The Bums. Drama

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THE BUMS
(Die Penner)


Stück in zwei Akten von Stefan Seifert


Better to rule in bohemian hell than to serve in bourgeois heaven.
Jim Mullen




Dramatis personae:


Clemens
Ein unauffälliger Mann zwischen dreißig und vierzig.

Judith
Eine Frau unbestimmten Alters. Sie trägt eine Henkeltasche und sieht aus wie eine etwas nachlässige Hausfrau, die ihre Einkäufe macht.

Karl
Ein gutaussehender Mann etwa Mitte vierzig. Er trägt einen dunklen, gestreiften Anzug und einen schwarzen ledernen Aktenkoffer. Seine grauen Haare sind kurz geschnitten und er hat einen grauen Kinn- und Oberlippenbart mit weißen Einsprengseln.

Norbert
Ein sehr dünner Mann in einem alten, weiten Mantel. Er hat verquollene Augen und einen verfilzten grauen Bart. In der Hand trägt er einen Stoffbeutel.

Carola, Karls Frau, eine elegante Erscheinung mit großem Hut und Sonnenbrille.

Carla, Karls Nichte.

Ein Polizist

Ein Trauerredner

Trauergäste, Angestellte des Beerdigungsinstitutes




Erster Akt

Erster Aufzug


Zwei Bänke am Rande eines Parks, nicht weit von einer Kaufhalle.

Clemens betritt die Bühne.

Er setzt sich auf eine Bank und wartet einfach. Ein paar Spatzen kommen neugierig näher.
Clemens holt eine Papiertüte mit Brötchen aus der Jackentasche und beginnt, die Spatzen zu füttern.

Dann kommt Judith. Sie setzt sich neben Clemens und sieht den Spatzen zu. Die Einkaufstasche stellt sie neben sich auf die Bank.

Karl taucht am Ende der Straße auf.
Er setzt sich zu den beiden auf die Bank.

Karl:
Erinnert mich bitte daran, daß ich halb elf weg muß. Ich habe einen Termin. Kann viel davon abhängen. Wichtige Leute ...

Clemens:
Warum sollen wir dich erinnern, Karl, leidest du unter Alzheimer?

Judith:
Damit spaßt man nicht, Clemens. Alzheimer ist schlimmer, als wenn man ein Bein gebrochen hat oder einen Arm, sogar als wenn man im Rollstuhl sitzt.

Judith öffnet ihre Tasche und holt eine Flasche Sangria heraus. Sie bietet sie Karl an, der einen Schluck nimmt, dann trinkt sie selber und reicht die Flasche Clemens. Nachdem der ebenfalls einen kräftigen Schluck genommen hat, schraubt sie die Flasche wieder zu und stellt sie zurück in ihre Einkaufstasche.

Clemens:
Rotwein ist die Basis eines gesunden Lebens. Damit kannst du hundert Jahre alt werden.

Karl:
Das erinnert mich an etwas. An diesen griechischen Jüngling aus der Antike. Ich komme jetzt nicht auf den Namen. Der hatte mit einer Göttin geschlafen, oder war ihr sonst zu Diensten gewesen. Jedenfalls war sie sehr zufrieden mit ihm und er konnte sich etwas wünschen. Er dachte, das wäre seine große Chance und wünschte sich das ewige Leben.

Sein Fehler war, daß er vergessen hatte, sie gleichzeitig um ewige Jugend und Gesundheit zu bitten.
Er schrumpfte mit den Jahren zu einem jämmerlichen Häuflein zusammen. Er hatte alle nur denkbaren Gebrechen, konnte nicht leben und nicht sterben und bereute seinen Wunsch bitter.

Judith:
Auch frische Luft ist gesund. Nicht den ganzen Tag vor der Glotze sitzen.

Karl:
Ich persönlich besitze gar keinen Fernseher. Das will mir immer niemand glauben, aber es gehört nun mal zu den Prinzipien meiner Lebensweise.
Ich besitze Bücher. Nicht viele, aber die wesentlichen.
Die Bibel. Homer. Die griechischen Tragödien. Die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.

Judith:
Was denn, Karl, du liest Märchenbücher?

Karl:
Was die Probe der Jahrtausende bestanden hat, das ist auch wirklich etwas wert.
Das ist der Brunnen, aus dem die Großen schöpfen.
Alles andere ist Plunder. Reine Zeitverschwendung.

Es sind im Grunde immer wieder die gleichen Geschichten, die erzählt werden.
Liebe und Verrat, Rebellion und Scheitern, Schuld, Sühne und Vergebung.
Es gibt nichts, von dem was heute im Fernsehen läuft, was nicht schon in den alten Büchern vorkäme.
Ich bevorzuge die Originale.

Wie spät ist es, Clemens?

Clemens:
Hast du nicht selber eine Uhr?

Karl:
Ja, aber ich hasse es, auf die Uhr zu sehen.

Clemens:
Es ist kurz vor zehn.

Karl:
Danke, Clemens.

Norberts merkwürdige Gestalt nähert sich.

Judith:
Kinder, die Klapper hat Ausgang. Da kommt Norbert.

Norbert setzt sich auf die Nachbarbank. Seinen Stoffbeutel legt er behutsam neben sich.

Judith:
Willst du einen Schluck, Norbert?

Norbert:
Danke, Judith. Aber ich darf nicht. Kriege Medikamente. Früh passen sie immer auf, daß man auch wirklich alles schluckt.

Judith:
Und da darfst du überhaupt nichts trinken?

Norbert:
Nein.

Judith:
Sag mal, was kriegst du denn so für Medikamente?

Norbert:
Sedativa, Antidepressiva, krampflösende Mittel, Vitamine, Stärkungsmittel, Herzpillen. Die ganze Palette. Bei manchen weiß ich gar nicht, was es ist. Sie sagen es mir nicht.

Karl:
Himmlischer Vater! Leute wie du sind ein Segen für die Pharmaindustrie. Ich geb’ dir mal völlig kostenlos einen guten Rat, Norbert. Schmeiß das ganze Zeug in den Müll, oder spül es die Toilette runter. Gönn mal den Kanalratten einen Nirwana-Trip.

Judith:
Hast du welche von den Pillen mit, Norbert? Zeigst du sie mir mal?

Norbert:
Klar, Judith. Ich sammle die doch.

Er holt eine Schachtel hervor, in der er verschiedenfarbige Pillen und Kapseln aufbewahrt.

Judith:
Was ist das für eine?

Norbert:
Die ist zum Appetitanregen.

Judith:
Und die violette hier?

Norbert:
Die ist gegen die Winde im Darm.

Judith kichert:
Und die grüne da?

Norbert:
Die ist zur Beruhigung.

Judith:
Und die gelbe? Die sieht ja richtig appetitlich aus.

Norbert:
Vitamin C.

Judith:
Das ist ja gesund. Wie Zitrone. Kann ich mal eine haben?

Norbert:
Von mir aus.

