie mit ihren Eltern die Großmutter in der Istanbul besuchten, übernachtete sie im alten Kinderzimmer ihrer Mutter. In der Dunkelheit waren die Geräusche viel klarer zu hören, dachte sie sich. Als ob sie sich bei Tag von einem fernhielten und sich erst im Schutz der Nacht ganz nah an einen herantrauten. Vielleicht wuchs das Ohr ja auch, kurz bevor man einschlief.
Sie setzte sich im Bett auf und wusste zunächst nicht, wie sie die Hände halten sollte. Schwester Erna aus dem Kindergarten hatte die Hände dabei anders gehalten als ihre Großmutter in Istanbul, obwohl sie beide doch dasselbe taten. Schließlich faltete sie die Hände, weil sie so mit angewinkelten Beinen auf einer weichen Matratze besser das Gleichgewicht halten konnte, und vertrieb mit ihrem leisen Flüstern all die anderen zarten Geräusche der Dunkelheit.
„Lieber Gott. Bitte sorge dafür, dass Mama und mein Brüderchen gesund aus dem Krankenhaus nach Hause kommen. Er ist ein guter Moslem und hat sogar für dich gefastet. Wo er doch etwas für dich getan hat, kannst du doch auch etwas für ihn tun. Ich habe auch gefastet. Erst wusste ich nicht wofür, aber jetzt will ich, dass du weißt, dass ich für meinen Bruder gefastet habe. Ich weiß, dass du alles in Ordnung machen kannst. Amen.“
Im Kindergarten hatte Schwester Elisabeth die Tischgebete mit diesem Wort beendete. Aylin wusste nicht, was es bedeutete. Es klang nach Ende der Nachricht oder Bis zum nächsten Mal.