Judith nimmt ein Dragee und spült es mit Sangria hinunter.

Judith:
Welche ist denn gegen Depressionen?

Norbert:
Die runde hier, glaube ich.

Judith
Kann ich die auch mal probieren?

Norbert:
Meinetwegen. Ob du sie nun schluckst, oder ob ich sie schlucke...

Judith nimmt die Pille und spülte sie ebenfalls mit Sangria hinunter.

Karl:
Was sagen denn deine Angehörigen dazu, daß sie dich in der Klapper mit dem Gift vollpumpen?

Norbert:
Was für Angehörige?“

Judith:
Hast du keine Frau?

Norbert überlegt:
Ich glaube, ich hatte mal eine, aber das muß schon eine Weile her sein. Ich weiß nicht, was aus der geworden ist. Wenn ich mich recht erinnere, war sie rothaarig. Oder blond.

Karl:
Aber du mußt doch Eltern haben, oder Geschwister. Onkel, Tanten. Die ganze Sippschaft eben.
Ich hab zum Beispiel einen Bruder, der ist Ingenieur bei Porsche. Deswegen fahre ich auch nur diese Automarke. Einmal Porsche, immer Porsche.

Clemens:
Du fährst einen Porsche, Karl? Jetzt haust du aber auf den Putz. Wo hast du ihn denn geparkt?

Karl:
Im Moment hat ihn meine Frau. Sie ist Ärztin. Da braucht sie einen Wagen.

Judith zu Norbert gewandt:
Aber eine Mutter wirst du doch haben. Lebt deine Mutter noch, Norbert?

Norbert:
Ich weiß nicht. Vielleicht. Mir hat jedenfalls noch niemand gesagt, daß sie gestorben wäre. Aber das will nichts heißen. Sie sagen mir sowieso nichts.

Judith:
Naja, alles brauchen sie dir auch nicht zu sagen. Du bist ja nur Patient. Ein armer Irrer mit nem weichen Keks. Aber warum sollten sie es dir nicht sagen, wenn deine Mutter gestorben wäre?

Norbert:
Ich soll nicht merken, daß sie mich völlig isoliert haben. Meine ganze Familie haben sie verschwinden lassen. Eines Tages werdet auch ihr verschwunden sein, nur weil ihr mich gekannt habt.

Clemens:
Wer sollte sich schon die Mühe machen, uns verschwinden zu lassen. Der CIA? Der KGB? Die Stasi? Der Mossad? Ist doch Quatsch.

Judith:
Du hast die Mafia der Arschgesichter vergessen.

Karl:
Genau! Darauf kannst du einen zur Brust nehmen. Immer die Arschgesichter im Auge behalten.

Norbert:
Sie machen es so, daß es niemandem auffällt. Es sterben ja dauernd Leute. Der eine hat einen Herzinfarkt, der andere einen Verkehrsunfall, der springt aus dem Fenster. Alles völlig normal. Keiner findet was dabei.

Clemens:
Und warum das alles? Das gibt doch keinen Sinn. Was bezwecken sie damit?

Norbert:
Totale Kontrolle. Sie beeinflussen die Gehirnströme und die Leute haben keinen eigenen Willen mehr. In Wahrheit sind sie nur noch Automaten. Marionetten. Sie hängen an unsichtbaren Fäden und plappern fertige Texte nach. Sie leben nicht mehr wirklich. Sie leben nur noch zum Schein. Sie essen, trinken, heiraten, kriegen Kinder. Alles nur zum Schein.
Bei manchen klappt es aber nicht. Die sind ihnen im Wege. Und denen passiert dann etwas.

Clemens:
Und was ist mit dir, Norbert? Hat es bei dir auch nicht geklappt?

Norbert:
Nein. Und was für sie noch viel schlimmer ist: Ich bin ihnen auf die Schliche gekommen. Ich habe gemerkt was läuft. Aber ich war unvorsichtig. Sie haben es spitzgekriegt und mich in die Klapper gesteckt. Da beobachten sie mich jetzt. Sie wollen wissen, mit wem ich Kontakt habe, wer meine Hintermänner sind und so weiter.

Judith:
Und was erzählst du ihnen?

Norbert:
Ach, ich erzähle ihnen ich hätte mit Jesus gesprochen oder ich würde Stimmen hören, die mich davor warnen, Gurkensalat zu essen. Sowas in der Art.
Manchmal merken sie, daß ich sie verarsche, dann werden sie wütend. Aber im großen und ganzen habe ich meine Ruhe.

Ein schwarzer Porsche hält auf der anderen Straßenseite. Darin sitzt eine sehr schöne, sehr aparte Frau mit einem breitkrempigen Hut und einer Sonnenbrille. Sie sieht reglos geradeaus und scheint nichts um sich herum zu bemerken.

Norbert:
Seht ihr die da drüben? Scheinbar ein Mensch, in Wahrheit ein Automat. Wahrscheinlich haben sie sie geschickt, um mir nachzuspionieren.

Karl:
Entschuldigt mich einen Augenblick. Da drüben ist Carola, meine Frau.

Karl steht auf und geht zu dem Porsche.

Die Frau läßt das Fenster herunter und Karl spricht mit ihr. Die Frau blickt dabei ausdruckslos geradeaus.

Norbert:
Ein Automat, ganz eindeutig. Bei manchen merkt man es sofort, bei anderen kommt man erst allmählich dahinter. Bei der hier müßte es eigentlich jedes Kind merken.

Die Frau läßt das Fenster von dem Porsche wieder hoch. Karl tritt einen Schritt zurück und sie fährt weg. Die ganze Zeit über hat sie nicht den Kopf gewendet. Karl schlendert langsam, mit einem pfiffigen Gesichtsausdruck wieder zu seiner Bank zurück.

Judith:
Was ist, Karl? Hat sie gefragt, was sie zum Abendbrot machen soll?

Karl:
Nein. Ich bin getrennt von Tisch und Bett. Immerhin habe ich noch einen Wohnungsschlüssel. Aber wahrscheinlich läßt sie bald die Schlösser auswechseln.

Clemens:
Hast du keine eigene Bude mehr?

Karl:
Ich wohne zur Zeit bei Freunden, das macht mir nichts aus. Aber sie sitzt nun mal am Geldhahn.
Sie will sich scheiden lassen. Das war es eigentlich, was sie mir sagen wollte.

Norbert:
Sie ist nicht echt. Sie ist ein Automat.

Karl:
So schlimm ist sie gar nicht. Ich glaube, im Grunde ihres Herzens mag sie mich noch. Wir hatten einmal eine tolle Zeit miteinander. Sie hat selber gesagt, es war die schönste Zeit ihres Lebens.

Wir hatten eine richtige romantische Affäre. Eine Zeitlang dachten wir, wir wären das ideale Liebespaar. Sie sah aus wie Catherine Deneuve. Und mir sagte man eine Ähnlichkeit mit Sean Connery nach. Wo wir hinkamen, waren wir der Mittelpunkt. Am Strand, in der Nachtbar, auf Partys.

Alles war vorbei, als ich in den Knast mußte. Wegen Scheckbetrugs.
Ich weiß selber nicht, wie ich da reingeschlittert bin. Sowas passiert schneller, als man denkt, wenn man über seine Verhältnisse lebt.
Vor Gericht sagte meine Frau natürlich, sie hätte von allem nichts gewußt. Das war auch in Ordnung so. Sie sollte da nicht mit hineingezogen werden. Das war einzig und allein mein Bier.
Dann kehrte sie wieder in den Schoß ihrer Familie zurück. Die hatte mich von Anfang an abgelehnt.

Norbert:
Die Sache ist völlig klar. Als du im Knast warst, haben sie sie umgedreht. Eine Marionette aus ihr gemacht. Das ist nicht mehr sie selbst.

Karl:
So etwas Ähnliches habe ich ihr auch gesagt. Daraufhin erwiderte sie, sie empfände nur noch Mitleid für mich. Immerhin, Mitleid ist besser als gar kein Gefühl. Ich werde sie schon wieder rumkriegen, da bin ich mir ziemlich sicher.

Er überlegt einen Augenblick.

Sag mal, Norbert, hast du auch Schlaftabletten?

Norbert:
Klar, das ist meine Spezialität. Die laß ich jeden Abend verschwinden. Damit könnte ich eine ganze Kompanie einschläfern.

Karl:
Kannst du mir welche geben, so zehn bis zwanzig Stück?

Clemens:
Mensch, Karl, mach keinen Unsinn. Was willst du denn mit dem Zeug?

Karl:
Mach du dir nur keine Sorgen. Ich weiß schon was ich tue.

Norbert reicht Karl eine Handvoll Tabletten, die dieser sorgfältig begutachtet und dann in seiner Tasche verschwinden läßt.

Clemens:
Sag mal, Karl, hattest du nicht einen Termin?

Karl winkt ab:
Den kann ich verschieben. Man soll sich nicht aufdrängen, das macht keinen guten Eindruck. Wer seinen Wert kennt, der kann auch mal einen Termin platzen lassen.
Ist noch was zu trinken da?

Judith:
Es müßte noch mal jemand was holen. Kommst du mit, Clemens?





Zweiter Aufzug


Gleiches Bild wie vorher, zwei Tage später.

Clemens und Judith sitzen auf ihrer Bank. Norbert sitzt auf der Bank daneben.
Judith hat ihre Einkaufstasche neben sich, Clemens füttert die Spatzen. Norbert sitzt neben seinem Stoffbeutel.


Clemens:
Karl scheint heute wieder nicht zu kommen. Das ist schon der zweite Tag. Langsam mache ich mir seinetwegen Sorgen.

Norbert:
Vielleicht haben sie ihn umgedreht. Er sitzt wahrscheinlich jetzt in irgendeinem Büro und sieht aus wie ein Mensch, der Karl heißt. Aber in Wahrheit ist er nur noch ein Automat. Eine Puppe.

Judith:
Karl nicht. Das traue ich ihm nicht zu. Tagein, tagaus in das gleiche Büro gehen, vor dem Computer sitzen, sich das Geschwafel des Chefs anhören, den Tratsch der Kollegen – das ist nicht Karls Art.
Da glaube ich schon eher, daß er sich mit seiner Frau wieder versöhnt hat. Vielleicht liegt er jetzt noch im Bett und wartet darauf, daß sie ihm das Frühstück bringt. Mit frischen Brötchen, weichen Eiern und dampfendem Kaffee.

Clemens:
Das glaube ich nun wieder nicht. Ich habe die Frau gesehen. Die ist kalt wie der Eisberg, der die Titanic gerammt hat, und genauso hart und unerbittlich.

Norbert:
Sei bitte korrekt, Clemens. Nicht der Eisberg hat die Titanic gerammt, sondern die Titanic den Eisberg. Der schwamm friedlich in seiner natürlichen Umgebung, bis plötzlich dieser Technikkoloß auf ihn zuraste und ihn verletzte. Hat jemals irgendjemand danach gefragt, was aus dem Eisberg wurde, nach so einem Trauma? Was hatte die verdammte Titanic mit den vielen Millionären an Bord dort überhaupt zu suchen? Bei diesen schönen, stillen Eisbergen ...

Judith:
Du hast wirklich keine Ahnung von Frauen, Clemens. Je kälter eine nach außen ist, um so heißer ist sie in Wirklichkeit. Alles nur Fassade, alles nur Taktik.

Ein Streifenwagen hält. Ein Polizist steigt aus und geht auf sie zu.

Polizist:
Schönen guten Morgen, die Herrschaften.

Judith:
Spinne am Morgen...

Polizist:
Wir haben einen Hinweis aus der Bevölkerung erhalten. Sie sollen mit einem Burkert, Karl, Alter 45 Jahre, beschäftigungslos, vorbestraft, ohne festen Wohnsitz, regelmäßig hier Kontakt gehabt haben. Können Sie diese Angaben bestätigen und das diesbezügliche Hinweisaufkommen erhöhen?

Norbert:
Mich laust der Affe. Die werden immer schlampiger. Die fühlen sich schon so sicher, daß sie auf jede Tarnung verzichten. Jetzt bringen sie ihren Automaten nicht mal mehr bei, wie Menschen zu sprechen.

Polizist:
Bürger, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie sich im Falle einer Beamtenbeleidigung einer Ordnungswidrigkeit im Sinne eines polizeiwidrigen Verhaltens schuldig machen und ich diesen Tatbestand mit einer gebührenpflichtigen Verwarnung ahnden kann.

Norbert:
Mit so schlampig programmierten Automaten rede ich nicht. Das beleidigt meine menschliche Würde. Unsereiner hat auch seinen Stolz.

Judith:
Hören Sie, Herr Wachtmeister, bei dem können Sie sich ihren Sermon sparen. Der hat Kost und Logis in der Klapper. Bestrafen könnten Sie den höchstens, indem sie ihm den Nachtisch streichen.
Was ist denn mit Karl?

Polizist:
Sie geben also zu, mit dem oben genannten Burkert, Karl, Alter 45 Jahre, ...

Clemens:
Ja, ja, das geben wir ja zu. Das ist schließlich kein Verbrechen. Er hat immer hier mit uns gesessen. Nur gestern und heute ist er nicht gekommen.

Polizist:
Hat diese Person, Burkert, Karl, in letzter Zeit Suizidabsichten geäußert?

Judith:
Was soll er geäußert haben?

Polizist:
Die Absicht, eine Selbstmordhandlung vorzunehmen.

Clemens:
Meinen Sie, ob er sich umbringen wollte?

Polizist:
Ja, wenn Sie es so formulieren wollen.