„Willst du nichts essen?“
„Ich mache Diät.“
Mama lachte heiser. „Diät an Ramadan.“
“Ich muss abnehmen. Das hat mit Ramadan nichts zu tun.“
Mama hatte schon ihren zweiten Teller geleert. Aylin rauchte eine Zigarette.
Nach der Quizshow kamen die Nachrichten. Eine Sprecherin von CNN- Turk führte in betont amerikanischer Manier mit kühlem Singsang und starrem Blick durch die Ereignisse des Tages.
In Istanbul hatte ein Mann auf der Straße wie wild mit einer Pistole herumgefuchtelt, bis die Polizei ihn überwältigte. Verwackelte Aufnahmen zeigten einen Knäuel von zehn oder mehr Polizisten, wie sie sich auf einen schmalen Typen in Jeans und gerippeltem Unterhemd stürzten.
Eine Bande anatolischer Schmuggler war einem Polizeispitzel ins Netz gegangen. Auf einer Pressekonferenz wurden die sichergestellten Waffen präsentiert.
Ein Kleinbus war bei Regen und schlechter Sicht frontal gegen einen Bus geprallt. Zwei Tote.
„Ein Hans hat heute angerufen.“ Hans hießen bei Mama alle Deutschen aus Aylins Freundeskreis, die sie nicht kannte. Die Mädels hießen Gertrude. Aylin tat so, als wüsste sie das nicht.
„Ich kenne keinen Hans.“
„Du weißt doch, ich kann mir die deutschen Namen nicht merken. Irgendein Junge eben.“
Sie nahm den noch unberührten Teller, der vor Aylin gestanden hatte, und füllte ihn mit Erbsen, Kohlrouladen und zwei Frikadellen.
„Ich möchte nichts essen, danke.“ Aylin drückte die Zigarette in den Aschenbecher auf dem Tisch.
„Iß“, brüllte ihre Mutter. Sie knallte den Teller so fest auf die Tischplatte, dass ein paar Erbsen vom Tellerrand herunterkullerten.
„Ich bin doch nicht die einzige, die hier zu Abend isst! Dein Bruder hält es auch nicht mehr für nötig, zum Abendessen zu erscheinen. Geht nach der Arbeit lieber zu seiner nichtsnutzigen Freundin. Auch eine Gertrude.“
„Mutter, ich will nichts essen. Ich will abnehmen.“
„Ach ja? Damit du dich schön machst für deinen Hans? Willst du nicht vielleicht mal lieber mit deinem Studium fertig werden, anstatt mit deutschen Jungs anzubändeln? Oder willst du vielleicht ewig im Supermarkt arbeiten? Hinter der Kasse?“
„Mama, sei nicht ungerecht. Es ist gar nicht so einfach, alles unter einen Hut...“
„Ach ja, aber Zeit für Liebesgeschichten bleibt noch...“
„Ich hab keinen Freund. Und ich weiß auch nicht, wen du meinst. Ich kenne gar keinen Deutschen, der mich anruft. Vielleicht achtest du in Zukunft einfach mal auf den Namen und ich kann dir sagen, wer...“
„Aylin, ich beschwöre dich. Mach dein Studium zu Ende und vergeude nicht deine Zukunft an irgendeinen Jungen. Danach will dich kein Türke mehr heiraten.“
„Vielleicht will ich ja gar nicht heiraten! Vielleicht will ich ja gar keinen Türken! Nur weil Papa damals mit einer anderen...“ Sie biss sich auf die Zunge. Sie wollte es so nicht sagen. Sie wollte nicht mit ihrem Vater gegen ihre Mutter ins Feld ziehen. Nicht mit einer so alten Geschichte.
„Iss jetzt!“
Aylin nahm die Gabel in die Hand und verrührte die Erbsen und den Reis und die Kohlrouladen und Frikadellen zu einem Haufen dampfender Pampe, den sie Stückchen für Stückchen abarbeitete. Ihr Magen blähte sich auf. Sie hatte das Gefühl, ihren Bauch mit Zement zu füllen. Schweigend belud sie die Gabel und führte sich das Essen in den Mund, der es nur widerwillig annahm. Beim Schlucken konnte sie nur schwer einen Brechreiz unterdrücken. Ihre Mutter lag auf der Couch und nahm ihren Blick kein einziges Mal von der Mattscheibe.
Aylin kratze auch noch die letzten Reste vom Teller, bis nichts mehr übrig war.
Als sie fertig war, räumte sie die Schüsseln und Teller vom Tisch, packte die übrig gebliebenen Speisen unter eine Alufolie und stellte sie zurück in den Kühlschrank.
Anschließend ging sie ins Bad, steckte sich den Finger in den Hals und brachte eins-, zweimal ein trockenes Würgen hervor, bevor sie sich in die Kloschüssel übergab.
Sie wusch sich den Mund aus und betrachtete sich im Spiegel. Sie war kalkweiß. Ihre Augen stachen aus ihrem Gesicht hervor wie zwei Stück dunkle Kohlen.
Hinter ihr auf dem Regal standen drei Zahnbürsten in einem Becherglas. Es waren die Bürsten ihrer Mutter, ihres Bruders sowie ihre eigene. Daneben stand eine halb ausgequetschte Tube Zahnpasta, eine Tüte rosafarbener Wattebäuchen und das Rasierzeug ihres Bruders.
Aylin nahm eine silbern glänzenden Rasierklingen aus der Plastikpackung und betrachtete sie eine Weile. Ihr Bruder rasierte sich seit bald einem Jahr, und auch ihre Mutter benutzte sie, um sich damit die Beine zu rasieren. Starker Haarwuchs war die Plage der Frauen, die die Gene der Völker rund um das Mittelmeer in sich trugen.
Aylin ließ den Finger über die Klinge gleiten. Sie drückte so fest, dass sie sich bald schnitt. Ein Tropfen Blut quoll aus ihrem Daumen hervor.
Sie drehte den Wasserhahn der Badewanne auf und ließ warmes Wasser ein.
In der Badewanne sitzend schaute sie zu, wie ihre Fingerkuppen weich und wellig wurden.
Irgendwann holte sie tief Luft und versuchte, so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben.
Wie Jean Reno in „The Big Blue“.
 

sohalt

Mitglied
Gefällt mir gut.
Hungern unter altem vs. hungern unter neuem Diktat.
Frauen haben's nicht leicht, ob sie nun in ein altes oder in ein neues Bild passen müssen.
Gutes Thema, glaubwürdig umgesetzt.

Kleine Anmerkung
orangenes Feuerzeug? - Heißt es nicht: oranges Feuerzeug?

lg
sohalt
 

nohnan

Mitglied
hallo achill,

mir gefällt deine geschichte sehr gut, vor allem da sie ein unerwartetes ende nimmt. ich dachte zu anfangs dass es "nur" um den ramadan ginge. ich mag solche geschichten!!
 

achill

Mitglied
hallo nohnan,

vielen Dank für Deinen netten Kommentar und dass Du auf die Geschichte geschrieben hast. Es freut mich auch zu sehen, dass nach so langer Zeit (ich habe die Geschichte wohl schon vor ein paar Monaten ins Netz gestellt) noch jemand die Geschichte liest. Die "Rangeleien" um die vordersten Plätze sind also gar nicht nötig.

LG
achill
 

nohnan

Mitglied
hallo achill,

ich bin nur sehr selten in der leselupe. was ich leider sehr bedauere, aber ich bin zeitlich sehr eingespannt. der titel hat mich einfach angesprochen und wie schon gesagt. sehr schön und gut geschrieben. finde ich. :)
 



 
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