Judith:
Karl, sich umbringen? Nie im Leben. Höchstens sich zu Tode saufen. Aber das tun wir ja alle, früher oder später.

Norbert:
Mich versuchen sie, mit Pillen umzubringen. Aber da können sie lange warten. Holzauge, sei wachsam.

Clemens:
Warum wollen Sie das denn wissen? Ist etwas mit Karl passiert?

Polizist:
Wir führen Ermittlungen durch, um festzustellen, ob der genannte Burkert, Karl, in der Nacht vom 12. zum 13. dieses Monats in der Wohnung seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau eine erfolgreiche Suizidhandlung mit letalem Ausgang vorgenommen hat, oder ob derselbe in derselben Nacht eine erfolglose Vortäuschung einer Suizidhandlung mit ebenfalls letalem Ausgang durchführte.

Judith:
Das soll er alles in einer Nacht gemacht haben?

Polizist:
Das Ergebnis dieser Ermittlung ist von entscheidender Bedeutung für die Klärung der Faktenlage und den weiteren juristischen Verlauf.
Im ersten Fall würde es sich um ein Suizidvergehen handeln, das unter anderem ausbleibende oder verringerte Zahlungen von Versicherungen zur Folge hätte.
Im zweiten Falle könnte man den Vorgang als einen, wenn auch selbstverschuldeten, Unfall ansehen. Eine etwaige Versicherungszahlung müßte dann in voller Höhe erfolgen.

Clemens:
Karl ist tot?

Polizist:
Wenn Sie es so formulieren wollen.

Judith:
Wie konnte das denn passieren?

Polizist:
Der Betreffende begab sich in oben genannter Nacht mit Hilfe eines in seinem Besitz befindlichen Wohnungsschlüssels in die Wohnung seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau, die nicht anwesend war, von der er jedoch auf Grund eines im Laufe des vorhergehenden Tages erfolgten Gespräches annehmen konnte, daß sie noch in derselben Nacht in ihre Wohnung zurückkehren würde.
Dort nahm er eine Überdosis Schlaftabletten sowie eine größere Menge Alkohol ein.
Die Ehefrau kehrte erst am späten Nachmittag des darauffolgenden Tages in ihre Wohnung zurück und konnte nur noch den Tod des von ihr getrennt lebenden beziehungsweise nicht mehr lebenden Ehemannes feststellen.

Judith:
Der arme Karl. Er wollte wahrscheinlich nur an ihr Mitleid appellieren und hat es übertrieben.

Clemens:
Wie immer. Er hat immer alles übertrieben.

Norbert:
Laßt euch doch nicht ins Bockshorn jagen, Leute. Merkt ihr denn nicht, was hier gespielt wird? Das waren die. Die haben die Frau vorgeschickt. Das war ihr Köder. Und dann ist er in die Falle getappt. Das war kein Unfall, das war Mord.

Polizist:
Wovon reden Sie überhaupt? Wieso Mord? Und wer sind die?

Norbert:
Na wer schon. Die Mafia natürlich.

Polizist:
Was für eine Mafia? Hatte der verstorbene Burkert, Karl, Kontakte zu ausländischen Staatsbürgern?

Norbert:
Ich meine die Mafia der Arschgesichter, du schlampig programmierter Automat.

Polizist:
Das geht zu weit. Ich mache Sie darauf aufmerksam ...

Judith:
Herr Wachtmeister ...

Polizist:
Na gut. Haben Sie mir noch irgendetwas zu dem Sachverhalt mitzuteilen? Nein? Wenn ihnen doch noch etwas einfallen sollte, wenden Sie sich bitte an eine Polizeidienststelle Ihres Vertrauens.
Beachten Sie auch unsere Anti-Drogenkampagne „Ich bin mir selbst Droge genug.“
Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt.
Guten Tag.

Der Polizist entfernt sich. Er steigt in den Streifenwagen, der Streifenwagen fährt weg.

Die drei sitzen eine Weile regungslos.

Judith:
Hast du noch Geld, Clemens?

Clemens greift in die Tasche und holt sein Portemonnaie hervor.

Ich hole uns einen Sechserpack Pilsener. Vielleicht reicht’s auch noch zu ner Flasche Klaren.




3. Aufzug

Stunden später. Szene wie vorher, ohne Norbert. Clemens uns Judith haben jeder eine Bierbüchse in der Hand. Der Papierkorb neben ihrer Bank ist mit leeren Bierbüchsen gefüllt.


Judith:
Karl wird uns fehlen. Ohne ihn wird es nie wieder so sein, wie es war.

Clemens:
Er war irgendwie die Seele vom Ganzen.
Vielleicht sollten wir jetzt mal darüber nachdenken, ob es sich lohnt, so weiterzumachen.

Judith:
Ja, wir müßten neu anfangen. Noch mal ganz von vorne.

Clemens:
Wir müssen einen neuen Mittelpunkt in unserem Leben finden. So wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen.
Der Papierkorb ist auch schon ganz voll.

Judith:
So schlampig wie die Stadtverwaltung hier ist, kann es Wochen dauern, bis den mal jemand ausleert.

Clemens:
Wir müssen uns innerlich einen Ruck geben. Wir müssen uns sagen, das ist eine Chance, dein Leben zu verändern. Nutze sie.

Judith:
Woran denkst du, Clemens?

Clemens:
Wir sollten uns vielleicht eine andere Bank suchen.

Sie blicken zur Nachbarbank.

Judith:
Wie wär’s denn mit der?

Clemens:
Die ist nicht schlecht.
Am besten, wir tun es sofort, ehe wir wieder in Lethargie verfallen.

Judith:
Also los.

Sie ergreift ihre Tasche. Beide gehen, mit den Bierbüchsen in der Hand, zur Nachbarbank und setzen sich dort wieder.

Clemens:
Ich glaube hier ist es besser.

Judith:
Ja, schattiger.

Clemens:
Und viel ruhiger.

Judith:
Bessere Luft.

Clemens:
Man kommt mal auf andere Gedanken.

Judith:
Man sieht die Welt aus einem anderen Blickwinkel.

Clemens:
Kein Wunder, daß es Norbert hier so gut gefällt.

Sie schweigen und sehen nachdenklich vor sich hin.

Judith:
Du, Clemens.

Clemens:
Ja?

Judith:
Es geht nicht.

Clemens:
Nein?

Judith:
Nein.

Clemens:
Warum nicht?

Judith:
Es ist Norberts Bank.

Clemens:
Norbert wird schon nichts dagegen haben, daß wir mit auf seiner Bank sitzen.

Judith:
Ich glaube doch.
Es könnte ihn völlig aus dem Gleichgewicht werfen. Vielleicht würde er dann gar nicht mehr aus seiner Klapper herauskommen. Wir würden ihm seinen einzigen festen Punkt hier draußen wegnehmen.

Ich hab mal einen Film gesehen, mit Dustin Hoffman. Der spielte auch einen, der in der Klapper lebte. Der drehte schon durch, wenn er nicht die richtigen Unterhosen anhatte, oder wenn er nicht das richtige Kompott kriegte oder zur gewohnten Zeit die gleiche Fernsehquizshow sehen konnte.

Ich glaube, so ähnlich ist es auch mit Norbert.
Wenn der uns hier auf seiner Bank sitzen sieht, geht er schnurstracks wieder in seine Klapper zurück und kommt nie wieder raus.

Clemens:
Vielleicht hast du recht, Judith. Also gehen wir wieder zurück.

Judith:
Ja. Ehe wir in Lethargie versinken.

Sie stehen auf, gehen wieder zu ihrer alten Bank zurück und setzen sich.

Clemens:
Eigentlich ist es hier sogar besser.

Judith:
Ja. Man hat mehr Sonne.

Clemens:
Und die Vögel zwitschern.

Judith:
Diese würzige Luft.

Clemens:
Gut, um mal abzuschalten. Einmal alles hinter sich zu lassen.

Judith:
Die Aussicht ist viel schöner.

Clemens:
Ja.

Sie schweigen eine Weile. Man hört Vogelgezwitscher.

Judith:
Du, Clemens, wir müssen herausfinden, wann die Beerdigung ist.

Clemens:
Meinst du, wir sollten hingehen?

Judith:
Unbedingt. Das sind wir Karl schuldig.

Clemens:
Die werden nicht gerade erfreut sein, wenn wir da aufkreuzen. Die Familie, meine ich. Und seine Witwe.

Judith:
Das kann uns egal sein. Außerdem können wir uns ja vorher Mut antrinken.

Clemens:
Es wird sicher eine Anzeige in der Zeitung stehen. Wir können ja immer mal am Zeitungsstand in der Kaufhalle nachsehen.

Judith kichert:
Natürlich nehmen wir auch Norbert mit. Wir waren schließlich alle seine Freunde.

Clemens:
Ja. Das ist das mindeste, was wir noch für ihn tun können.

Sie trinken schweigend.

Judith:
Warst du eigentlich einmal verheiratet, Clemens?

Clemens:
Ja.

Judith:
Hat deine Frau dich verlassen?

Clemens:
Nein. Sie ist tot.

Judith:
O Gott. Wie ist denn das passiert?

Clemens:
Es war ein Verkehrsunfall.
Vor uns ist plötzlich so ein großer Laster ausgeschert, auf unsere Spur hinüber. Ich hatte es zu spät gemerkt, weil ich gerade eine CD einlegen wollte. Das ganze war Sekundensache. Meine Frau hat geschrien, es hat geknallt, dann hat es uns gegen die Leitplanke geschleudert. Ein anderes Auto ist in uns reingefahren. Es gab ein furchtbares Chaos. Sie mußten uns rausschweißen. Meine Frau hatte erst geschrien, dann war sie still.
Diese Stille war das Schlimmste von allem.
Die Menschen sollten nicht den Lärm fürchten, sondern die Stille.

Beide trinken schweigend.

Und was ist mit dir? Du hattest wohl auch viel Pech?

Judith:
Das kannst du laut sagen. Ich habe verschiedene Männer gehabt, aber es endete immer auf die selbe Weise. Sie waren plötzlich verschwunden und mit ihnen alles Geld, was ich zusammengespart hatte.
Jetzt lebe ich alleine. Einsam. Nach großen Enttäuschungen.

Sie schluchzt.

Clemens:
Na, laß nur. Du wirst schon noch den Richtigen finden.

Judith:
Du, Clemens.

Clemens:
Ja?

Judith:
Willst du heute nicht mit zu mir kommen?
Wir könnten uns zusammen was im Fernsehen angucken.

Clemens:
Ich weiß nicht ...

Judith:
Ich habe auch noch eine Flasche Whisky da. Für besondere Gelegenheiten. Und was zu knabbern.

Clemens:
Na ja, warum nicht. Ich habe heute sowieso nichts Besonderes vor.

Judith:
Am besten, wir gehen gleich. Ehe wir in Lethargie versinken.

Sie gehen ab, sich gegenseitig stützend.




2. Akt

1. Aufzug


Friedhof. Feierhalle. Eine Urne auf einem Podest. Davor Blumen. Trauergäste. Angestellte des Beerdigungsinstitutes.
Clemens, Judith und Norbert kommen mit nicht gerade taufrischen Blumensträußen in den Händen. Judith wie immer mit ihrer Einkaufstasche. Sie sehen sich unsicher um, dann gehen sie zögernd zu der Säule mit der Urne und legen ihre Blumen nieder. Bewegung unter den Trauergästen. Jemand redet auf einen Angestellten des Beerdigungsinstitutes, den späteren Trauerredner, ein. Der zuckt mit den Schultern.

Trauerredner:
Es tut mir leid, aber so lange sie sich anständig benehmen, können wir sie nicht hindern ...

Alle nehmen Platz. Clemens, Judith und Norbert sitzen deutlich von den anderen isoliert. Der Trauerredner stolziert auf und ab. Schließlich stellt er sich vorne vor der Urne auf. Getragene Musik erklingt (Adagio von Albioni). Musik wird ausgeblendet.

Trauerredner blickt ab und zu auf sein Manuskript :
Verehrte Trauergäste. Liebe Hinterbliebene, Angehörige und Freunde des teuren Verstorbenen.
Wir haben uns heute hier versammelt, um von einem Menschen Abschied zu nehmen, dessen viel zu früher Tod eine schmerzliche Lücke hinterläßt.
Der Verstorbene wuchs auf in der liebevollen Obhut seiner Familie. Schon bald zeigte der Knabe Karl vielfältige Begabungen. Er liebte Bücher, trieb Sport, spielte in einer Kapelle, trat als Schauspieler in Schülerinszenierungen auf, sang in einem Knabenchor.
Doch beendete er die Schule nicht, denn sein rastloses Streben trieb ihn in die Welt hinaus. Er schloß sich einem Zirkus an und bereiste ferne Länder. Dort begegnete er der Liebe in Gestalt einer Parterreakrobatin, Elvira war ihr Name. Doch diese Verbindung währte nicht lange, denn die Unrast trieb ihn weiter.
Ein Freund erweckte seinen unternehmerischen Ehrgeiz, und er eröffnete ein Geschäft in der Branche des Gebrauchtwagenhandels.
Hier lernte er seine zweite Frau kennen, Gudrun, die bereit war, die Höhen und Tiefen des Lebens als Geschäftsmann mit ihm zu teilen.
Doch diesem Glück war keine Dauer beschieden. Unternehmerischer Mißerfolg, verursacht durch schlechte Ratschläge falscher Freunde, sowie Zerwürfnisse mit seiner Frau ließen ihn seine Schritte wieder ins Ausland lenken ...

Ein Mann tritt zu dem Trauerredner, der gleiche, der ihn schon zuvor angesprochen hatte, und flüstert ihm einige Worte ins Ohr. Der Trauerredner nickt und blättert nervös in seinem Konzept.

Nach vielerlei Auf und Ab der Wechselfälle des Lebens ... tapfer ertragenen Widrigkeiten, die ihn nicht zu beugen vermochten ... traf er schließlich diese Frau, Carola, die hier unter uns ist und um ihn trauert, in deren Armen er den Frieden fand, den er so lange gesucht hatte. Doch auch diesem Glück war leider keine Dauer beschieden. Ein tragischer Unglücksfall riß ihn viel zu früh aus unserer Mitte.

Wir wollen nun Abschied nehmen.

Der Trauerredner tritt beiseite. Wieder ertönt Musik. Ein sehr dünner, langer Mann in schwarzem Anzug ergreift die Urne und stolziert mit ihr langsam, steif und unnatürlich, mit durchgedrückten Knien, hinaus, wobei er die Urne mit ausgestreckten Armen vor sich hält.
Der Trauerredner und die Trauergäste folgen ihm, unter ihnen Clemens, Judith und Norbert.

Am Grab angekommen, läßt der dünne Mann die Urne in ein Erdloch hinab. Daneben steht auf einem Gestell eine Schale mit Erde und einer kleinen Schaufel.
Die Trauergäste treten einer nach dem anderen heran, werfen eine Schaufel mit Erde in das Grab und stellen sich hinter dem Grab im Halbkreis auf.

Judith tritt an das Grab. Sie holt eine Flasche Sangria aus ihrer Einkaufstasche, schraubt sie auf und schüttet etwas in das Grab.

Judith:
Nimm noch einen letzten Schluck, Karl.

Die Trauergäste sind wie versteinert.

Weiblicher Trauergast schreit :
Warum tut denn keiner was?

Zwei Männer zerren Judith vom Grab weg.
Norbert ist zunehmend erregter geworden.

Norbert schreit :
Sie haben ihn umgebracht! Die Arschgesichter haben ihn umgebracht!

Tumult.

Trauergäste:
Eine Unverschämtheit.

Wer hat denn seine Saufkumpane hergebeten?

Das habe ich kommen sehen. So etwas mußte ja passieren.

Das haben wir nun von unserer Großzügigkeit. Wir sind blamiert bis auf die Knochen.


Clemens nutzt das Durcheinander und zieht sich in einen Seitenweg zurück.
Dort steht ein junges Mädchen mit dem Rücken zu ihm. Sie hat das Gesicht mit den Händen bedeckt und ihre Schultern zucken.

Clemens verlegen :
Entschuldigen Sie bitte ... Es tut mir leid. Wir wollten Ihre Gefühle nicht verletzen.

Das Mädchen dreht sich um und nimmt die Hände vom Gesicht. Sie weint nicht sondern lacht.

Aber das ist ja ... Als ich Sie sah, dachte ich im ersten Augenblick, Sie weinen.

Carla:
Warum denn? Das Ganze war doch urkomisch. Und es paßt zu Karl. Als hätte er ihnen noch nach seinem Tod noch eins ausgewischt.

Clemens:
Sind Sie eine Verwandte von Karl?

Carla:
Ja, ich bin seine Nichte. Ich heiße Carla. Sie können ruhig du zu mir sagen.

Clemens:
Ich bin Clemens. Du kannst auch du zu mir sagen.

Carla:
Onkel Karl war mir von der ganzen Familie mit Abstand der liebste. Die anderen können Sie alle vergessen. Sie haben sie ja eben erlebt.
Mit ihm konnte man Sachen erleben.
Ein Klassiker war es, ihn abends loszuschicken um ein Brot zu holen oder irgend etwas anderes, was man noch brauchte. In der Regel kam er erst nach Stunden wieder, schwankend und in Begleitung irgend eines Säufers. Ein verkanntes Genie, das er in der Kneipe getroffen hatte. Das gab immer ein Chaos, bis sie den Saufkumpel wieder losgeworden waren.
Aber es war nie langweilig mit ihm. Er sorgte immer für Wirbel, hatte verrückte Ideen und erzählte irgendwelche kuriosen Geschichten.

Clemens:
Er sagte immer, alle Geschichten wären eigentlich schon erzählt worden und sie stünden in der Bibel, bei den alten Griechen oder in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.
Zuletzt hatte er eine von einem griechischen Jüngling erzählt, dem eine Göttin die Gabe ewigen Lebens gewährt hatte. Aber er hatte sie nicht zugleich um ewige Jugend gebeten und wurde zu einem zusammengeschrumpften Häufchen Elend, das von allen nur denkbaren Gebrechen geplagt wurde.

Carla:
Das ist echt komisch. Typisch Onkel Karl. Und die Geschichte von Orpheus und Euridike, hat er die auch erzählt?

Clemens:
Das ist die von dem Sänger, dessen Frau gestorben war?

Carla:
Ja, sie wurde von einer Schlange gebissen. Er konnte sich mit ihrem Tod nicht abfinden und stieg hinab in die Unterwelt. Dort rührte er das Herrscherpaar mit seinem Gesang so sehr, daß sie ihm Euridike zurückgaben. Aber er durfte sich nicht nach ihr umdrehen, auf dem Weg nach oben.

Clemens:
Ja, aber er drehte sich doch um. Weil er die Stille hinter sich nicht ertragen konnte. Und so hatte er sie für immer verloren. Eine traurige Geschichte.

Carla:
Es ging aber noch weiter. Danach war Orpheus fertig mit der Welt und den Menschen und zog sich in sein Schneckenhaus zurück. Deswegen wurde er von hysterischen Weibern erschlagen und fand schließlich seine Euridike in den Gefilden der Seligen wieder. Also vielleicht doch noch sowas wie ein Happyend?

Clemens:
Na ja, ich weiß nicht ...
Du, ich glaube, die Trauergesellschaft hat sich verzogen. Mußt du nicht mitgehen?

Carla:
Eigentlich würde ich den Tag lieber anders verbringen.

Clemens:
Das kann ich verstehen.

Carla:
Ich lade dich zu einer Wodka-Cola ein. Und dann gehen wir in den Lunapark. Ich möchte unbedingt noch einmal mit dem großen Riesenrad fahren. Von dem man über die ganze Stadt sieht. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht.

Clemens:
Ich auch nicht.

Sie gehen ab.





2. Aufzug


Gleiches Bild wie im 1. Akt. Clemens und Judith sitzen auf ihrer Bank. Clemens füttert die Spatzen. Judith hat ihre Tasche neben sich. Ab und zu nehmen sie einen Schluck Sangria.

Judith:
Daß sie mich aus der Kneipe rausschmeißen, ist mir ja nichts Neues. Aber aus dem Friedhof, das ist mir zum ersten Mal passiert.

Clemens:
Wenn es wenigstens von Dauer wäre. Aber irgendwann kommst du ja doch wieder. Und wenn es als Leiche ist. Dann müssen sie dich reinlassen.

Judith:
Ja, als Leiche behandeln sie dich respektvoll. Da bist du auf einmal der teure Verstorbene. Egal was du für Mist gebaut hast in deinem Leben.

Clemens:
Karl hat es jetzt hinter sich. Der baut keinen Mist mehr.
Ob Norbert heute kommt?

Judith:
Das war sein Stichwort. Da kommt er.

Norbert erscheint und setzt sich auf seine Bank. Seinen Stoffbeutel legt er wieder sorgfältig neben sich.

Judith:
Na Norbert, wieder Ausgang gekriegt?

Norbert:
Ja, aber sie haben gesagt, wenn noch mal Beschwerden kommen, ist Schluß damit.

Clemens:
Die nächste Beerdigung wird ja noch eine Weile auf sich warten lassen.

Norbert:
Da wäre ich mir nicht so sicher. Karl war der erste. Wer wird der nächste sein? Du, Clemens? Oder Judith?

Judith:
Hör auf, Norbert. Mir wird ganz unheimlich zumute.

Norbert:
Es sieht immer ganz normal aus. Ein unglücklicher Zufall. Eine plötzliche Krankheit. Keinem fällt etwas auf. Nur manchmal ist es offensichtlicher Mord. Wenn andere Mittel versagen. Bei Kennedy zum Beispiel. Oder bei John Lennon.

Ein schwarzer Porsche fährt vor.

Da kommt schon der Todesengel.

Judith:
Nun halt aber den Mund, Norbert. Du kannst einem ja richtig Angst machen.

Carola, Karls Witwe, steigt aus. Großer Hut, teures Kostüm, Sonnenbrille. Sie geht unsicher auf die drei zu.

Carola:
Guten Morgen. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin Carola, ich war Karls Frau.
Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen?

Ich möchte mich bei ihnen entschuldigen.
Meine Familie hat da wohl gestern auf dem Friedhof etwas überreagiert.

Judith:
Wir nehmen das nicht so tragisch. Wir sind Kummer gewöhnt.

Clemens:
Möchten Sie sich nicht setzen?

Norbert:
Aber nicht auf meine Bank.

Carola verlegen :
Ich weiß nicht.

Sie sieht sich unbehaglich um.

Judith:
Machen Sie sich nur keine Sorgen. Hier sieht sie keiner.

Carola:
Aber nur für einen kurzen Moment.

Sie setzt sich zu Clemens und Judith.

Clemens:
Es wird schon keiner vorbeikommen, der sie kennt.

Carola:
Also, ich möchte mich entschuldigen. Es war nicht richtig, wie man sich Ihnen gegenüber verhalten hat. Sie haben es ja nicht böse gemeint. Sie wollten eben auf Ihre Art von Karl Abschied nehmen. Ich verstehe das.
Sie haben Karl gern gehabt. Alle haben Karl gern gehabt, außer meiner Familie. Die haben ihn gehaßt. Und mich auch irgendwie, solange ich noch mit ihm zusammen war.

Clemens:
Karl hatte zuletzt noch gesagt, daß Sie ihn im Grunde ihres Herzens mögen, auch wenn Sie sich scheiden lassen wollten.

Norbert:
Als er im Knast war, haben sie sie umgedreht.

Carola:
Es stimmt, ich hatte Karl noch immer gerne, aber ich konnte nicht mehr mit ihm zusammenleben.
Er hatte mich zu oft enttäuscht. Irgendwann ging es nicht mehr. Er brachte mich immer in die größten Schwierigkeiten und dann verschwand er.
Einmal hatte er mich in einem Hotel in Südfrankreich sitzen lassen, mit Schulden und unbezahlten Rechnungen. Der Manager holte die Polizei. Ich mußte mich vor meiner Familie demütigen, damit sie Geld schickten.
Karl war auf und davon, mit unserem letzten bißchen Geld und irgendwelchen interessanten Menschen, die er gerade kennengelernt hatte.
Später kam er dann wieder, mit einem großen Blumenstrauß und einer Flasche Champagner.

Judith:
Und haben Sie ihm verziehen?

Carola:
Damals ja. Man konnte ihm einfach nicht lange böse sein, wenn er einen so anguckte.

Judith:
Ja, ich kenne das. Von der Sorte gibt es viele.

Carola:
Für meine Familie war das natürlich ein gefundenes Fressen, und sie fingen an, Bedingungen zu stellen. Schließlich verlangten sie die Scheidung. Ich mußte einwilligen, ich hatte Schulden. Und ich wollte auch nicht mehr.

Sie holt ein Taschentuch hervor und wischt sich die Augen.

Aber jetzt bin ich wieder unabhängig von meiner Familie und das verdanke ich Ihnen. Dafür möchte ich Ihnen danken.

Judith:
Wieso verdanken Sie das uns?

Carola:
Auf Grund Ihrer Aussagen kam die Polizei zu dem Ergebnis, daß Karls Tod ein Unfall war.
Karl hatte eine ziemlich hohe Lebensversicherung zu meinen Gunsten abgeschlossen. Wir wollten sie schon mehrmals kündigen, aber im letzten Moment war Karl immer davor zurückgeschreckt.
Nun mußte die Versicherung die volle Summe zahlen. Dadurch konnte ich die Schulden bei meiner Familie begleichen und bin jetzt wieder frei in meinen Entscheidungen.
Ich möchte mich gerne erkenntlich zeigen. Kann ich irgendetwas für Sie tun? Kann ich Ihnen mit Geld helfen?

Clemens:
Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber wir haben eigentlich alles, was wir brauchen.

Norbert:
Ich lasse mich nicht kaufen.

Judith:
Du sei still, Norbert. Du brauchst dir freilich keine Sorgen zu machen. Du bist ja versorgt.

Carola:
Ich könnte Ihnen etwas Startkapital vorschießen, für eine neue Existenz.

Clemens:
Wissen Sie, wir sind mit unserer Existenz eigentlich ganz zufrieden. Ich will hier nicht weg.
Ich sitze einfach da und füttere die Spatzen und warte, daß jemand kommt und daß die Zeit vergeht.
Irgend jemand kommt immer.

Judith:
Und ich leiste Clemens Gesellschaft. Dann ist da ja auch noch Norbert. Soll der alleine hier sitzen, wenn er Ausgang hat?

Carola:
Dann lassen Sie mich wenigstens etwas beisteuern ... für Ihre Getränkekasse.

Sie holt einen großen Geldschein aus ihrer Tasche und läßt ihn in Judiths Einkaufstasche gleiten.

Judith:
Aber nur, wenn Sie einen mittrinken. Das ist eine Frage der Ehre.

Carola:
Einverstanden.

Sie nimmt einen Schluck Sangria.

Da können wir uns ja auch duzen. Ich bin Carola, das wißt ihr ja schon.

Judith:
Ich bin Judith, das ist Clemens und der da drüben ist Norbert. Der ist eigentlich in der Klapper, ist aber harmlos und kriegt Ausgang. Jetzt muß er sich zusammenreißen, wegen der Entgleisung gestern auf dem Friedhof.

Norbert:
Hallo, Carola. Sei nicht böse, daß ich dich für einen Automaten gehalten habe.

Carola:
Ach, das ist alles schon vergeben und vergessen. Wenn man sich erst mal näher kennenlernt, sieht man den anderen mit ganz anderen Augen. Viel menschlicher.

Norbert:
Du schaffst es schon noch und zeigst ihnen den dicken Daumen. So wie ich.

Carola:
Schön habt ihr es hier. Eine schöne Aussicht.

Clemens:
Ja. Und so ruhig.

Judith:
Die würzige Luft.

Carola:
Man sieht die Dinge gleich aus einem anderen Blickwinkel.

Nimmt noch einen Schluck.

Wie spät ist es eigentlich?

Clemens:
Kurz vor elf. Haben Sie ... hast du einen Termin?

Carola:
Den kann ich auch verschieben.
Man soll sich nicht aufdrängen, das macht keinen guten Eindruck. Wer seinen Wert kennt, der kann auch mal einen Termin platzen lassen.
Ist noch was zu trinken da?

Judith:
Es müßte bald mal wieder jemand was holen. Ehe wir in Lethargie versinken.

Sie sitzen und trinken. Die Vögel zwitschern.
 

GabiSils

Mitglied
Hey, bravo! Das gefällt mir richtig gut, ich kann es mir auch als Aufführung ohne weiteres vorstellen.

Gruß
Gabi
 
E

ElsaLaska

Gast
Lieber Stefan,

ich gebe zu, ich finde Dramen etwas mühselig zu lesen, aber dieses hier war wirklich sehr kurzweilig, gut gemacht, voller guter Ideen, die Du mal schnell so anreisst in den
Dialogen und vor allem mit einer überraschenden Wendung.
Kompliment auch für den Titel, der dürfte die Anklickzahlen gleich in die Höhe schnellen lassen:)
Äh, ICH weiss natürlich, was ein bum ist, keine Bange. Aber die anderen wissen das nicht:D

Besonders amüsant fand ich diese Stelle:
"Beachten Sie auch unsere Anti-Drogenkampagne „Ich bin mir selbst Droge genug.“ Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt."

Aber natürlich waren auch die Szene am Grab und das Gespräch mit Carola ganz am Schluss wirklich gut gemachte Highlights.

Sollten wir nicht vielleicht ein extra Forum für solche Arbeiten haben?*grübel*

LG
Elsa
 
M

Matthias Schulz

Gast
Hallo Stefan,

vielen Dank, dass das Drama so schnell kam, freut mich wirklich riesig, und dann noch gleich so ein Gutes!

Die interesanteste Szene, finde ich, ist die, in der Clemens und Judith die Bank wechseln wollen, um nicht in Lethargie zu verfallen. Sie glauben Norbert zwar gerne, dass sie selbst frei sind und die anderen Menschen Automaten, aber eigentlich sind sie genau so automatisch wie die "Bourgeoisie" - Sie schaffen es nicht einmal, sich auf eine andere Bank zu setzen, und wollen es nicht einmal zugeben (Das Argument, dass Norbert deswegen durchdrehen könnte, nehme ich den beiden nicht ab). Eigentlich führen nur die Vertreter der "Bourgeoisie", Carla und Carola, ein "lebendiges" Leben, ein Leben, das nicht nur aus Routine besteht - Sie sind vorurteilsfrei, und können ihre Lebensart auch ändern, die anderen nicht mehr.

Wirklich sehr gutes Drama, finde ich!

Viele Grüße,
Matthias
 
A

annabelle g.

Gast
lieber stefan, nicht zu glauben, dass das bei dir in der schublade lag. hoffe, es wird bei einer aufführung ans tageslicht treten. hier ein paar anregungen ...

- würde die bühnen- und schauspieleranweisungen/beschreibungen in klammern setzen, das ist übersichtlicher zu lesen
- karl, carola, carla sind die namen so ähnlich?
- norbert dagegen für die lusche mit dem stoffbeutel sehr gut
- spatzen hüpfen, finde ich
- würde nur schreiben „norbert nähert sich“; auf seine merkwürdige gestalt sind wir schon zu anfang hingewiesen worden
- „Die Frau läßt das Fenster herunter und Karl spricht mit ihr. Die Frau blickt dabei ausdruckslos geradeaus.“ „Die Frau“ wiederholt sich, besser zu einem satz zusammenziehen!
- „ß“ und „ss“ schreibung noch falsch: alles was kurz ist wie „Fass“ und „muss“ mit „ss“; alles was lang ist „Straße“ oder „heißen“ mit „ß“
- „Wir hatten einmal eine tolle Zeit miteinander. Sie hat selber gesagt, es war die schönste Zeit ihres Lebens“; wiederholung, zweite „zeit“ raus
- „Clemens und Judith sitzen auf ihrer Bank. Norbert sitzt auf der Bank daneben“; wiederholung nur „Norbert auf der daneben“


Ansonsten das, was die anderen schon gesagt haben, gutes stück, stimmige dialoge, schöne einzelheiten!

zum einstellen in die lupe vielleicht besser nur ein paar szenen - um eine tendenz der kritik zu kriegen - weil ein drama insgesamt zu lang für potentielle leselupenkritiker sein dürfte. ich habe bei „rudi + susa“ nur 12 der existierenden 30 existierenden szenen genommen!

schöne grüße, annabelle

.-)))
 
Liebe anabelle,

Was den Gebrauch von ß, ss und dergleichen betrifft, so halte ich es wie die FAZ, d.h. ich beteilige mich nicht an der Rechtschreibereform. Im übrigen bin ich der Meinung, daß ein Autor, auch ein Amateur, das Recht hat, so zu schreiben, wie er will. Wenn ihn dann keiner lesen will, hat er selbst den Schaden, wenn aber, ist es gut (siehe Arno Schmidt).

Die Wiederholungen stehen in den Regieanweisungen, die im original kursiv geschrieben sind. Dort sind sie für mein Empfinden nicht zu beanstanden, da gewissermaßen technischer Natur.

Die Verwandtschaft der Namen Karl, Carola und Caroline ist beabsichtigt.

Was die Länge betrifft, das ist sicher wahr, ich hatte das Stück auf die Anfrage von Matthias Schultz hin spontan aus der Schublade genommen.
Ansonsten vielen Dank für alle freundlichen Anmerkungen!

Mit besten Grüßen
 

Martin Weber

Mitglied
Sehr gut

Das Drama finde ich gut. Vielleicht fehlt zum Abschluss noch eine super überraschende Wendung, wie z.B. das Karl wieder lebend auftaucht. Aber ich will dir in dein Werk nicht hinein Pfuschen! Sehr gut, fast so episch wie Dürrenmatts "Die Physiker"!
 



 
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